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Wissen schaftliche
Forschungsberichte
Herausgegeben von Professor Dr. Karl Hönn
Geisteswissenschaftliche Reihe
1914—1920
Mittelalterliche Geschichte
Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Gotha 1922
Mittelalterliche GescMclite
bearbeitet
von
K. H a m p e
Professor an der Universität Heidelberg
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Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Gotha 1922
/
Copyright 1922 by Friedrich Andreas Perthes A.-G. Gotha
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechtes, vorbehalten
Vorwort
Von französischer Seite ist es wohl als ein Vorzug des Besiegten
hingestellt, sich nicht in enge Selbstgenügsamkeit einzuspinnen, wie es
der Sieger leicht tue. Die wirtschaftlichen Weltverhältnisse, die fast
einer wissenschaftlichen Blockade Deutschlands gleichkommen, machen
es uns unsäglich schwer, diesen Vorzug auszunützen. Gleichwohl wäre
nichts verhängnisvoller, als darauf, entmutigt oder in gewollter Ab-
schließung, zu verzichten. Die Schwierigkeiten müssen mit verdoppelter
Anstrengung, soweit irgend möglich, überwunden werden. In beschei-
denem Maße möchte dies Buch dazu mithelfen. Es spannt daher den
Rahmen nicht nur in sachlicher Hinsicht, sondern auch in internatio-
nalem Überblick so weit, wie das von Heidelberg aus, ohne irgend-
welche andere Unterstützung als die der stets hilfsbereiten Beamten
der hiesigen Universitätsbibliothek, irgend tunlich war. Der Mängel
und Lücken der vorliegenden Arbeit bin ich mir selbst auf das schmerz-
lichste bewußt. Für eine solche Berichterstattung ist ja das „nonnm
prematur in annum" gänzlich unanwendbar. Einmal mußte kurzerhand
mit der Sammlung des Stoffes abgebrochen werden, obwohl jede Nachlese
auf Ergänzungsmöglichkeiten hinwies. Vollständigkeit ist ja ohnehin nur
für das Wesentlichere aus den Jahren 1914 — 1919 erstrebt, auch für dies
nur, soweit es sich in größere Zusammenhänge einreiht. Eine Berücksich-
tigung auch des Regional- und Lokalgeschichtlichen, so unentbehrlich es
an sich ist, hätte jeden Überblick verwirrt; dafür muß auf die provin-
ziellen und örtlichen Zeitschriften verwiesen werden. Eben den Über-
blick trotz der Fülle der Erscheinungen nicht zu verlieren und diese
möglichst doch zu einem Ganzen zusammenzufügen, war mein Be-
streben. Eine weitergehende Gliederung des Stoffes hätte das erschwert
md Zusammengehöriges oft nur auseinandergerissen. Was sie für das
rasche Aufsuchen hätte leisten können, hoife ich durch das Sach-
verzeichnis ebensogut oder besser zu erreichen.
Je mehr Abstand die „F'orschungsberichte" von dem Kriege ge-
winnen, um so weniger können sie sich auf eine rasche Orientierung
für die Übergangswirtschaft beschränken, um so mehr müssen sie allen
Forschern einen möglichst gründlichen Überblick über den Wissensstand
zu bieten suchen, wie er gerade heute bei der Unregelmäßigkeit der
meisten Berichterstattungen für den Einzelnen nebenher nicht leicht zu
gewinnen ist. Das ist nicht eben eine dankbare Aufgabe, und wer
kritisieren will, findet da ausgiebig Gelegenheit. Ich möchte nur hoffen,
daß sie sich trotzdem als nützlich erweist und dadurch die mühselige
Arbeit belohnt. Ich hätte sie meinerseits gewiß nicht übernommen,
wenn nicht ein tiefes Gefühl der Verpflichtung gegenüber allen ge-
schichtlich interessierten Kriegsteilnehmern den Ausschlag gegeben
hätte. Ihnen und dem Andenken aller gefallenen deutschen und öster-
reichischen Historiker bringe ich das Buch dar.
Heidelberg, im Oktober 1921
K. Hampe
VI
Inhaltsübersicht
Seite
1. Kulturgeschichtliches 1
2. Allgemeinere Darstellungen und frühes Mittelalter. . . . ' 18
3. Längsschnitte durch die mittelalterliche Geschichte, vornehmlich des
deutschen Reiches 39
4. Deutsche Kaiserzeit . . . f 53
5. Das Jahrhundert päpstlicher Weltmacht 82
6. Strukturwandlungen, vornehmlich im deutschen Eeiche (Städtewesen,
Hanse, Kolonisation des Ostens, Territorialentwicklung) 100
7. Ausgehendes Mittelalter 111
8. Historische Hilfswissenschaften 135
Verfassernamen 143
Sachverzeichnis 149
vn
Abkürzungen
Abh d. Berl.Ak.
Abb. Freib. i. Br.
A. f. Kult.
Arch. stör. it.
Arch. stör. Rom.
Beitr. z. Kult.
Bibl. de l'Ec. d. eh.
D. G.Bl
D. L.Z.
D. Z. f. G.
üierkes Unters.
Gott. Anz.
Gott. Nachr.
Hist. Jahrb.
H. Viert.
Hist Z.
Korr. d. Gesamtver.
M.A.
M. I. ö. G.
N.A.
Neue Jahrb.
Schmollers Jahrb.
S.B.
Viert, f. Soz. u. Wirtsch.
Z. f R., g. A.
Z. f. R., k A.
Abhandlungen der Akademie der AVissenschafteu in Berlin.
Philos.-hist. Klasse.
Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, hrsg.
von V. Below, Finke, Meinecke. Berlin.
Archiv für Kulturgeschichte. Leipzig.
Archivio storico italiano.
Archivio della societä Romana di storia patria. Rom.
Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Re-
naissance, hrsg. von W. Goetz. Leipzig.
Bibliotheque de l'ecole des Chartas. Paris.
Deutsche Geschichtsblätter, hrsg. von A. Tille. Gotha.
Deutsche Literaturzeitung. Berlin.
Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Freib. i. Br.
Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte,
hrsg. von 0. Gierke. Breslau.
Göttiugische gelehrte Anzeigen.
Nachrichten der Gesellschaft der "Wissenschaften zu Göt-
tingen, philos.-hist. l' lasse.
Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft. München.
Histori-sche Viorteljahrsschrift. Leipzig.
Historische Zeitschrift. München.
Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine.
Mittelalter.
Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichts-
forschung. Innsbruck.
Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Ge-
schichtskuude. Hannover.
Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte
und deutsche Literatur und für Pädagogik. Leipzig.
Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirt-
.schaft im Deutschen Reich. Leipzig.
Sitzungsberichte, stets der philosophisch-historischen Klasse
der betreffenden Akademien.
Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.
Leipzig.
Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte. Ger-
mani.stische Abteilung. Weimar.
: dieselbe, kanonistische Abteilung. Weimar.
VIII
1. Kulturgeschichtliches
Die weit zurückreichenden Erörterungen über Wesen und Berech-
tigung der Kulturgeschichte haben in Deutschland auch während des
Krieges ihren Fortgang genommen, scheinen aber nach dem Tode des
hastigen und anstachelnden Wahrheitsuchers Karl Lamprecht (f 10. Mai
1915) in ein ruhigeres Fahrwasser zu geraten. Über die konstruktiven
Einseitigkeiten und die zweifelhafte Grundlage seiner späteren Auf-
fassungen sind heute die Historiker ebenso einer Meinung, wie sie die
Bedeutung seines Anlaufs auf die letzten Ziele und tiefsten Probleme
der Geschichtswissenschaft würdigen. Man kann nicht gerechter und
leidenschaftsloser darüber urteilen als 31. Ritter in seinem auch für
ma.liche Historiker wertvollen Buche Die Entivicldung der Geschichts-
wissenschaft, an den führenden Werken betrachtet, Münch.-Berlin 1919;
getan hat ^). Wohl ist v. Beloivs tiefgründige und eindrucksvolle Schrift
Die deutsche Geschichtschreihung von den Befreiungskriegen bis zu unseren
Tagen, Leipzig 1916, ein energisches Bekenntnis zur politischen Ge-
schichte, die mit Verfassungs-, Verwaltungs- und großenteils Wirtschafts-
geschichte doch stets das eigentliche Arbeitsgebiet des Historikers bleibe.
Doch soll damit natürlich der kulturhistorischen Betrachtung nicht von einem
Gelehrten, der selbst Wertvollstes in dieser Richtung gegeben hat, der Boden ent-
zogen werden. Yieiinehr Avirit da neben der Rücksicht auf die zentrale Stellung des
Staates in der geschichtlchen Eat wicklang vor allem die Furcht vor einem dilettanti-
schen Betriebe der Kultui'geschichte im Sinne der Werke von Hellwald , Henne am
Rhyn usw. Denn die streng wissenschaftliche kulturhistorische Forschung hat bisher
ihre Stätte wesentlich in den Fachwissenschaften gefunden; Menschheitsgeschichte zu
schreiben, geht über die Kraft des Einzelnen, und spezialistische Vorarbeiten siud für
kulturgeschichtliche Darstellung in noch viel höherem Maße als fiu" die politische eine
Vorbedingung, die freilich nicht allgemein gewürdigt und noch kaum irgendwie erfüllt ist.
Ich glaube, daß das alles von der überwiegenden Mehrheit der
deutschen Historiker durchaus anerkannt, aber gleichwohl eine alle
kulturell bedeutsamen, vorwärtstreibenden Betätigungen der Menschen
in ihren staatlichen und gesellschaftlichen Verbänden umfassende Ge-
schichtswissenschaft als ein Ideal betrachtet wird, dem man sich von
ferne schrittweise zu nähern hat, mag man das nun „allgemeine Geschichte"
oder ,, Kulturgeschichte " nennen, mag man aus praktischen Erwägungen
der Staatsgeschichte die Kulturgeschichte gegenüberstellen oder das Staats-
1) Vgl. auch die eindringliche Auseinandersetzung G. Seeligers H. Viert. 19.
1919, S. 133 ff.
Wissenschaftllclie Forschnngsberichte VII. 1
1
leben als wichtigsten Faktor in letztere einbegreifen. Daher wird man
es wohl auch allgemein billigen, daß W. Goets als Nachfolger Lamprechts
dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte an der Universität
Leipzig als Hauptziel gesteckt hat, die große Aufgabe durch geistes-
wissenschaftliche Spezialarbeiten von Stipendiaten und andern jüngeren
Forschern vorbereiten zu helfen (A. f Kult. 12, 1916), ein Ziel, dem
sich seitdem die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Weg gestellt haben.
Ganz gefehlt hat es ja an solchen Studien und Stoffsammlungen
auch bisher nicht; in der letzten Zeit haben sie sich stark vermehrt
und an Wert gehoben. Was mit ihrer Hilfe das Streben Einzelner
nach zusammenfassender Darstellung vermochte, zeigen zwei bekannte
deutsche Werke, die vor dem Kriege in verbesserter Neubearbeitung
erscheinen konnten. G. Gnipps Kulturgeschiclde des MA., in 4 Bänden,
Paderb. 1907 — 14 ^), bis ins 18. Jahrb. geführt (woran sich vorläufig, mit
ungleich stärkerer katholischer Apologetik, die Kompilationen E Michaels
und in einigem Zeitabstande die vorreformatorischen Schilderungen
J. Janssens schließen), beruht auf vielseitiger, umfassender Quellen-
sainmlung, deren Verwertung nicht immer streng methodisch ist, die
aber durch Anführung zahlreicher Belege auch andeien nutzbar wird.
Die Darstellung faßt das Abendland als Einheit, was für das Mittelalter am
ehesten möglich ist, immerhin auch da wohl stärkere Berücksichtigung der nationalen
Unterschiede erforderte. In loser Gruppierung nach logischen und psychologischen
Zusammenhängen soll der Stoff selbst ohne tiefere Durchdringung den Reichtum ver-
gangenen Lebens offenbaren.
Darüber hinaus sucht G. Steinhausen in seiner Geschichte der deut-
schen Kultur, 2. Aufl., Leipz.-Wien 1913 in 2 Bänden, zu einer mehr
genetischen und begründenden Auffassung der gesamten Kulturentwick-
lung eines einzelnen Volkes vorzudringen, indem er unter fast völligem Ab-
sehen von dem staatlichen Leben, aber auch unter Ablehnung des
Lamprechtschen Schemas der Kulturzeitalter aus wirtschaftlichen, sozialen,
psychologischen und anderen Kulturerscheinuugen selbst die Grenzen
für eine eigene Periodisierung gewinnt. Zur Einführung und Übersicht
wohlgeeignet, erschwert das Buch auch in der neuen, bedeutend ver-
besserten Auflage durch den Mangel jeglicher Nachweise die wissen-
schaftliche Benutzung -).
Wenden wir uns von diesen vorläufigen Gesamtdarstellungen zu
jenen Forschungsarbeiten, die in Zukunft die Kulturgeschichte allent-
halben auf einen festeren Boden stellen sollen, so begegnet uns gleich
an der Schwelle des MA. das grundlegende Werk von Ä. Dopsch, Wirt-
schaf tlicJie u. soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwichlung aus
1) Seitdem ist auch Bd. 5, 1. Hälfte, erschienen. In dem schönen Sammel-
bande F. V. Bc\olds, Aus MA. u. Renaissance, kuUurgesc/i. Studien, Münch.-Berlin
1918 sind ältere, allgemein geschätzte Aufsätze vereinigt, von denen sich aber nur
der geringere Teil auf das MA. bezieht.
2) Von den kürzeren Bearbeitungen Steinhausens fand seine Kulturgcsch. der
'Deutschen i. Mittelalter ( Wissensch. u. Bildung) 1916 eine zweite, seine Oenit. Kultur
i. d. Urzeit (Aus Natur u. Geistesw.) eine dritte Auflage.
der Zeit mn Cäsar bis auf Karl d. Gr., dessen erster Teil Wien 1918
erschienen ist ^).
Schon seit längerer Zeit machte sich das Bestreben geltend, die unter dem Ein-
flüsse führender Juristen zu einer gewissen Herrschaft gebrachte Lehre von den älteren
germanisch-fränkischen Zuständen einer Überprüfung zu unterziehen und die ihr zu-
grunde liegenden Hypothesen an der Hand eines teilweise vermehrten, vielfach neu
ausgelegten Quellenstoffes in Frage zu stellen. Dopsch vereint solche älteren An-
regungen mit eignen ebenso umfassenden, wie scharfsinnigen Quellenstudien zu einem
überaus wuchtigen Angriff. AVaitzsche Art kommt in dem engen Anschluß an die
Quellen und der Ablehnung von Konstruktionen zur Geltung, ohne daß jedoch ein
lebendiger Neuaufbau aus Tausenden kleiner Mosaiksteinchen fehlte. Trat das schon
in dem kurz vor dem Kriege erschienenen Buche Die Wirtschaftsentwicklung der
Karolingerxeit bedeutsam hervor, so unternimmt das neue Werk dafür nach rückwäits
noch breitere Grundlagen zu schaffen. Die in den letzten Jahrzehnten immer reicheren
Ergebnisse kulturhistorischer Hilfswissenschaften wie Prähistorie, Archäologie, Münz-
kunde, Papyrologie werden hier erstmals voll ausgenützt Daß die Germanen nicht
als primitive Barbaren wesentlich zerstörend in die römischen Grenzgebiete einge-
drungen sind, — selbst nicht in das Norikum Severins in dem Maße, wie man bisher
meinte — , sondern daß sie allenthalben die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Ein-
richtungen der Eömer oder Kelten, die sie vorfanden, anpassungsfähig übernahmen
und mit neuer Triebkraft erfüllten, ist der durchgehende Zug dieser Untersuchungen.
Das ist nun nicht so neu, wie es durch das Bekämpfen von Anschauungen, die
keineswegs als noch vorherrschend anzusehen sind, erscheinen könnte. Auch hat man
natürlich im Auge zu behalten, daß sich die Anpassung auf Gebiete bezieht, die von
der Geisteskultur, in der der Verfall oder doch die Beschleunigung der bereits vor-
handenen Zersetzung unverkennbar ist, nur wenig berührt waren. Im einzelnen ist
indes die Fülle kritischer Korrekturen erstaunlich, durch die unsere Anschauungen
doch einen gradmäßigen Wandel erfahren. Was der Germane dadurch an Kultur-
fähigkeit gewinnt, verliert freilich die Eigenart seiner Kultur, die hier namentlich im
Siedlungs- und Wirtschaftswesen noch weit mehr an das Spätrömische angeschlossen
wird, als man bisher annahm. Als Opfer bliebe nach Dopsch insonderheit auf der
Strecke die ja schon länger kränkelnde Hypothese von dem urgermanischen Agrar-
kommuuismus ^) und die Annahme einer über das Dorf hinausreichenden Markgenossen-
schaft mit Gemeineigentum an der aus Wildland bestehenden Mark. Beide Fragen,
die von D. hier ja nicht zum erstenmal angeschnitten werden, dürften, da manche
Punkte doch noch nicht völlig befriedigend aufgehellt sind , auch jetzt nicht allen
Anhängern der herrschenden Lehre gelöst erscheinen und darum weiter hart um-
stritten bleiben. Ein näheres Eingehen auf die schwierigen und verwickelten Pro-
bleme verbietet hier der Raum ^). Eine gründliche Auseinandersetzung mit seinem
1) Der zweite Teil, der die sozialisierende Tätigkeit der Kirche in den Mittel-
punkt stellt und wie der erste durch Widerspruch gegen herrschende Anschauungen
viel Staub aufwirbeln wird, erschien 1920 ; es kann hier daher nur kurz darauf hin-
gewiesen werden.
2) Die bekannten Angaben von Cäsar und Tacitus werden anders ausgelegt und
in zweite Linie gerückt, den Flurkartenfolgerungen die Beweiskraft für die älteste
Vergangenheit abgesprochen, den soziologischen Theorien um die Mitte des 19. Jahrh.
der Hauptanteil an der Entstehung der Hypothese zugewiesen, andrerseits Zersplitte-
rung in Gewannen mit Gemengelage und Flurzwang schon für den römischen grund-
herrlichen Wirtschaftsbetrieb in Anspruch genommen usw.
3) Betreffs der Markgenossenschaft vergleiche man den Überblick über die bis-
herige Forschung bei H. Wopfner, Beiträge x. Gesch. der alt. Markg., M. I. ö. G. 33
u. 34 (1912/13), der ebenso wie die inhaltreiche Abhandlung des im Kriege gefallenen
H. Slübler, Zum Streit um d. alt. deutsche Markg., N.A. 39 (1914) die gegen Dopsch
(der sich M. L ö. G. 34 verteidigt) sprechenden Momente zusammenstellt. Sachlich
ist der Unterschied der Meinungen nicht ganz so groß, wie er in Verneinung und
Bejahung hervortritt. Hier eine Dorfgenossenschaft mit Nutzungsrechten an der als
1*
3
Werke ') ist jedeufalls für alle, die sich mit diesen Anfängen germanischer Geschichte
befassen, unerläßlich *).
Schroffer, als auf dem materiellen Gebiete, hat sich in der Geistes-
kultur der Bruch rnit den alten Überlieferungen vollzogen. Hier ist
Augustin ein vielunistrittener Eckstein an der Wende der Zeiten. Sicher-
lich, will man zu seinem vollen Verständnis vordringen, so hat man
von allen späteren Umdeutungen und Folgewirkungen abzusehen und
ihn nur in seiner Aufnahme und Umbildung der christlichen Antike zu
würdigen. Darin bedeutet das Buch von J^. Troeltscli , Augustin, die
christliche Antike u. das MA. im Anschluß an seine Schrift „ De civitate
Dei", Hist. Bibl. 36, München 1916, eine gesunde Reaktion gegen Be-
trachtungen zu sehr vom MA. herüber.
Indem aber nach dieser Zeit hin der Schnitt scharf und tief gezogen wird, bleibt
die Studie, die eigenartig und bedeutend namentlich den großen Kulturethiker heraus-
arbeitet und wertvolle Ergänzungen zu des Verfassers „Soziallehren" gewinnt, für
unsern Zweck hier wesentlich negativ '). Was aber Augustins Weltbild, insonderheit
seine staatsrechtlichen Anschauungen, über die in letzter Zeit ja viel gearbeitet ist*),
betrifft, und über die Tr. mehr beiläufig und stark unter dem Einfluß des Werkes
der beiden Garlyle {A Iltstory of mediaeval political theory in tlie West, Bd. 1. 2,
1903/9-, Bd. 3 von A. J. Carlyle, das 10. bis 13. Jahrh. umfassend, 1916) handelt, so
darf die Berechtigung jenes scharfen Schnittes billig angefochten werden. Es mag
zugegeben werden, daß das Beste nnd Tiefste von A.s Wesen und Lehre im folgenden
Zeitalter nicht mehr begriffen und gewürdigt werden konnte, daß der Wandel der
allgemeinen Weltverhältnisse auch auf das Übernommene umbildende Wirkung üben
mußte, daß der Thomisraus des üochmittelalters von anderen Ausgangspunkten her
andere Wege einschlug. Daß jedoch das, was man ma.liches Weltbild nennt, mit der Unter-
ordnung aller weltlichen Herrschaft unter das Sacerdotium, bei A. schon im Keime
vorgebildet war und von seinen Schriften her durch Vermittlung der beiden großen
päpstlichen Gregore unvergleichlich bestimmende Wirkung geübt hat, wird der ma.-
liche Historiker sich nicht leicht ausreden lassen ^).
Erneute Bestätigung dafür ist zu finden in dem Buche von E. Bern-
heim, Ma.liche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik u. Ge-
schichtschreihung, Teil I: Die Zeitanschauungen: die augustinischen Ideen
— Antichrist u. Friedensfürst — liegnum und Sacerdotium, Tüb. 1918.
B. wiederholt eindringlicher und in weiterem Rahmen, was er schon
res nullius zu betrachtenden Mark als Zubehör der Hufen; dort eine bald mit der
Dorfgenossenschaft sich deckende , bald über sie hinaus auf mehrere Dörfer sich er-
streckende Markgenossenschaft nicht nur mit Nutzungsrechten, sondern einem Gesamt-
eigentum an der Mark (das aber da, wo die Mark selbst noch nicht fest begrenzt
war, auch nicht klar umrissen sein konnte). — Auf die spätma.liche Markg. bezieht
sich die Streitfrage natürlich nicht.
1) Sehr lehrreich in Ablehnung und Anerkennung ist namentlich die Besprechung
von H. Wopfncr, Hist Viert. 20, 1920. Vgl. auch F. Philippi in Gott. gel. Anz. 1920.
2) Zu der Schrift von Rocssingh, Het gebruilc en bexit van den grond bij Ger-
manen en Crlfrn, 1915 vgl. Z. f. R g. A. 37, 1916, S. 526.
3) Vgl. I'. Oerosa, Sunt' Agostino e la decadenxa deW Inipero Romano, Turin 1916.
4) Kaum einen Fortschritt scheint F. Offcrgelt, Die Staatslehre des h. Augiistin
nach sehifn sänitL Werken. Bonn 1914, zu bedeuten.
5) Man vergleiche auch die straffen Darlegungen darüber in dem oben S. 1
angeführten Buche von M. Ritter. Von Aug. heißt es da S. 75, er habe „eine An-
schauung vom Verhältnis des Staates zur Kirche begründet, welche fortan die lateinische
Christenheit des MA. beherrscht hat".
in früheren Studien vorgetragen ^). Durch eine Menge von Dissertationen
seiner Greifswalder Schüler, die man sich als Vorarbeiten für ihn ge-
fallen lassen wird, wenn sie auch nicht alle als Belege eigner Forscher-
tähigkeit anzusehen sind, hat er inzwischen seinen Anschauungsstoff
vermehrt -).
So verfolgt er Augustins Ideen von dem Widerstreit der Gemeinschaft Gottes
mit der des Teufels und in Verbindung damit die eschatologischen Vorstellungen vom
tausendjährigen Reiche und dem Wüten des Antichrist durch die Jahrhunderte bis
zur Höhe des MA. und weist die Bedeutung dieser Anschauungen und der sie in sich
schließenden Schlagworte namentlich für die Historiker jener Zeiten nach. Auf diesem
Grunde skizziert er dann nicht wesentlich neu, aber allenthalben mit eindrucksvollen
Bemerkungen das Ringen der ideengeschichtlich überlegenen Papstkirche mit dem fast
überall nur in der Verteidigung kämpfenden Kaiser- und Königtum, ein Ringen, das
niemals eine Trennung von Kirche und Staat im modernen Sinne zum Ziel hatte,
sondern stets auf der Basis der gemeinsamen , die Geister beherrschenden Grund-
anschauung geführt wurde, die sich letzten Endes aus AugTistin herleitete. Man wird
eine gründliche Kenntnis dieser Dinge sicherlich mit B. als notwendig für jeden
Historiker erachten, der tiefer in den Geist des MA. und das richtige Verständnis
seiner Quellen eindringen und die Fehlgriffe eines modernen Rationalismus vermeiden
will, und in diesem Sinne wird man die etwas breiten Ausführungen für recht ver-
dienstlich halten. Immerhin geht B. sowohl mit seiner Klage über die bisherige Ver-
nachlässigung dieser Zeitanschauungen, wie mit seinem Glauben an die unbedingte
Echtheit ihrer jedesmaligen Anwendung doch eine Linie zu weit. Solche in feste
Schlagworte umgeprägte Weltanschauung ist, wie B. selbst andeutet, eine Münze,
deren Bild im vielfältigen Austausch abgegriffen wird und sich mit unreiner Schicht
überzieht. Eben diese egoistischen Inteiossen gilt es auch im MA. von den idealen
Beweggründen im Einzelfalle zu sondern, und nicht jeder, der da gelegentlich ab-
weichend von B. die ersteren für die wirksameren hält, schätzt darum schon gleich
die Weltanschauungsfragen gering ein. Auch sonst wird man bei aller Würdigung
irrationaler Momente B.s Auffassung nicht überall folgen können, beispielsweise den
Ernst, mit dem Papst Stefan II. sich als Vertreter des Apostels Petrus fühlte, zwar
vollauf würdigen, aber trotzdem bezweifeln, daß 756 der bekannte Petrusbrief an die
Frankenkönige von ihm in einem Zustande der Inspiration niedergeschrieben sei, an-
statt das Ergebnis einer politischen Erwägung der Kurie darzustellen. Wie weit end-
lich eigene germanische Rechtsanschauungen und die geistige Kindlichkeit des ma.-
lichen Menschen, der noch nicht über die Kategorien von Gut und Böse hinaus zu
sondern vermochte, dem augustinischen und eschatologischen Vorstellungskreise ent-
gegenkamen, bliebe noch ergänzend zu würdigen.
Daß die neueste Geschichtsforschung in der Tat dem kirchlichen
JLeben des MA. mit viel tieferem Verständnis gegenübersteht, als man
nach B.s Klage vermuten sollte, zeigt vielleicht kein neueres Werk so
handgreiflich wie U. v. Schuberts Gesciiichte der christlichen Kirche im
Frühmittelalter, 1. Halbband, Tüb. 1917 ^).
Über eine Bearbeitung des Moellerschen Lehrbuches der Kirchengeschichte ist
dieser Band , weit hinausgewachsen zu einer völlig selbständigen , das ganze Abend-
land, auch die entlegeneren Gebiete wie das westgotische Spanien und die irische
Klosterkirche, umfassenden und doch aus den Quellen herausgearbeiteten Darstellung
des Zeitalters der „Germanisierung des Christentums'' vom Ende des 5. bis ins 9. Jahr-
hundert. Man darf es hier wohl im Rahmen der Kulturgeschichte aufzählen, weil
1) M. I. ö. G. 6 (1885), D. Z. f. G. 7 (1896/7), Z. f. E. 33, R. A. 2 (1912).
2) Vgl. die Zusammenstellung von 22 dieser Dissertationen von 1910 — 16. N. A.
41, 1917. S. 327 ff.
3) Der 2. Halbband erschien 1921.
es das tiefe Eingreifen der Kirche ia alle Lebensgebiete schildert und seinerseits ein
schönes Beispiel für den Satz ist, daß die wertvollste Förderung der Kulturgeschichte
zumeist von den Fachwissenschaften ausgeht. Was ihm aber vor allem den Charakter
gibt, das ist die Ausschaltung auch der letzten konfessionellen Einseitigkeit, worin
es die deutsche Kirchengeschichte des bei allem Wahrheitstreben doch immer stark
subjektiven A. Ilauck (f 7. April 1918) wesentlich übertrifft. Auch von katholischer
Seite kann auf diesem Grunde , den zu erschüttern man dort nicht den mindesten
Anlaß finden möchte, nun kritisch weitergebaut werden; die von F. Overbeck, dem
Freunde Nietzsches, einmal aufgestellte Forderung einer „profanen Kircheugcschichte",
die aber ein warmes Herz für den Gegenstand nicht ausschließt, scheint hier zum
mindesten für diesen Abschnitt, für den wir schon den nötigen inneren Abstand
haben, wirklich erfüllt zu sein ').
Da einmal der Name gefallen ist, so mag Overhecks von C A. Ber-
noulli aus dem Nachlaß herausgegebene kirchenhistorische Vorlesung
aus den Jahren 1887 — 93: Vorgeschichte u. Jugend der ma.Uchen Scho-
lastik, Basel 1917, hier gleich angeschlossen werden.
Die geringschätzige Vernachlässigung der Scholastik hat ja in dim letzten Jahi-
zehnten einer eifrigen Beschäftigung mit ihr Platz gemacht. Denifle, dann Bäumker-)
und seine Schüler, Grabmann, de Wulf und andere haben nicht nur die Erkenntnis
im einzelnen mächtig gefördert, sondern uns auch b/reits neue Zusammenfassungen
geschenkt. Hier hat der raa.liche Kulturhistoriker Belehrung zu suchen, der den neuen
Stand unseres Wissens erkunden will. Wenn trotzdem auf die ältere Arbeit von 0.
mit Nachdruck hingewiesen werden darf, so ist es ein eigenartiger Zauber, der über
dem Buche ruht, i)ei'sönliches Erfassen und schlicht-künstlerisches Gestalten, letzten
Endes eben doch die ganze noch lebendig zu uns redende Art dieses Wahrheit-
suchers, die es trotz des heute stark veralteten Standpunkts geeignet erscheinen läßt,
den Historiker für die Probleme dieses oft spröden Stoffes zu erwärmen ^). Freilich
wird er da nur bis an die Schwelle der nur noch kurz skizzierten Hochscholastik im
13. Jahrb. geleitet; den ganzen Stoff hat ein anderer Jugeudbekannter Nietzsches, der
jüngst verstorbene P. Deussen knapper, handhuchmäßiger in seiner Allgemeinen Ge-
schichte der Philosophie, 2. Bd., 2. Abt., 2. Hälfte 1915, dargestellt^).
Wenden wir uns von allgemeineren Darstellungen ■'■) zu besonderen
1) Von der katholischen Kompilation /''. Mourrets, Hisioire generale de l'eglise,
erschienen Bd. 2—4, Paris 1914 — 19 (4. — 14. Jahrb.). Sie kommen für die Forschung
kaum in Betracht.
2) Vgl. Ct. Bäumker, Der Platonisnms im, MA., Münch. 1916.
3) In welcher durch die Zeit der Ausarbeitung bedingten Begrenzung, ersieht
man z. B. aus der Besprechung von E. Seeberg, D. L. Z. 1920, Kol. 32 ff.
4) Vgl. auch./. Iliisih, A historg of mediaeral Jewish philosophg, London 1916;
A. Schneider, D. abendländ. Spelmlation des 12. Jli. i. ihr. Verh. x. arisiotel. u. jüd.-
arab. Philosophie, Beitr. z. Gesch. d. Phil. d. MA. 17, Münst. 1915; M. Horten, Die
Hauptlcliren des Arerrucs, Bonn 1919; F. W. Bussel, ReUgious thought and heresy in
the 7?>iddle ages, Lond. 1918. — Zur Geschichte des Erziehungswesens sei vermerkt:
G. Mnnacorda, Storia dolla scuola in Italia , Bd 1. 2 medio evo., Palermo 1914;
A. F. Leach, Tlie schools of mediaeml England, London 1915. Für die Auffassung
des Weltbildes im MA. ist von erheblicher Bedeutung: P. Duhem, Le Systeme du
moTule. Ilistoire des doctrmes cosmologiques de Piaton u Copernic, Bd. 3 u. 4, Paris
1915/16. Wenn auch dies hier bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrb. geführte Werk
durch den 1916 erfolgten Tod des Verf. unvollendet bleiben wird, so ist doch aus
dem Nachlaß von mehreren weiteren Bänden bereits 1917 der fünft(! zurückgreifende,
mit wichtiger Danstellung der aristotelisch-arabischen Einflüsse auf die vorher durch
PtolemäuH bestimmte astronomische Schule erschienen.
5) Hingcwirscn .st?i auf /'. Diepgen, Gesch. der Medixin II, Mittelalter (Samml.
Göschen) 1914, und das zwai' nicht streng wis.scnschaftliche, aber auf guter Anschauung
6
kulturhistorischen Studien, wobei zeitlich enger umgrenzte Stoffe besser
unter den betreffenden Perioden eingereiht seien, so ist mit Befriedigung
zu vermerken, daß das von J. Hoops herausgegebene Reallexikon der
germanischen Altertunishunde, eine Fundgrube der älteren germanischen
Kultur, durch die Mitarbeit erster Fachkenner von höchster Zuverlässig-
keit, auch während des Krieges trotz aller Ungunst der Zeiten rüstig
fortschreiten und vorbehaltlich späterer Nachträge zu einem Abschluß
gebracht werden konnte (Straßb. 1918) ^).
Ein anderes großes Unternehmen, das für die Geistesgeschichte des
MA. eine wichtige Quellengrundlage schaffen will, die Ausgabe der
Mittel(dterliclien Bibliothehshataloge , konnte in beiden Abteilungen mit
je einem stattlichen Bande eröffnet werden: mit den Katalogen Nieder-
österreichs von Th. GoUlieb, Wien 1915, und denen der Konstanz&r
Diözese von P. Lehmann, Münch. 1918 -). Hoffentlich gelingt es, wenn
auch mit einigen den neuen Verhältnissen entsprechenden Beschrän-
kungen, das bedeutsame Werk auch weiterhin seinem noch recht fernen
Ziele zuzuführen !
Die Gesamtheit des ma.lichen Geisteslebens zu begreifen und zu
würdigen, rückt neuerdings als eine Hauptaufgabe immer mehr in den
Mittelpunkt der Forschung; in dieser Hinsicht kann man auch von
einem Erlahmen des allgemeinen Interesses am MA. durchaus nicht
sprechen, eher vom Gegenteil, ist doch z. B. der Gegenwartswert seiner
bildenden Kunst in beständigem Steigen. Auch daß der erste sehr be-
achtenswerte Versuch einer derartigen Durchdringung: v. Eichens Gesch.
u. System der ma.lichen Weltanschauung 1917 in 3. Aufl. erscheinen
konnte, verrät das starke Bedürfnis. Genügen kann indes das allzu
schematisch angelegte, in wichtigen Grundanschauungen überholte Buch
nicht mehr. Für eine neue Zusammenfassung sind jedoch zahlreiche
und mühsame Vorstudien erforderlich, welche die Summe der geistigen
Erscheinungen in ihrer von Altertum und Neuzeit abweichenden Eigen-
art unter verschiedenen Gesichtspunkten zu ergründen hätten. Wie das
etwa an der Hand der Geschichtschreibung geschehen müßte, wie da
die verschiedenen Beobachtungsreihen (Erfassung der Außenwelt, Persön-
beruhende und für gebildete Laien anregende Buch von P. R. Scheffel, Verkehrsgesch.
der Alpen, Bd. 2 Mittelalter, Berl. 1914.
1) Ein einzelner Zweig der germ. Altertumsk. ist tüchtig behandelt von M. Jahn,
D. Bewaffnung der Germayien i. d. älteren Eisenxeit etwa 700 v. Chr. bis 200 n.
Chr., Mannusbibl. Nr. 16. 1916. — Zu zahlreichen früheren Schriften hat L. Wilser,
Deutsclie Vorzeit, 2. Aufl., Berl. 1918, eine volkstümliche Einführung in die germ.
Altertumsk. gefügt, die von der Annahme der Absta ,nung aus Südskandinavien als
Urheimat beherrscht ist. Vgl. auch ders., Denhnälei er deiäschen Gesch., Volkstüml.
Samml. der ältpsfen Ur-k., Leipz. seit 1918. G. N ',el, Germ. Heldentum, QueUen-
. .. . enszeugnisse, Jena 1915.
2) Verwertet mit manchen anderen Zufügui n für die einzelnen ma.lichen
Schriftsteller von M. Manitius, N. A. 41, 1919. > i. für Dänemark den Artikel von
Flierl .Joergensen, Les biblioth'eques danoises au 7r ;en äge in Nordisk Tidskr. för Bok-
och Biblioteksväsen 1915. Endlich die Ergänzung betreffs jüngerer Materialien (nach
15Ü0) von P. Lehmann selbst, Quellen zur Feststellung u. Geschichte ma.licher Biblio-
theken usw., Hist. Jahrb. 40, 1920.
licbkeitsscbilderung, Durchdringung der Tatsachen, Geltendmachung
eines natürlichen, ungeistlichen Urteils) in ihrer Übereinstimmung zu
einer stärkeren Gliederung der geistigen Kulturentwicklung des MA.
führen könnten, bat B. Schmcidkr in einer akademischen Antrittsvor-
lesung Gcschiclitschreihung u. Kultur im MA., A. f. Kult. 13, 1917 an-
regend angedeutet.
Literatur und bildende Kunst gehören vornehmlich zu den Gebieten,
auf denen man heute hofft, in das Wesen des MA. einzudringen. Die
Faclimiinner leisten da natürlich die wertvollste Arbeit; die neuerlich
allgemein nachgesprochene Klage über das Spezialistentum darf nicht
das Kind mit dem Bade ausschütten; \Yas wir allenthalben brauchen,
sind ja nicht in alles hineinredende Dilettanten, sondern weitblickende
Spezialisten. Der Historiker nimmt die Ergebnisse ihrer Forschung
dankbar auf; in manchen Fällen kann er sich auch mit Erfolg daran
beteiligen. So ist z. B. das Buch von W. Ganzenmüller, Das Natiir-
gefühl im MA. (Beitr. z. Kult. 18), Leipz. -Beri. I9l4, schon um des
reichen Stoffes willen, den der Vf. aus den literarischen Quellen (wenn
auch mit gewisser Beschränkung, z. B. mit Beiseitelassung der skandi-
navischen) gewonnen hat und geschmackvoll vor uns ausbreitet, eine
recht brauchbare Leistung.
Aber auch die besonnene, jeder Konstruktion abholde Methode verdient An-
erkennung. Es wird da gezeigt, wie zu dem einpfindsamen Naturgefühl und der
.scharfen Beobachtung der Spätantike die transzendentale, religiös-moralische Auffassung
des Chri.stentums in Gegensatz tritt, wie sie ob.siegt, sich auch wider die künstliche
Belebung der alten Formen in der Karoling.Tzeit behauptet und zwei Jahrhundeite
alloinherrschend wird, bis sie seit etwa 1100 zwar zu ihrer vollen Höhe, bis zur
christlich - mittelalterlichen Naturanschauuug 'des hl. Franz emporsteigt, aber neben
sich zwei andersgeartete Strömungen emporkommen sieht: eine an spätantiken Vor-
bildern orientierte aufklärerische Kichtung mit der frisch sinnlichen Vagantendichtung,
die zum Humanismus hinleitet ^j und die Poesie der Troubadours und Minnesinger,
die christliche Ausdrucksformen unter Zuhilfenahme der antiken mit subjektivem Ge-
fühl eifüUt*).
Über erstere bringt H. Süßmilch, Die lat. Vagantenpoesie des 12.
u. 13. Jahrh. als Kulturerscheinung , Leipz. 1918 (Beitr. z. Kult. 25)
1) Für das schon im 12. Jahrh. wieder erwachende Interesse an dem römischen
Altertum sei auf die bisher ungedruckte, nur aus uinem Auszug im Polychronicon
des Ranulj.'h Higden bekannte Schrift des vermutlich englischen Mayistcrs Gregorliis
„De Mirabiiibits zuhis liumae'' verwiesen, die M. H. James, Engl. bist. Kev. 32, 1917,
aus einer Hs. in Sl. Catharine's College, Cambridge s. XIII abgednickt hat. Mit den
bekannten ,, Mirabilia" hat sie nur geringe Berührung. Interessiert ihr Inhalt vor-
nehmlich den Archäologen, so i.st er doch auch für die ma. liehe Auffassung der Alter-
tümer bemerkenswert. Es steckt doch schon etwas vom Humanisten in Magister
Gregor, wenn er zur Beschreibung der römischen Venusstatue hinzufügt: „Hanc autem
propter mirandam speciem et nescio quam magicam persuasionem ter coactus sum
visere, cum ab hospicio meo duobus stadiis di-staret.''
2) Dersf'lbe Verf. hat die emjifiytAsame Naturbehachlung im MA., A. f. Kult. 12,
1914, aus seinem Buche herausgehoben. — Anna Müldhäuscr, Lnndschaftsschilderimg
i. liiirfeii der ital. Friihrenaissance, Berl. 1914 (Abh. Freib. i./Br. 56). gibt eine Sonder-
studi'- in ähnlicher Kichtung, die für die Anfänge des Humanismus wohl em ge-
steigertes Naturintere.sse, aber Petrarcas Schilderungen doch als eine hervorragende
Einzelerscheinung feststellt.
8
mehr Zusammenfassendes als Neues ^), während für letztere die lang-
versprochene Arbeit von K. Biirdach, über den Ursprung des ma.licJien
Minnegesangs , Liehesromans u. Frauendienstes, S. B, d. Berl. Ak. 1918
(mitgeteilt schon 1904), antreibend in weite Fernen weist 2).
Die ältere, für den Historiker von vornherein eioleuchtende, aber von der neueren
Philologie beiseite geschobene Yermatung von dem Ursprung im arabischen Spanien
verstärkt er durch eindrucksvolle Hinweise auf die formverwandte , jahrhundertelang
vorher geübte Lyrik an den arabischen Höfen, über die von den Arabologen weitere
Aufklärung erhofft wird. Die letzten Spuren scheinen rückwärts auf hellenistische
Vorbilder der alexandrinischen Epoche und persische Einflüsse zu deuten ^). Über
„die innere Ursache für die Entstehung des Minnesangs" äußert sich ßurdach sehr
zurückhaltend. „Da wirken in geheimer Tiefe Wandlungen und Weitungen der ma.-
lichen europäischen Psyche . die verwachsen sind mit dem gesamten Entwicklungs-
prozeß der abendländischen Kultur."
Weniger zurückhaltend ist man neuerdings von kunstphilosophischer
Seite den tiefsten Problemen ma.licher Kunst gegenüber gewesen. Man
wollte da gewissermaßen gleich aufs Ganze gehen, — anstatt mit be-
dächtiger Empirie sich dem Ziele zu nähern, lieber mit leichtbeflügelter
1) W. Meyer, aus Speyer. Der Kölner Archipoeta, Gott. Nachr., Geschäftl. Mitteü.
1914 handelt über diesen Dichter, den er nicht zu den Vaganten, sondern zu den
Ministerialen Reinaids von Dassel rechnen möchte, wohl mehr anmutig, als kritisch
überzeugend. Zum 5. Gedicht vgl. die historischen Deutungsversuche von K. Scham-
bach und B. Schmeidler in Ann. d. bist. Yer. f. d. Niederrh. 102 u. 103 (1918 u. 1919).
Vgl. Walter Map. De migis curialmm ed. by M. B. James. Oxf. 1914 (dazu Emen-
dationen von H. Bradley, Engl. bist. Rev. :i2, 1917). Tgl. auch M. E^x>osito, On some
unpublished poems attributed io Alexander Scckarn (= Nequam f 1217), Engl. bist.
Rev. 30. 1915: 8 Gedichte aus Cod. lat. 11867 der Pariser Nationalbibliothek.
2) Für die Kulturzusammenhänge zwischen Deutschland und Frankreich kann
hier das schon vor dem Kriege erschienene, wegen seiner deutschfeindlichen Tendenz
nur mit Vorsicht zu benutzende Buch von L. Reynaud, Les origines de l'influence
francaise en AUemagne I (950—1150. Paris 1913i, nur genannt werden. Man beachte
etwa die Auseinandersetzung Reynauds mit P. Grillet, Rev. bist. 115 (1914). S. I9öff.
und des letzteren Gesamturteil: ,, M. Reynaud denigre System ati quem eut TAllemagne.
II suffit de feuilleter son livre pour s"en convaincre. " — Eine ursprünglich als Ein-
leitung gedachte, aber zu einem Buch erweiterte populäre Übersicht R.s Histoire
gmerale de Vinfl. fran^. en All. erschien Paris 1914, 2. Aufl. 1915. Für das Gebiet
der bildenden Kirnst insbesondere hat E. Male, L'art ullemand et l'art fran^ais du
moyen äge, Paris 1917, mit äi:nlicher Ausschließlichkeit die Originalität der französi-
schen, die Abhängigkeit der deutschen Kunst betont. Man wird solche Ausführungen
in Deutschland sorgfältig zu beachten haben, aber von vornherein bezweifeln, daß
eine Stimmung, die sich im Anhang in leidenschaftlichen Protesten gegen die ,, syste-
matischen" deutschen Zerstörungen der Kathedralen von Reims und Soissons ergeht,
zur Erzieluug objektiver Wertungen die geeignete ist. — Das unter dem Titel:
D. Fitterspiegel, Gesch. der vornehmen Welt i. roman. MA. erschienene Buch von
A. V. Gieichcn-Evßniirrn, Stuttg. 1918, das im Unterhaltungston Richtiges und Ver-
kehrtes über Sitten und Anschauungen der oberen Kreise v. Ausgang des Altertums
bis z. 13. Jahrb. vorträgt, kommt wissenschaftlich kaum in Betracht. Seitdem auch
die Fortsetzung: Die gotische Welt, 1919. Vgl. auch F. H. Cripps-Day, The history
of tke tournament in E)igland and in France, Lond. 1918 und R. G. Clephan, The
toumament ; its periods and phases, Lond. 1919 (mit Abbild).
3) S. Singer, Arabische v. europäische Poesie im MA., Abh. d. Berl. Ak. 1918
hat füi' solche Herleitung einige weiteren Belege erbracht. Vielleicht ist in diesem
Zusammenhange auch verwendbar: Boutros Ghali, La tradition cheraleresque des
Arabes, Paris 1919.
Intuition ins Schwarze treffen ^). Der unmittelbare Gegenwartswert, den
die ma.liche Kunst überraschend wiederjjewonnen hat, stand dahinter;
da schien es keines Historismus zur Erkenntnis zu bedürfen. Das
charakteristische Buch für diese Richtung sind W. Worringers Form-
])rohleme der Gotik, Münch. 1911. Es hat, wie schon die 5 Auflagen
bis 1918 zeigen, während des Krieges stark weitergewirkt und kann
hier daher nicht umgangen werden.
Auffassungen Lainprcchts und Andeutungen des Archäologen A. Conze haben
Anregung geübt. Seine Stärke liegt iu einer sehr feinen Einfühlungs- und Ausdrucks-
gabe, durch die es auch dem Historiker bei aller Zurückhaltung Wertvolles bietet;
seine Schwäche in einer Konstruktionssucht, die den Reichtum ku!turge.schichtlicher
Erscheinungen unter wenige Generalnenner zwingt und mehrfach auch in ihrer Aus-
deutung überkünstlich wird. Die gestellte Aufgabe, die aus dem Titel nicht ganz er-
sichtlich wird, das auf unruhige Bewegtheit und seelischen Ausdruck gerichtete
„ Kunstwollen " der nordalpinen Völker gegen die ruhige Harmonie und gesetzmäßige
Körpeischönheit der klassischen Kunst abzugrenzen und es von sich aus zu begreifen,
gehört sicherlich zu den wichtigsten kulturgeschichtlichen Problemen. Bedauerlich
ist, daß jenes von der Hallstatt- und La-Teneperiode her bis zum Barock, Rokoko, ja
zur modernsten Eisenkonstruktion verfolgte Kunstwollen, weil es in der gotischen
Baukunst seinen Gipfel erreichte, „gotisch" genannt ist, so daß ein weiterer und
engerer Begriff nun mißverständlich durch dasselbe Wort bezeichnet wird, und über-
dies die Versuchung, „gotisch" als „germanisch" aufzufassen, naheliegt, obwohl z. B.
das keltische Kunstwollen davon auch nach W. nicht zu trennen ist. Schon spukt
allenthalben der „gotische Mensch", den W. sich neben dem „klassischen" und
„orientalischen" und sogar neben einem „primitiven" doch wohl wesentlich zu
heuristischen Zwecken konstruiert hat, in einer Unzahl populärer Schriften, und dies
Gespenst wird sich nicht so leicht wieder verscheuchen lassen. Dabei wird denn der
Begriff „Gotik" wohl noch weiter umgemodelt oder geradezu ad absurdum geführt,
wie in dem doch recht flachen Buche von K. Schefflet, Der Geist der Gotik, Leipz.
1917"^), wo sogar in den Figuren vom Üstgiebel des Parthenon ungriechische Gotik
entdeckt wird, und unter den Begriffen „griechisch" und „gotisch" alte Bekannte
■wie „naiv" und „sentimental", ,, apollinisch" und „dionysisch" in neuer Vermum-
mung aufmarschieren. Bei aller Bewunderung für die Gotik liegt noch Worringer
eine Feindschaft gegen die Renaissance, die jene in ihrer Entwicklung jäh unter-
brochen hat, fern, sieht er darin doch geradezu eine Reaktion dos Gesunden gegen
die „Hy-sterie" der Gotik. Indessen eine Ausbeutung in ersterem Sinne ergab sich
leicht und ist ja ein bemerkenswerter Zug der Gegenwart geworden ^).
Der Historiker, der sich eine Zeitlang von derartigen Schriften
tragen läßt, wird nicht leicht das Gefühl einer gewissen Seekrankheit
loswerden; ihm fehlt allenthalben die unmittelbare Berührung mit dem
festen Boden der Wirklichkeit. Da mag es erholsam sein, diesen Boden
1) Von einer Berücksichtigung der durch die Problemstellungen von 0. Spenglers
Untergang des Abendlandes I, Münch. 1918, angeregten überreichen Erörterungen
glaube ich hier um so eher absehen zu sollen, als mir der Ertrag für die ma.liche
Gesch. äußerst gering erscheint.
2) The substance of Oothie lautet der Titel eines Buches von B. A. Cram, Lond.
1918, das die Architektur von Karl d. Gr. bis Heinrich VIII. in 6 Vorlesungen be-
handelt.
3) Schriften wie die von IL Benx in seinen Blättern für deutsche Art und
Kunst I — 4, Jona 1915/16 sind ihrem Zwecke nach mehr auf Gc^enwartswirkung als
auf Vergangonheitserkeuntnis abgestimmt. Neben Worringer kommen natürlich ältere
Anregungen, wie Thodes Artikel „Renaissance", Bayreuth. Bl. 22, 1899 iu Betracht.
Zur kritischen Würdigung vgl. die unten genannte Schrift Deutsche Renaissance von
Burdach.
10
an der Hand des reichen Materials wiederzugewinnen, das die kunst-
geschichtliche Forschung auch während der Krjegsjahre durchgearbeitet
und bereitgestellt hat. Die noch etwas schwankende Landungsbrücke
betritt man etwa mit einem Werke wie J. Strzygowskis , Ältai-Iran u.
Völkerwanderung . Ziergeschichtl. Untersuchungen über den Eintritt der
Wander- und Nordvölker in die Treibhäuser geistigen Lebens, Leipz. 1917 ^).
In der Problemstellung herrscht hier für die ältesten Zeiten eine gewisse Ver-
wandtschaft mit Worringers Buch, die Methode aber ist grundverschieden; denn sie
gebt aus von der Deutung der immer reicheren Massen neuen Stoffes, die der un-
ermüdliche Schatzgräber aus dem Osten herbeiführt und zu dem älteren in Beziehung
setzt. Daß hier die meisten Ergebnisse noch unsicher bleiben und heiß umstritten
werden, liegt großenteils in der Natur dieses Stoffes. Der Historiker kann da im
einzelnen auch nicht folgen ; aber wenigstens ein Einblick in diese Weltweite, für die
Asien und Europa eine große Kultureinheit bilden, dürfte ihm so gut tun, wie einem
deutschen Kleinstaatler ein kurzer Aufenthalt im angelsächsischen Weltreich. Auch
sind es Fragen von hoher kulturhistorischer Bedeutung, auf die da neue Antworten
gesucht werden. Ob die Germanen der Völkerwanderung -in ihrer künstlerischen Be-
tätigung gänzlich von der römischen Welt abhingen, oder ob sie ein von ihr unab-
hängiges KuHStempfinden bis nach dem westgotischen Spanien trugen, ob sie die
Formen dafür vom Iran her über Kleinasten und Armenien schon am Schwarzen
Meer gewannen, ist für die Gesamtbeurteilung doch von erheblicher Wichtigkeit.
Und daß etwa die langobardische Kunst auf dem Wege der Klöster von der koptischen
beeinflußt, das christliche Irland auch zur Zeit seiner heidenumringten Vereinzelung
durch Wanderung ägyptischer, syrischer, kleinasiatischer Mönche zur See in unmittel-
barer Verbindung mit der hellenistischen Welt geblieben sei, das und so manche andere
Aufstellung verdient sicherlich Beachtung.
Was die Hauptfrage hinsichtlich der künstlerischen Selbständigkeit
der Germanen betrifft, der während des Krieges auch die kleine Aus-
stellung für VölkerwanderungskuDst im Kaiser -Friedrich -Museum in
Berlin diente, so wird man in die neueren Probleme bequem eingeführt
durch einen Aufsatz von C. Neumann, Von ältester deutscher Kunst,
Preuß. Jahrb. 163, 1916, wo auch das 1909 erschienene Werk von
Ä. Haupt, D. älteste Kunst, insbes. die Baukunst der Germanen v. d.
Völkenvanderung bis z. Karl d. Gr., das mit seiner starken Betonung
eignen germanischen KunstwoUens ja viel Staub aufgewirbelt hat, und
seine 1913 begonnenen Monumenta Germaniae architectonica anerkennen-
der, als es sonst meist geschieht, besprochen werden. Haupt selbst hat
sich 1916 noch einmal zu dem Gegenstand geäußert in dem Aufsatze
Die Anfänge der germanischen Baukunst (Die Bau weit, Bd. 7). Den
völhg entgegengesetzten Standpunkt vertritt da G. Dehio in seiner Gesch.
der deutschen Kunst, Bd. 1. 2, Berl.- Leipz. 1919/21 mit besonderer Schärfe
und für sehr viele sicherlich völlig überzeugend ; doch wird er auf
diesem Felde, wo dem subjektiven Ermessen Spielraum bleibt, vermut-
lich Gegner behalten. Im übrigen braucht auf das monumentale Werk,
das durch seine nun bis etwa 1500 vorgedrungene Darstellung gerade
den ma.lichen Historiker zu tiefstem Danke verpflichtet, ja nur hinge-
1) Man vergleiche auch von dems. Verf. die Aufsätze: Die deutsche bildende
Kunst u. Italien in Das 7ieuc Deutsc/da?id, Bd. 3, 1915 und D. bild. Kunst der Arier
in Unser Vaterland Bd. 1, 1916. In der Herleitung aus Persien berührt sich Strz.
mit den Hinweisen Burdachs auf literarischem Gebiet.
11
wiesen zu werden. Nach so manchen luftigen Konstruktionen wirkt
dieser allenthalben auf dem festen Boden der Sachkunde ruhende, aber
darum die Ötoffmassen nicht weniger geistig meisternde und wertende
Aul bau geradezu wie eine Erlösung.
An der ganz überwiegenden Abhängigkeit der Kunstformen von
Rom hält, wenigstens iür die fränkische Zeit, auch lest P. Giemen in
seinem großen Werke Die romanische Monumentalmalerei in den Hhein-
landcn, Düsseid. 1916 (Text zu dem schon 1905 voraufigeschickten
Tatelbandj.
Für die tiefere Einfühning iu die AVeit dieser rheinischeu Wandmalereien, die
es jetzt ermöglicht, wird man nicht dankbar genug sein können, drängen sich doch
schon beim Durchblättern so mancherlei kulturelle Beziehungen auf: die tiefsinnige
Darstellung der Vision Ezechiels in Schwarzrheindorf wurde fast gleichzeitig mit der
Eschatologie im letzten Buche der Clironik Ottos von Freising geschaffen, und ge-
mahnen uns nicht wenig später die machtvollen Erscheinungen der heiligen Bischöfe
iu S. Gereon in Köln, die fo leidenschaftlich ihr Schwert über dem Haupte schwingen
und so selbstsicher auf die Leiber Unterworfener treten, an die großen bischöf-
lichen Staatsmänner und Heerführer Barbarossas"? Zeigt sich nicht die gleiche Ge-
schmacksrichtung in den letzten barocke» Ausläufern der romanischen Malerei (etwa
im Kölner S. Kunibert um 1270) und dem ebenso kraus- bizarren, au.sdnicküberladenen
Briefstil jener Zeit?
Weiteren frühma.lichen Kunststoff machen uns die Tafelwerke von
A. Goldsclimidt, Elfenbeinskulpturen aus der Zeit der karolingischen u.
sächsischen Kaiser, 8. — 11. Jahrh., Bd. 1. 2, Berl. 1914/18, von J. Wil-
pert, Die römischen Mosaiken u. Malereien der kirchlichen Bauten vom
4. bis 13. Jahrh,, Freib. i/B. 1916, sowie von U. Zimmermann, Vor-
karolingische Miniatureyi, Denkmäler deutscher Kunst, III. Malerei,
I. Abt., 4 Mappen mit Textband, Berlin 1916 (auch für Paläographie
beachtenswert)^), zugänglich. Ob das 1911 vom deutschen Verem f.
Kunstwissenschaft von österreichischen Kunsthistorikern unter Leitung
des leider 1921 verstorbenen M. Dvofäk in Angriff genommene Werk
der Bearbeitung und Veröffentlichung sämtlicher Denkmäler der älteren
deutschen ^^'andmaler•^.i die Not der Zeit überwinden wird? Bei der
starken Hinneigung der Gegenwart zur ma heben Kunst wäre ihm weit-
gehende Anteilnahme sicher ^).
1) Vgl. dazu die Besprechung von A. Ilaseloff im Repert. f. Kunstwiss. 42, lil2U.
2) Auf einem engeren Gebiete hat F. iiaxl, Verzcichn. asirolofjischer u. mythol.
ilhi.str. Ihs. des lat. MA. i. röm. Bibliothel-en , S. B. Heid, Ak. 1915, neues Material
vorgelegt, das für die Beziehungen von Antike und MA. fruchtbar ist. 0. Weise hat
II. Z. 111 (1917) Jahresberichte xur Archäologie des früheren MA. (bis Mitte des
13. Jh.) eröffnet, welche die Denkmälerforschungen mehr unter dem GesichtspuiiVte
des Quellenwerts als nach künstlerischer Schätzung verzeichnen wollen. Die größere
Knapiiheit und die Bescinänkung nur auf das Bedeutsamere, zu der die deutsche
Notlage diese Berichterstattung im weiteren Fortgang gezwungen hat, gereicht ihr
nur zum Vorteil. Vgl. 0. Weise, Untersuehtmr/en x. Oesch. d. Architektur u. Plastik
d. früheren MA., Lei[iz. 1916. Fruchtbare neue Gesichtsiiunkte auf diesem Gebiete
eröffnet dits Buch von K. M. Swohoda, Römische u. roniaii. Palmte, ^Vien 1919, das
starke Nachwirkungen der römischen Villen- u. Palastarchitektur duixh Vermittlung
Frankreichs auf die entsprechenden romanischen Bauten Deutschlands nachweist. —
Auf einem ganz anderen Gebiete .sind die archäologischen Funde kulturgeschichtlich
nutzbar gemacht in dem Buche von T. J. Arne, La Suede et V Orient, in Archives
12
Eben Dvorak hat auf Grund reichster Denkmälerkenntnis eine tief-
dringende Studie über ma. liehe Kunstauffassung: Idealismus ti. Natura-
lismus in der gotischen Skidptur u. Malerei, H. Z. 119, 1918 (auch ge-
sondert erschienen) veröffentiicht, die wohl zum Besten zählt, was auf
diesem Gebiete in jüngster Zeit geschrieben wurde.
Für ähnliche Probleme, wie sie Worringer kurzerhand deduktiv und konstmktiv
lösen möchte, wird hier Aufschluß in enger Verbindung mit den übrigen geistigen
Erzeugnissen der Zeit gesucht.
Nachdem schon in altchristlicher Zeit der Sensualismus der klassischen Kunst
durch den Spiritualismus abgelöst und in der frühma.lichen und romanischen Kunst
eine Periode des Antimaterialismus gefolgt ist, wird im gotischen Idealismus das Ver-
hältnis zwischen Übersianlichem und Sinnlich-Wahrnehmbaren auf eine neue Grund-
lage gestellt. Von dem obersten Prinzip einer übersinnlichen Bedeutsamkeit aus wird
die Welt neu entdeckt und gedeutet. Das Abweichen von der Naturtreue beruht
nun nicht auf Unvermögen des Sehens oder der Technik, sondern auf der wohl-
erwogenen Absicht, eine Welt übernatürlicher Gebilde mit gesteigertem seelischen
Ausdruck darzustellen ^). Eine relative Annäherung an die Natur bringt auch das mit
sich, aber keine objektive, wie die der Alten, sondern eine subjektive, vom indivi-
duellen Bewußtsein ausgehend und auf das Seelische gerichtet, nicht auf eine syn-
thetische Norm der Körperschönheit, — eine Tendenz, die nun die der ganzen weiteren
Kunst wird. Ein neuartiger Naturalismus — das scheint bemerkenswert — wächst
also, wenn auch dem spiritualistischen Hauptprinzip untergeordnet, schon in der Gotik
und innerhalb des kirchlichen Rahmens seit dem 12. Jahrh. empor, beginnt nichr
erst mit einer Emanzipation davon; er erstarkt allmählich durch Beobachtimg und
Erfahrung und wird durch arabische Einflüsse gefördert. Die Befreiung von den
supranaturalistischen Eücksichten und die Stellung des Kunstwerks auf eigene Gesetze
erfolgt dann freilich erst durch den Anstoß aus Italien seit Giotto und die Aufnahme
der Anregamg im Norden durch van Eyck. Es ist unmöglich, die feinen Gedanken-
gänge D.s in wenige Sätze zusammenzuziehen.
Ich hebe gerade dies Moment eines langsamen Heraufwachsens
eines subjektiv -psychischen Naturalismus innerhalb der Gotik heraus,
weil es geeignet ist, den allmählichen Übergang vom MA. zur Neuzeit
auch auf dem Gebiete der Kunst zu belegen, wenigstens in diesem
Punkte die Gotik eher als Vorstufe, denn als absoluten Gegensatz zur
Renaissance, deren Neues darum nicht verkannt werden soll, aufzufassen.
Eben das Fließende dieser Entwicklung ist es ja, das bei tieferer Er-
gründung einer scharfen Periodisierung Schwierigkeit bereitet; darum
vermag auch die Erörterung über den Abschluß der ma, liehen Epoche,
über Beginn, Namen und Wesen der Renaissancebewegung, so eifrig
sie fortgesetzt wird, noch zu keiner völligen Übereinstimmung zu führen.
Gerade die hundertste Wiederkehr des Geburtstages von J. Burck-
d'etudes orientales VIII, UpsaU 1914, wo auf ihrem Grunde in bedeutsamer Weise die
Beziehungen zwischen Schweden, Rußland, Byzanz, Persien usw. vom 8. — 11. Jahrh.
erschlossen werden. Von sonstigen kunstgeschichtlichen und archäologischen Werken
des Auslands sei nur herausgegriffen : A. K. Porter, Lombardic Architecture, 3 Bände
mit Abbildungsband, New Haven/Lond. 1917; C Enlart, Manuel d' archeologie fran(^aise
depuis les temps merovingieiis jusqu'ä la Renaissance, Bd. I Architecture religieuse.
1. Teil Periodes merov.. carol. et romanc, 2. Ed., Paris 1919. Bd. III Le Costtcme,
Paris 1916.
1) Vgl. auch F. Anitchkof, L'esthetique au moijen äge, Le Moyen age 29, 1917/18,
wo der Versuch gemacht wird, die Grundlagen von Kants Ästhetik schon im Mittel-
alter aufzudecken.
lo
hardt am 25. Mai 1918 hat bei aller Würdigung seiner überragenden
Bedeutung den Abstand klar erkennen lassen, den die Gegenwart von
seiner Auffassung der Renaissance vielfach genommen hat. Einer seiner
Schüler, (\ Neumann, hat das in seinen „Gedanken über JaJcoh Burck-
hardt", Deutsche Rundsch. 44, 1918 (abgedr. i. d. Büchlein JaJc. B.,
Deiäschl. n. d. Schiveiz, 1919) nicht zum erstenmal, aber wiederum
höchst eindrucksvoll formuliert.
„Was er in seiner Kultur der Renaissance in Italien beschrieb, war keine
italienische Kulturgeschichte vom 13. bis zum 17. Jh., sondern die bewußt einseitige
Darstellung der Bestrebungen, Gedanken und Gefühle einer Minorität, die allmählich
fast die ge.samto Bildung gestaltete : die konservativen Mächte , das Fortleben der
christlich-ma.lichen Welt in Italien wird mit Kunst und Absicht beiseite gelassen."
Das sind aber nicht nur Unterströmungen, sondern ..kostbare Provinzen" sind geradezu
.,dem MA. entrissen", mit Dante, Petrarca'), Bokkaz ..drei Edelsteine aus der Krone
des MA. ausjjebrochen und der Renaissance, der unwiderstehlichen Vorführerin, zu-
geeignet". „Zieht man schließlich von der italienischen Renaissance Burckhardtischer
Meinung die Annexionen ab, so bleibt als großartiges Phänomen die Durchdringung
des italienischen Geistes mit der Antike seiner Vorzeit übrig." „Seine Renaissance
ist die Ge.schichte einer aristokratischen Minorität."
Nur mit diesen herausgerissenen Sätzen kann hier das erörterte
Problem angedeutet werden. — Eine Überschicht ist es nun wohl,
mindestens bis ins 19. Jh., stets gewesen, die ein Kulturzeitalter bestimmt
hat, und ob es ratsam wäre, die große Kulturepoche Italiens, die Burck-
hardt als die der Renaissance zusammenfaßt, nach überwiegend mittel-
alterlichen und vorherrschend neuzeitlichen Elementen zu spalten, dürfte
sehr fraglich sein. Wo liegt aber ihr Ursprung ? Indem man die
irrationalen Mächte in ihr höher werten lernte, hat man seit dem 1885
erschienenen Buche von H. Tliode (f 1920) den Ausgangspunkt dieser
„Humanitätsbewegung" wohl in Person und Wirksamkeit des hl. Franz
von Assisi gesucht. Das hat mit dazu beigetragen, die internationale
Literatur über diesen auch so manchem Weltkinde teuren Heiligen in
den letzten Jahrzehnten immer stärker anschwellen zu lassen. Glück-
licherweise ist der Überblick jetzt sehr erleichtert. Zu U. Holzapfels
Handbuch der Geschichte des Franzishanerordens , Freib. i./Br. 1909,
zu den Übersichten über die Neuerscheinungen im Archivum Francis-
canum Historicum, Quaracchi 1908ff. , und in den Franzi spanischen
Studien, Münst. 191 4 ff. -'), tritt jetzt das Büchlein von P. Fidentius
van den Borne, Die Franz isJciis-ForscJmng in iJirer EntwicMimg dar-
gestellt, VeröfF. aus d. kirchenhist. Semin. München IV, Nr. 6, Münch.
1917, ein kenntnisreicher, ruhig urteilender Überblick vom katholischen
Standpunkt aus, der zur Einführung in die Probleme warm empfohlen
werden kann.
1) IL W. Eppelsheitner, Über Petrarcas Religiosität, A. f. Kult. 12, 1916, betont
die im Rahm(>n der alten Dogmatik vorherrschenden, schon ganz human i.stischen Züge,
Abkehr vom System und suekulativer Erkenntnistheorie, von Aristoteles, von asketi-
.scher Auffassung, Hinwendung zur Persönlichkeit u. Lebensphilosophie, zu Plato, zur
Bildungsreligion.
2) Vgl. auch die in Quaracchi 1918 mit 3 Bändchen eröffnete Piceola Biblioteea
dl coltura franccKcana von V. Facchinetti.
14
Man ersieht daraus, wie Erhebliches in der kritischen "Würdigung und Bereit-
stellung der Quellen geleistet worden ist, aber ebenso auch, daß sich die Forschung,
soweit die Auffassung der Persönlichkeit des Ordensstifters in Betracht kommt, einiger-
maßen im Kreise bewegt hat. Von der modernen Aufmachung P. Sabatiers ^) und
seiner Nachahmer ist sie unter eifriger Mitarbeit protestantischer Forscher wesentlich
zu der von katholischer Seite stets festgehaltenen Beurteilung zurückgekehrt, freilich
nicht ohne daß das Bild von legendarischen Zutaten gereinigt und wesentlich vertieft
worden wäre.
Sehr eindringlich ist namentHch die neueste, mehr verstandesraäßige
Analyse von protestantischer Seite, die H. Tilemann, Studien zur In-
dividualität des Franziskus von Assisi, Beitr. z. Kult. 21, Leipz. 1914,
unternommen hat.
Franz erscheint da als asketischer Idealist, der in dem Heroismus des Entsagens,
in der höchsten Steigerung der Leistung das Seligkeitsgefühl findet, das auf seine
Umgebung überströmt, der Kirche, auch wo er die von ihr durchgesetzten Ab-
schwächungen bitter empfindet, unbedingt ergeben, ein Gottbegeisterter, der sich leiten
läßt, eine Individualität, aber kein Individualist, ein Tollender ma.licher Religiosität.
Mau mag gegenüber der Schärfe dieser und ähnlicher Formulierungen mit
K We7ick, Theol. L. Z. 1919, Nr. 12, einige Vorbehalte machen und die feinsinnige
Darstellung bevorzugen, zu der dieser Gelehrte in der 1918 erschienenen 2. Aufl.
des bekannten Buches ., Unsere religiösen Erzieher" die neueste Forschung knapp
zusammengefaßt hat. Der Grundzug der Auffassung bleibt der gleiche, und da selbst
Sabatier, der eine Neubearbeitung seines Buches vorbereitet, von seiner früheren
Anschauung wesentlich zurückgekommen zu sein scheint (vgl. v. d. Borne S. 86), so
dürfte bis auf weiteres eine Art Endergebnis erreicht sein, wobei natürlich die religiöse
Bewertung je nach der Konfession verschieden bleibt.
Ein ewig erneutes unkritisches Nacherzählen dieses Heiligenlebens 2)
sollte nun einmal aufhören; wenigstens in dem verarmten Deutschland
sollten wir uns solchen Luxus nicht mehr gestatten. Der ernstlichen
Forschung bleiben hier Aufgaben genug; um die Hersteilung der ersten
Ordensregel von 1210 hat sich z. B. V. Kyhal bemüht, der auch wieder
die Unterschiede zwischen der zweiten und dritten Regel von 1221 u.
1223 scharf betont und das Testament mehr in der Richtung Sabatiers
beurteilt [Die Ordensregeln des Id. Franz v. Ä. und die urspr. Verfassung
des Minoritenordens, Beitr. z. Kult. 20, 1914; eher d. Test. d. M. F. v. A.,
M. I. ö. G. 37, 1915). Der Ausbreitung und Geschichte des Ordens
wenden sich andre Studien zu ^). Das Ergebnis ist nun aber , wenn
1) Bekanntlich hat Sabatier selbst eifrig und bedeutsam an der festeren quellen-
kritischen Begründung und Umformung des Bildes mitgewirkt. Was in den beiden von
ihm herausgegebenen Serien: Collection d'ctudes et de documents etc. und Opuscules
de critique historique zuletzt erschienen und weiter zu erwarten ist (darunter
6 Bände von Sab. selbst mit neuen Ausgaben der wichtigsten Quellen zur Geschichte
des hl. Franz) findet man ßev. bist. 131, 1919, S. 2U6 verzeichnet.
2) Vgl. z. B. R. Saitsehick, F. v. A., Münch. 1916; A. Verger, Vie de s. F. d'A.,
Tours 1914; Cuthbert, The romantieism of St. Francis, Lond. 1915; D. Sih-&stri,
Fr. d'Äss. e l'Italia, Rom 1917; G. Cerri, Patriottismo di s. Fr. d'Ass. Novara 1918;
6\ Fr. d'Ass. le jo~ngleur de Dien par A.-M., Montpellier 1917. A'^gl. auch E. Smith,
Saint Cläre of Assisi, her life and legislation, Lond. 1914.
3) Vgl. F. A. Oroeteken, Die Franziskaiier a. Fürstenhöfen bis x,. M. d. 14. Jh.,
Münst. Diss. 1915; R. Schmitx, D. Ziest, der süddeutschen Franziskanerkonventiialen
a. Ausg. des MA., Freib. Diss. 1915; A. Sciwifer, Die Orden des hl. F. i. Würt.
bis z. Ausg. Ludw. d. B., Tüb. Diss. 1916; fortges. i. d. Blatt, f. würtemb. Kirchen-
15
wir zum Ausgangspunkt dieser Erörterung zurückkehren, nicht mehr zu
bezweifeln: die rüekwärtsgewandten übernationalen Ideale des lil. Franz
mit ihrer kulturfeindlichen Askese und der vorwärtsstrebende, anfangs
stark nationale, diesseitsfreudige Geist der italienischen Renaissance sind
zwei entgegengesetzte Welten , lassen sich nicht zu einer Einheit zu-
sammenfassen. Die Person des Stifters zum mindesten hat hier aus-
zuscheiden, wenn auch sein Orden alsbald eine Richtung nahm, die von
dem ursprünglichen Ideal ablenkte.
Damit soll eine Einwirkung des Geistes einer religiösen Erneuerung
vom Franziskanertum her auf die Männer der werdenden Renaissance
natürlich nicht bestritten werden; namentlich ein Einfluß der von den
Spiritualen gepflegten joachitischen Hoffnungen steht ja außer Zweifel ^).
Und überhaupt sind die religiösen Antriebe in den Anfängen von Re-
naissance und Humanismus neuerdings auf das Nachdrücklichste betont
von K. Burdach.
Renaissance bedeutet nicht etwa Wiedergeburt der Antike, sondern Wiedergeburt
eines ursprünglichen Adam, Verjüngung der Welt, Kückkehr zur Menschlichkeit, zur
Einfachheit und Gesetzmäßigkeit der Natur aus Verworrenheit, Versöhn örkelung und
Unnatur der Scholastik, eine Reaktion, wie die Rousseaus und der deutscheu Romantik
gegen den Rationalismus. Die Selbstbesinnung auf die nationale Vergangenheit des
römischen Altertums soll dafür nur als Hebel dienen; aber zunächst kein Gedanke an
sklavische Nachahmung, wie bei früheren sog „ Renai-ssancen ", sondern allenthalben
Erweckung zum Leben, Beseelung, Umschaffung zu eignem Neuen! Man weiß, wie
B. bei .seineu Studien über die Ursprünge der neuhochdeutschen Schriftsprache und
die Geschichte der deutscheu Bildung im Sy)ätmittelalter durch di" Einwirkung der
italienischen Frührenaissance auf Prag und die deutsch -böhmische Literatur um die
Mitte des 14. .Ih. hingeführt -worden ist auf die Be.strebungen des römischen Volks-
tribunen Rieuzi, und wie er diese Figur, was manchem zunächst als eine seltsame
Laune erscheinen mochte, zu einem Hauptmittelpunkt seiner weitausgreifeuden kultur-
historischen Forschungen gemacht hat.
Nicht lange vor dem Kriege hat er einen Teil dieser wesentUch
ideengeschichtlichen Untersuchungen veröff'entlicht in dem Halbbande
Rienzo und die geistige Wandlung seiner Zeit (Vom MA. z. Reformation.
H. Briefwechsel des Cola di Rienzo, 1. Teil, erste Hälfte, Berlin 1913.)
Die in breiten Windungen aufsteigenden Gänge dieser auch so manchen
Seitenweg nicht verschmähenden, bisher noch nicht abgeschlossenen
Forschung und die Störungen der Kriegszeit haben dem bedeutenden
Buche noch nicht den starken Einfluß auf die ma. liehe Historie gebracht,
der ihm sicherlich gebührt. Doch hat B. seine Ergebnisse wiederholt
in noch weitere Zusammenhänge gestellt und einem größeren Kreise
vorgetragen {Deutsche Ilemiissance i. d. Sammlung „Deutsche Abende" IV,
Berlin 1916 und das willkommene Büchlein Reformation, Renaissance,
gesch. 1919, 1920. Monum. Germ. Franciscana, 2. AU. 1. Bd. D. Kustodien Gold-
herg v. Breslau, 1. Teil 1240-1517 von Chr.Ecisch, Düs:;. 1917; J. Sever, The Eng-
lisk Franfiseans under Henry III., Oxford 1915. A. 0. Little, Studies in Engiish
Francisrnn //ist., Lond. 1917. Wonig bekannt dürfte in Deutschland auch noch
sein das Büchlein von L. GiUet, Ilistoire artistique des ordres memlkuits, Paris 1913.
1) li. Wolhan, Z. f. ö.st. Gymn. 67 (1916) möchte die Reuai.ssance im antikirch-
lichen Sinne aus Sektenwi .sen, Mystik, Minnegesang herleiten. Vgl. dazu den Exkurs
in der 2. Aufl. von Burdachs Deutsche Renaissance.
16
Humanismus, das zwei etwas ältere Abhandlungen, um wertvolle An-
merkungen bereichert, zusammenfaßt, Berlin 1918) ^). Und endlich hat
er gemeinsam mit A. Bernt im 3. Bande des großen Werkes: Vom MA.
z. Reformation 1917 dem deutschen Volke die abschließende Ausgabe und
überreiche Kommentierung des wundervollen ,, AcJcermami aus Böhmen"
von Johann von Saaz geschenkt, der in der kraftstrotzenden und klang-
reichen Sprache von 1400 denn doch noch viel mächtiger wirkt, als in
der vom Insel verlage verbreiteten Übersetzung ^) , und von keinem
Historiker ungelesen gelassen werden sollte ^).
Daß diese aus langjährigen Vorbereitungen nun üppig hervorschießenden Lei-
stungen Burdachs zu dem AllerwertvoUsten gehören, was uns die jüngste Kultur-
geschichtsforschung gebracht hat, wird auch der freudig anerkennen, der im einzelnen
Vorbehalte macht. B.s Klage über den ,, Jahrbücherhorizont"' einer Richtung der bis-
herigen deutschen Geschichtswissenschaft wird in der Gegenwart sicher Gehör finden.
Aber seine Flüge in ideengeschichtliche Höhen führen doch mitunter durch recht
dünne Luft. Hat eine umfassende Kulturbewegung, wie die italienische Renaissance,
nicht doch breitere, erdfestere Grundlagen, und hat man nicht z. B. aus der neuen
städtischen Wirtschaftsentwicklung, trotz B.s Widerstreben, gewisse Voraussetzungen
für seelische Umstellung und geistige Horizonterweiterung abzuleiten? Rienzis histo-
rische Rolle wird man nun geutiB gerechter würdigen, aber den Eindruck, daß diese
ganze Gruppierung weltbeweg^^er Gegensätze um ihn als Mittelpunkt zu einer ge-
wissen Überschätzung führt, wird mau nicht ganz los. Für die Frage der Periodi-
sierung, von der wir oben ausgingen, ergibt sich auch aus diesen tiefeindringenden
Untersuchungen, wie schwer eine reinliche Scheidung zwischen älteren und neueren
Momenten ist, wie zähe eingewurzelte \ orstellungen haften. Man wird sich auf die
genaueste Darlegung der Entwicklung beschränken müssen. In solchen Übergangs-
zeiten ist jede Entscheidimg, hier überwiege das Alte, dort das Neue, mehr oder
weniger subjektiv. Für die Einschätzung Kaiser Friedrichs IL gibt B. wertvolle Ge-
sichtspunkte „Dieses tragische Genie, dieser Prophet des modernen kosmopolitischen
Kulturgedankens verblutete, weil er zwischen den Zeiten stand." Beurteilt man ihn
nach der imperialen Stellung, zu der ihn Überlieferung und Schicksal zwangen, so
ist Mar, daß er sich überwiegend in ma.lichen Vorstellungen bewegte; wie hätte er
mit modernen Ideen eben diese Position verteidigen können? Ob da nun aber der
Kern seines Wesens zu suchen ist oder in den zukunftsvolleren Kräften seines Innern,
die auch B. nicht leugnet, bleibt die Frage. Gerade darin, daß er eine Rolle zu
spielen gezwungen war, zu der ihn wertvolle Veranlagungen seiner Natur nicht zu
bestimmen schienen, lag ja jene Zerrissenheit beschlossen, die sein Schicksal wurde.
Soviel Einwirkung auf die keimende Renaissancekultur, wie B. dem Papste Bonifaz VIII.
zuschreibt, möchte man doch zum allermindesten auch für Friedrich in Anspruch
nehmen , wenn auch darüber keine Meinungsverschiedenheit bestehen karm , daß das
gesamte 1.3. Jh. nur für die Vorgeschichte der Renaissance in Betracht kommt, noch
nicht selber Renaissance ist.
Wie sehr die Scheidunsr zwischen MA. und Neuzeit dadurch er-
Schwert ist, daß die einzelnen Institutionen und Richtungen : Staat, Kirche,
geistige Bildung, Wirtschaftsordnung sich nicht gleichzeitig wandeln, hat
A. Dove (f 1916) in einer lehrreichen, erst nach seinem Tode ver-
öffentlichten Abhandlung Der Streit um das MA., H. Z. 116, 1916
betont. Er empfiehlt daher, von einem bestimmt datierten Einschnitt
1) Vgl. auch den neueren Bericht S. B. d. Berl. Ak. 1920.
2) Man möchte einen billigen Abdruck des Urtextes ohne Varianten und nur
mit den nötigsten Erläuterungen erhoffen, der auch in Universitäten und Mittelschulen
benutzt werden könnte.
3) Vgl. dazu 0. Zedier, im 16. Jahresber. der Gutenberggesellsch. Mainz 1918.
Wissenschaftliclie For8chimp;sherichte VII. 2
17
abzusehen und es bei der Übergangszeit des 14. und 15. Jh. zu be-
lassen ^). Konservativen Charakter trägt auch die längere Abhandlung
von K. Borinski, Die Weltwiedergeburtsidee in den neueren Zeiten.
1. Der Streit um d. Renaissance u. d. EntstehungsgescJiiclde der histo-
rischen Bcziehiingshegriffe Bcnaisscmce u. MA., S. B. d. Münch. Ak. 1919,
wo im Eingang die Literatur über den Streit der letzten Jahrzehnte
um die Renaissance zusammengestellt ist. Er wendet sich scharf gegen
die neueren Umdeutungen eines Begriffes, der, wie durch eine sehr stoff-
reiche Sammlung von Belegen erhärtet wird, auf dem Gebiete der Lite-
ratur und Kunst über ein halbes Jahrtausend alt sei. „Warum im evo-
lutionistischen Taumel alle Grenzpfahle umstürzen, die doch nur unser
Bestiramungsbedürfnis errichtet hat?" In Beziehung zur Wiedergeburts-
idee ist der Begriff Mittelalter entstanden, der, wie P. Lehmann, Vom
MA. u. der lat. Philologie des MA., Quell, u. Unters, z. lat. Phil. d. MA.
V, München 1914, nachgewiesen hat, den Humanisten des 15. Jh. ge-
läufig war, wenn auch das Wort seit 1469 nicht allzu oft begegnet, ehe
es im 17. Jh. endgültig durch Cellarius 1685 in den Schulgebrauch
eingeführt wurde. ;_,
Faßt man zusammen, so möchte man mit* Burckhardt an der Einheit
der italienischen Renaissanceperiode von Dante, der in sich den Gipfel
ma. lieber Kultur mit bedeutsamen moderneren Ansätzen vereinigt, bis
Michelangelo festhalten, aber den Charakter einer Übergangsepoche, in
der anfangs noch sehr starke ma.iiche Tendenzen mit den neueren ringen,
schärfer herausarbeiten. Das aber gilt ja für alle kulturgeschichtlichen
Periodisierungsversuche, daß sie unter mehreren nebeneinander laufenden
Strömungen die stärkeren und zukunftsvolleren als kennzeichnend heraus-
heben müssen -).
2. Allgemeinere Darstellungen und frühes iViittel-
alter
Das Bedürfnis nach knapp zusammenfassenden Gesamtdarstellungen,
schon vor dem Kriege als Gegenschlag gegen das riesenhafte Anschwellen
des Stoffes vorhanden, ist seither noch gewachsen-^). Vortragsreihen
1) Das neuerwachte Interesse für Fragen der Einteilung des historischen Stoffes
zeigt auch neuerdings die Schrift von E. Oöller, D. Periodisienmg der Kirchengesch.
u. die epochale Stellung des MA. zw. d. christl. Altertum u. d. Neuxcit, Freib. i./ß. 1920.
Vgl. auch G. L. Barr, How the middle ages got thcir name. Am. Hist. Rev. 2U, 1915.
2) Mit solchem Endergebnis stimmen neuerdings die beachtenswerten Ausführungen
von F. Friedrich, H. Z. 122, lf)20, im wesentlichen überein. Ebenso W. Weisbach,
Renaissance als Stilbegriff, H. Z. 120, 1919, der das Durchdringen der Ren. als kunst-
geschichtlichen Stilbegriffos um 1400 ansetzt, aber mit Burckliardt das Zeitalter der
italienischen Renaissancekultur schon ein Jahrhundert früher anheben läßt. Die zuerst
auf italienischem Boden vollzogene formale Einwirkung der Antike gilt ihm mit Dehio
und anderen als unausschaitbarer Faktor für die Renaissance und auch die angefochtenen
Bezeichnungen „französische" und „deutsche'' Renaissance sucht er zu rechtfertigen.
3) Anfänger seien hingewiesen auf die praktischen Winke für die Einrichtung
des Geschichtsstudiums in der Schrift von A. Meister, Richtlinien für das Sttidium
der Gesch. des MA. u. der Neiixeit., Münst. 191 G.
18
hinter der Front oder daheim, die nachher dann wohl veröffentlicht
sind, suchten ihm entgegenzukommen i). Von den älteren Werken hat
G. Wehers zweibändige Weltgeschichte durch L. Hieß eine durchgreifende
Neugestaltung erfahren, die auf synchronistische Behandlung das Haupt-
gewicht legt und nach allen Richtungen hin sehr inhaltreich ist (1. Bd.
Altertum u. MA, Leipz. 1918). Seitdem hat der gleiche Bearbeiter be-
gonnen, die Bände der großen Weberschen Weltgeschichte neu heraus-
zugeben'). Zu weit in dem Streben, die ganz« Welthistorie gleichsam
in einer Nuß, wie man es früher etwa genannt hätte, darzubieten, sollte
man nicht gehen, wenn man noch fruchtbare Wirkungen über die üb-
lichen Kompendien hinaus erzielen will. A. Cartellieri, der auf 173 kleinen
Seiten Grundzüge der Weltgeschichte 378 — 1914 (Leipz. 1919) veröffent-
licht, spannt den Rahmen doch zu eng, verfolgt im wesentlichen auch
nur die Haupt Wandlungen des europäischen Staatensystems ^). Das
richtige Ausmaß dürfte in der von L. M. Hartmann herausgegebenen,
auf 1 2 knappe Bände berechneten Weltgeschichte in gemeinverständlicher
Darstellung vorgesehen sein (Gotha, seit 1919), die aber mit des Heraus-
gebers eigner Arbeit „Der Untergang der antiken Welt" das MA. nur
erst flüchtig berührt, indem die Geschicke der Mittelmeerländer bis 753
kurz behandelt werden*). Die in der Vorrede ausgesprochene Absicht,
das Hauptgewicht auf die Massenerscheinungen zu legen, muß dem-
jenigen, für den sich in der Wechselwirkung zwischen führenden Geistern
und Massen der Gang der Geschichte vollzieht, eine Verärmerung be-
deuten, wie denn die geistige Kultur und die Schilderung der großen
Persönlichkeiten in den bisherigen Abschnitten in der Tat zu kurz
kommen ^).
1) Vgl. z. B. Deutscher Staat u. deutsche Kultur, auf Grund an der Univ. in
Straßburg gehalt. Vorträge hrsg. v. d. Heeresgruppe Herzog Albrecht, Straßb. 1918.
2) Von H. Hehnolts VTeltgeschichte erschien Leipz. 1919 in 2. Aufl. Bd. 5:
Italien. Mitteleuropa, von 10 verschiedenen Bearbeitern, die Gesch. dieser Gebiete bis
Ende des MA. umfassend.
3) Fr. Hicketier, Überblick üb. d. Weltgesch., Berlin 1914 kann auf höhere wissen-
schaftliche Bedeutung keinen Anspruch machen.
4) Seitdem sind die Bände Frühes MA. von S. Hellmann 1920 und Späteres
MA. von K Käser 1921 erschienen.
5) G. F. Young, Fast and West through fifteen centuries, 44 vor — 1453 n. Chr.,
2 Bde. (bis 740), Lond. 1916, ist ein umfassender Versuch, wie einst Gibbon römisch-
byzantinische und abendländische Geschichte in chronologischem Fortschreiten ge-
meinsam darzustellen , aber nicht ganz genügend fundiert. Das Erscheinen des
3. Bandes der Cambridge mediaeval history ist auch nach dem Kriege dadurch arg
verzögert, daß die von deutschen und österreichischen Verfassern bearbeiteten Kapitel
neu geschrieben werden mußten ! H. B. Cotierül, Mediaeval Italy during a thousand
years 305—1313, Lond. 191.Ö; ders., Italy from Dante to Tasso, 1300—1600, Lond.
1919 (ohne kritisch - historischen "Wert); G. O. Coulton, Social life in Britain from
the Conquest to the Reformation, Cambr. 1918; C. B. L. Fletcher, The making of
tcestern Furope, Bd. 1. 2 ( — 1190), New York 1915-, J. Fu-ing, Normans and Plan-
tagenets 1066 — 1485, Lond. 1918; H. K. Mann, The lives of the popes in the middle
ages, Bd. 9 — 12 (1130 — 1216), S. Louis 1914/5. Von umfassenderen ausländischen
Darstellungen notiere ich femer: B. B. Mowat, The later middle ages, a history
of Western Furope 1254 — 1494, Lond. 1916 j E. Emerton, The beginmngs of modern
2*
19
Die tTbergangszeit des ausgehenden Altertums, die gegen eine
hohe, aber dahinsiechende aristokratische Geisteskultur die gesunde
Faustkraft roher Massen heraudringen sah, hat unsern Tagen besonders
Lehrreiches, Düsteres, aber für eine ferne Zukunft doch wieder HoflF-
nungsvolles zu künden. Vermutlich wird man sich noch tiefer in sie
versenken. Für die Kriegsjahre fiel dieser Ansporn noch fort. Die
Ausbeute an neuer Forschung war, wenn man von dem, was besser
dem Gebiet der alten Geschichte zuzuweisen ist, absieht, nicht eben
groß. An tieferer Betrachtung steht vielleicht in erster Linie ein Auf-
satz von J. Gejfcken, Der Ausgang des griechisch-römischen Heiden-
tums, Neue Jahrb. f. d. klass. Alt, usw. 41, 1918. J. Sundwail (Hel-
singfors), Weströmische Studien, Berlin 1915 möchte in aristokratischen
Rückbildungen, wie in den Grundherrschaften der Senatoren, die ein
gesundes Steuersystem verhinderten, einen Hauptgrund für den Nieder-
gang Roms erblicken ^). Wie von der germanischen Seite her A. Dopsch
die Dinge ganz neu betrachtet, ist schon oben bemerkt. Mit der jüngsten
Gesamtdarstellung von 0. Seeck, Geschichte des Untergangs der antiken
Welt, deren 5. Band von 364 — 410 kurz vor dem Kriege 1913 erschien,
wird sich natürlich auseinanderzusetzen haben, wem es um den Gang
der Dinge im einzelnen zu tun ist; er mag sich an der Lebendigkeit
der Darstellung freuen, ohne sich den stark subjektiven Auffassungen
unkritisch hinzugeben ^j. Die germanische Überflutung Britanniens hat
F. Lot, Les migrations saxonnes en Gaule et en Grande- Bretagne du
III. au V. siecles, Rev. bist. 119, 1915 aus den Quellen neu dargestellt.
Bemerkenswert ist uamentlich seine scharfe Ablehnung der Annahme von nord-
gallischen und niederrheinischen Zwischenstationen, wie sie für die Sachsen und teil-
weise auch für Juten und Angeln namentlich J. Hoops mit weitgehender Zustimmung
in Deutschland vertreten hat. Insbesondere wird das Bestehen eines vorgeschobenen
thüringischen Reiches am Niederrhein bestritten und der nordgallische limes Saxonicus
in der Notitia dignitatum analog dem britischen als Abwehrgürtel gegen die Sachsen
erklärt. — Zu dieser Frage vgl. auch das archäologische Material in O. B. Brown,
The arts in early England, Bd. 3. 4: Saxon art and industnj in tlie pagan period.
Lond. 1915. Gegen den Vorsuch von H. L. Gray, English fleld sgstetns, Lond. 1915.
nach der Art des Feldsystems (Zwei- und Dreifelderwirtschaft) die Ansiedlungen
z. B. der Angeln und Sachsen zu scheiden, hat P. Viiiogradoff , Oxford Magazine v.
26. Mai 1916, Bedenken geäußert.
Europe (1250 — 1450), Bost. 1917 (setzt 2 frühere Bände des Verf. in knapper Gesamt-
darstellung fort); C. W. Orton, Outlines of mediaeval history, Cambr. 1916.
1) A. Solari, Gli Unni e Attila, Pisa 1916 scheint wortlos zu sein; ebenso
wohl E. Gibbon, The story of the Huns, Lond. 1914; vgl. auch R. Cessi, La crisi
imperiale degli antii 454 — 455 e l'incursione t'andalica a Borna, Arch. stör. Rom. 40,
19i7 ; C. Manfroni, Note critiche sulla storia dei Vandali, Atti e mem. della r. Acc.
di scienze etc., Fadua 1914; S. La Rocca, Lc incursioni vandaliche in Sicilia
440 — 91, Girgenti 1917. — Um zur Abwechselung auch einmal dem Zwerchfell etwas
zu tun zu geben, notiere ich hier die 1918 erschienene Krieg.sschrift von PoiiUney
Bigelow, Genscric, King of the Vandals and ßrst Prussian Kaiser.
2) Von dem 1921 verstorbenen Verf. erschien jüng.st noch ein schmaler 6. Bd.
Vgl. ■/. Mayision, Les origines du rhristianis7ne chex les Ooths, Anal. Bolland. 33,
1914; S. Heinach, Les funerailles d'Alaric, Rev. archüolog., Jan. 1916; C. Cipolla
(t 191G), Ije origini di Venexia, Arch. stör. it. 73, 1915.
20
Die Deutungsversuche für den Namen Germanen kommen nicht
zur Ruhe, so wenig aussichtsvoll es auch ist, für irgendeine Erklärung
allgemeine Zustimmung zu finden. Der Ableitung aus dem Lateinischen
(= die „echten*', nämlich Kelten, mit denen sie ursprünglich zusammen-
gefaßt seien, um dann als wildere, echtere von ihnen geschieden zu
werden) durch Th. BirtJi, Die Germanen, Münch. 1916 setzt Ed. Norden,
S. B. d. Berl. Ak. 1918 die keltische, F. Kluge in Germania, Korr.-Bl.
der röm. -german. Komm. d. deutsch, arch. Inst. 3, 1919, u. Lit.bl. d.
Köln. Zeitung v. 6. Okt. 1918 die germanische Herleitung entgegen^).
Andrer Art und fruchtbarer sind die aus dem Nachlaß von A. Dove
herausgegebenen Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens,
S.B. d. Heid. Ak. 1916. Es ist das umfangreiche, leider bei Beginn
der Merowingerzeit aufhörende Bruchstück einer grundlegenden Vor-
arbeit zu drei Aufsätzen des Vf. aus den Jahren 1890 — 95, die in seinen
kleinen Schriftchen abgedruckt sind, persönlich lehrreich für die gründ-
liche Art, mit der Dove seine manchem vielleicht nur geistreich er-
scheinenden Aufsätze unterbaute, sachlich bemerkenswert namentlich
für das Emporwachsen des nationalen Prinzips in der universalen Welt
des sinkenden Römerreichs-).
In der ältesten germanischen Verfassungsgeschichte sind
insonderheit zwei Probleme dauernd umstritten, zu denen beiden Ernst
Mayer Beiträge geliefert hat.
Einmal die Frage der Zusammensetzung der Hundertschaft. Das Buch Hundert-
schaft u. Zehntschaft nach niederdeutschen Rechten, Heidelb. 1916, sucht entgegen
der Mengetheorie, die v. Amira, v. Schwerin und andre vertreten, nach der das
„Hundert'' keine scharf bestimmte Größe darstellen will, aus englischen und sächsisch-
friesischen Quellen doch das Zugrundeliegeu fester Zahlenverhältnisse, für die die
Geschlechtsverbände bestimmend sind, nachzuweisen, was für unsre ganze Auffassung
von den persönlichen Verbänden der ältesten Zeit und den Schlüssen, die daraus für
die Bevölkerungsdichtigkeit zu ziehen sind, natürlich von erheblicher Bedeutung ist^).
Damit hängt auch die Lösung des andern Problems zusammen, die M. in der Abhand-
lung Zur Lehre vom gcrm. Uradei, Z. f. R., g. A. 37, 1916, versucht. Der Ge-
schlechtsälteste ist es, der zum Adligen und Grundherrn wird, wo mit einem dem
Geschlechtsverband gehörenden Großpfluge gearbeitet wird, während bei Bestellung
mit kleineren Pflügen der Verband sich auflöst. Skandinavischen Quellen werden
hierfür Belege abgewonnen. Wie in anderen Arbeiten des Vf. wirkt auch hier die
gelehrte Heranziehung und Verwertung neuen Rechtsstoffes befrachtend, während den
Folgerungen die letzte Abklärung und Überzeugungskraft abgeht.
Die namentlich von sprachlichen Gesichtspunkten ausgehende Unter-
suchung von G. Neckel, Adel u. Gefolgschaft, Beitr. z. Gesch. d. deutschen
Sprache 41, 1916 kommt zu Ergebnissen, die sich mit denen von
1) R. Muchs Deutsche Stammeskunde (Sammlung Göschen) erschien Berl., Leipz.
1920 in 3 verbess. Aufl.
2) Zur Herleitung des "Wortes „Heide" von fS^tog vgl. E. Schröder, Gott. Anz,
1917, 375 ff.
3) Gegenüber der Ablehnung v. Schwerins Z. f. R., g. A. 37 , 1916 hat sich
E. Mayer Viert, f. Soz. u. Wirtsch. 14, 1918 verteidigt.
21
Ph. Heck berühren, die Edelinge als den Kern des Volkes ansehen und
einen besonderen Vorzugsadel bestreiten ^).
Die sorgfältigen, aber kein lebendiges Gesamtbild ergebenden Stoff-
zusararaenstellungen für die einzelnen deutschen Stämme hat auch in
den letzten Jahren in dankenswerter Weise fortgeführt L. Schmidt, Ge-
schichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Volkerivanderung II
3 u. 4 (Quell, u. Forsch, z. alten Gesch. u. Geogr., Heft 29. ,30), Berlin
1915. 1918 2). Behandelt das erste Heft die suebischen Stämme, ins-
besondere Thüringer und Alaraannen, so leitet uns das andre mit der
Bearbeitung der fränkischen Geschichte bis 561 hinüber in die Mero-
wingeraeit^). Die Forschung war hier beherrscht von der Bereitstellung
und kritischen Durcharbeitung des Qu eilen stofFes. Während auf archäo-
logischem Gebiete für die Erkundung merowingischer Bauten vermittelst
Grabungen noch immer viel zu tun bleibt, und der Krieg selbst da
Anregung bot'^), hat das große, mustergültige Editionswerk der Scrip-
tores rerum Merowingicarum in den Monuraenta Germaniae jetzt unter
den Händen von B. Krusch und W. Levison die Passio7ies vitaegue
sanciorum mit Bd. 7, 1919/20 zum Abschluß gebracht und damit der
Forschung einen Stoff erst recht zugänglich gemacht, der kultur-
geschichtlich noch weiter verwertet zu werden verdient^). Die beiden
wichtigsten Quellen der Merowingerzeit harren freilich noch immer der
endgültigen Ausgabe. An dem Versuche einer befriedigenden Edition
der Lex Salica war 1843 schon G. H. Pertz gescheitert. Von der bald
darauf durch G. Waitz bereits richtig skizzierten textkritischen Grund-
1) Vgl. H. Sehreuer, D. Becht der Toten^ germ. Untersuchung, Z. f. vgl. Rechts-
wiss. 33. 34 (1915).
2) Vgl. auch 0. Fiebiger ii. L. Schmidt, hischriftensammlung x. Gesch. der
Ostgermanen, Denksohriften d. Wiener Ak. d. "Wiss., phiL-liist. Kl. 60, 3, 1917 : eine
willkommene Vereinigung der zerstreuten Inschriften.
3) Das Buch von A. Ealbedel, Fränkische Studien, kleine Beiträge z. Gesch. u.
Sage des deutschen Altertums, Eherings hist. Stud. 132, Berlin 191(i, ist von der
Kritik als wissenschaftlich unbrauchbar abgelehnt. Vgl. auch J. Zoegger, Du lien du
mariage ä l'epoqiie merovingienne , Par. 1915. Von E. Babelons Le Rhin dans
l'histoire behandelt der 2. Teil Les Francs de l'Est: Francs et Allemands, Par. 1917;
vgl. A. Rmid, Wanderungen und Siedelungen der Alamannen, Z. f. G. d. Oberrh.,
N.F. 32 u. 34, 1917/19.
4) Vgl. z. B. G. Weise, Studien x. Entwicklungsgesch. des abeiidl. Basiliken-
grundrisses in den frühesten Jahrhunderten des MA., S. ß. d. Heid. Ak. 1919, auch
oben S. 12. Eine Untersuchung von K. H. Schäfer über Kirchen u. Christentum im
Rheinlande zur röm. u. merow. Zeit ist als 1916 vollendet angekündigt.
5) Zur Genovefalegende, über Abfassung im 8. Jahrb., Merkmale und Zweck der
Fälschung vgl. B. Krusch im N.A. 40, 1915/16. Darstellende Schriften über ein-
zelne Heilige der Merowingerzeit fassen Bekanntes zusammen wie G. Mctlake, The
life and tvritings of saint Columban, Philadelphia 1914 (vgl. N.A. 41, 331); Helena
Concan7ion, The life of Saint Columban, St. Louis 1916; /. J. Laux, D. h. Kolum-
ban, sein Leben und seilte Schriften, Freiburg i. B. 1919 (vgl. P. Lugano, S. Colom-
bano nionaco c scrittore, Perugia 1917) oder kommen als bloße Erbauungsschriften
histori.sch nicht in Betracht. Eine irische Heiligenlegende behandelt quellenkritisch
Gertrud Brüning, Adaninam (Abt von Ili 679—704) Vita Columbae, Z. f. kelt. Philol. 11
(= Diss. Bonn 1916). — Angeschlossen sei hier der Hinweis auf das von AhtJ. Her-
wegen entworfene Lebensbild: Der hl. Benedikt, Düsseid. 1917.
22
läge war der neueste Bearbeiter 31. Krammer unglücklicherweise ab-
gewichen und hatte das bis dahin angenommene Handschrittenverhältnis
nahezu umgekehrt. Br. Krusch war es, der nach der Ablehnung durch
B. Hilliger die gegen die neue, bereits im Druck befindUche Ausgabe
obwaltenden schweren Bedenken philologischer, historischer und rechts-
geschichtlicher Art so wirkungsvoll zum Ausdruck brachte, daß man dazu
Stellung nehmen mußte i). Hand in Hand damit gingen von juristischer
Seite die inhaltlichen Untersuchungen von Cl. Frh. v. Schwerin ^). Bei
der Wichtigkeit der Entscheidung hat die Zentraldirektion der Mon.
Germ, zahlreiche Gutachten maßgebender Juristen, Historiker und Philo-
logen eingeholt, die N. A. 41, H. 2, 1918 veröflfentlicht sind. NatürHch
war auch Krammer Gelegenheit zur Verteidigung seiner Ansicht ge-
geben; seine Entgegnung N. A. 41, H. 1, 1917^) wurde indessen von
K Heymann, N. A. 41, H. 2, 1918 einer eingehenden Widerlegung unter-
zogen. Das Ergebnis dieses gesamten, viel Kraftaufwand erfordernden
Vorgehens, das eben damit jeden Vorwurf einer leichtherzigen Ent-
scheidung ausschließen wollte, war die Kassierung der Krammerschen
Ausgabe und die Übertragung einer neuen an Krusch^). Derselbe an
der Spitze der raerowingischen Forscher Deutschlands stehende Gelehrte
hat überdies die namentlich in sprachlicher Hinsicht dringend notwendige
Neuausgabe der Frankengeschichte Gregors von Tours übernommen.
Hoffentlich ermöglichen es bis zu deren Erscheinen die allgemeinen Ver-
hältnisse auch eine Schulausgabe zu erschwinglichem Preise herauszu-
bringen, die uns endlich von der Benutzung des unzulänglichen fran-
zösischen Handschriftenabdrucks '") befreit ^) ! Derselbe Forscher hat Gott.
1) N.A. 40, 1916; vgl. auch Gott. Nachr. 1916 u. Z. f. R. g. A. 36, 1915.
2) N. A. 40, 1916.
3) Vgl. auch seinen Versuch, seine Auffassung des Handschriftenverhältnisses
an dem Beispiel der Titel De filtorto und De vestigio miuando darzulegen in Z. f. R.,
g. A. 36, 1915.
4) Vgl. zur Lex Salica: G. Seeliger, D. Lex Salica ti. König Chlodowech, Arch.
f. Urk.forsch. 6, 1918, wo in eingehender Prüfung des ersten, längeren Prologs fest-
gestellt wird, daß eine Beziehung der Lex auf Chi. als Urheber außer durch diesen
späten unmaßgeblichen Prolog quellenmäßig nicht bezeugt ist, was natürlich innere
Gründe dafür nicht ausschließt. Vgl. auch E. Ooldmarm, Beiträge %. Interpretation
der Kapitularien zur Lex Salica, M. I. ö. G. 36, 1915. Wesentlich für die Erklärung
der ältesten fränkischen Rechte ist endlich die Abhandlung von E. Mayer, Zum früh-
mittelalterlichen Münxwesen u. der angeblichen karolingischen Bußreduktion, Viert,
f. 8oz. u. Wirtsch. 13, 1916, wo ausgehend von angelsächsischen Verhältnissen ver-
sucht wird, die schwierigen Fragen der fränkischen "Währung einfacher, ohne die
Hypothesen von Bußreduktion oder Währungsänderung zu lösen.
5) In der neuen Bearbeitung R. Poupardins von 1913 habe ich sie noch nicht
6) G. Kurtli y-\ 1916), Etudes franques, 2 Bde., Paris 1919, vereinigt über-
arbeitete ältere Abhandlungen zur merowingischen Geschichte mit 6 neuen (Les
nationalites en Touraine au VL siecle, Les senateurs en Gaule au VI. siecle. De
l'autorite de Gregoire de Tours, Le bapteme de Clovis, Les traditions du VI. siecle
sur Tapostolicite de S Denis de Paris, Le Vita S. Lamberti et M. Krusch). Nach der
Anzeige Pirennes, Moyen ilge 30, 1919, ist in einigen der Ton gegenüber der deut-
schen Wissenschaft stark durch die politisch-miütärischen Ereignisse beeinflußt.
23
Nachr. 1916 die Entstehung von Marculfs Formelsammlung in dem zu
Austrasien gehörigen Meaux um 721/22 nachgewiesen und textkritische
Erörterungen hinzugefügt. Gegenüber der wesentHch durch ihn fest-
gestellten Anschauung über die Dreiteilung der Chronik des sog. Fredegar
hat F. Lot, Fncore la clironiquc du Pseudo-Freclcgaire, Revue bist. IJo,
1914, die Einheithchkeit der beiden ersten Teile (bis 613 und bis 642)
mit sehr beachtenswerten Gründen darzutun versucht; vor 613 müssen
dann großenteils verlorene Quellen benützt sein.
Darüber hinaus ist Lot geneigt anzunehmen, daß der burgundische Verfasser in
austrasische Dienste getreten sei und erst da um 660 die gesamte Kompilation an-
gelegt habe, so daß diese letzten Endes doch ein einheitliches Werk sei, und die
widerspruchsvollen Auffassungen darin auf die ausgezogenen Quellen zurückzuführen
seien. Diese Ausführungen, die auch B. Krusch N. A. 39, 1914, S. 548 mit Anerkennung
angezeigt hat, haben durch ihre verhältnismäßige Einfachheit viel Bestechendes, wenn
sie auch nicht alle Schwierigkeiten zu lösen vermögen.
Daß die quellenkritischen Untersuchungen so sehr im Mittelpunkt
der merowingischen Forschungen stehen, ist sachlich wohlbegründet;
denn bei der Dürftigkeit der Überlieferung sind neue Ergebnisse fast
nur noch auf diesem Wege zu erzielen ^). Immerhin zeigt eine IStudie,
wie die von R. Koebner, Venantius Fortunatus, seine Persönlichheit
und Stellung in der geistigen Ktdtur des 3Ierov in gerreiches (Beitr. z.
Kult. 22), Berl. Leipz. 1915, daß eine feinsinnige Zusamm.enfassung der
kritischen Einzelergebnisse, namentlich wo es sich um kulturelle Be-
ziehungen handelt, sehr anregend wirken kann -).
Gelegentlich gelingt es auch wohl, auf neuem Wege neue Anhalts-
punkte zu gewinnen. Es mag da etvsa der Patrozinienforschung
gedacht werden, die ja der ältesten Missionsgeschichte vornehmlich zu-
gute kommt; denn die Ausbreitungsbezirke bestimmter Heiligen als
Kirchenpatrone gestatten Schlüsse auf die Wirksamkeit bezüglicher
Landesmissionen. Aber auch zur Erkenntnis des Eigenkirchen wesens
ist es nützlich, etwa auf fränkischem Fiskalgut die Martinskirchen, in
den Gebieten geistlicher Körperschaften die Verbreitung des betreffen-
den Stifts- oder Klosterheiligen als Patron zu verfolgen. Auch M-eiter-
hin bis in das Kreuzzugszeitalter hinein vermag die Patrozinienforschung,
über die J. Dorn im Arch. f. Kulturgesch. 13, 1917 unter Hinweis auf
die bisherigen Arbeiten zusammenfassend gehandelt hat, bescheidene,
aber willkommene Ergebnisse zu erzielen •'). Daß die möglichst genaue
1) Th. Fern', L'idce de patrie cn France de Clorls ä Cl/arlcmagne, Le Moyen
äge 30, 1919, stellt einen wenig überzeugenden Versuch dar, das objektiv ja un-
zweifelhafte Zusammenwachsen der Jvassen zu einem Gesamtvolk auch als zunehmen-
des bewußtes Vaterlandsgefühl aus den Quellen zu erweisen.
2) Vgl. li. Anjrmti^ Sainte h'adeyonde, Paris 1917, trotz des Erscheinens in der
Sammlung „Los Saints'' als wissenschaftlich brauchbar kritisiert. Von M. Könnecke,
Das alte Ihürim/üche Königreich und sein Untergang 531 n. Chr. erschien Querf.
1919 eine neue Auflage.
3) Vgl. den ähnlichen Überblick über Aufgaben und Ergebnisse dieser Patrozinien-
forschung von E. nennecke, Z. f. Kirchengesch. 38, 1920. Weitere regionale Studien
derart z. B. von dcius. für Niedersachsen, Z. d. Ver. f. Nieders. 85, 1918; von
L. Bönhoff iw d. Künigr. Sachsen in Beitr. z. sächs. Kirchengesch. 31, 1918. Vgl.
24
Zusammenstellung der Bischofslisten dem Forscher wichtige Dienste
leistet, versteht sich von selbst. Von L. Dnchesnes anerkannten Fastes
episcopaux de Vancienne Gaule erschien 1915 Bd 3, der den Norden
und Osten Galliens (also die für die deutsche Geschichte wichtigen Pro-
vinzen Trier, Reims, Mainz, Köln, Besan9on) behandelt und damit das
Werk zum Abschluß bringt, das auch durch das Namenregister aller
erwähnten Bischöfe dem Forscher für die gesamte fränkische Epoche
gute Dienste leisten wird. Von der Gallia chrisfiana novissima, hrsg.
v. U. Chevalier, erschien Bd. 6: Orange, Valence 1916^).
Der Gegenpol der Macht in der Merowingerzeit war Byzanz. In
den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkriege war die Forschung da in
internationalem Zusammenwirken reich und fruchtbar. Wer sich darüber
unterrichten will, mag den anregenden Vortrag von E. Stein, Die hy-
zantinische Geschichtswissenschaß im letzten halben Jahrhundert in Neue
Jahrb. f. d. klass. Alt. usw. 43, 1919, zu Rate ziehen. Auch die Auf-
zählung der neueren Monographien zur byzantinischen Geschichte vom
7.— 15. Jahrb., die E. Gerland, Hist. Z. 114, 1915, S. 346 ff. gegeben
hat, kann als Ausgangspunkt dienen^). Und die neueste kurze Ge-
samtdarstellung^) ist die im 4. Bde. der 2. Aufl. von Helmolds Welt-
geschichte (vgl. oben S. 19), abgeschlossen im wesentlichen 1914, ge-
druckt Leipz./Wien 1919, verfaßt von dem bald darauf im Dez. 1919
verstorbenen M. v. Scala. Der Band behandelt auch die übrigen Völker
des südöstlichen Europa'^).
Da die byzantinische Wirtschaftsgeschichte im Zusammenhang bisher
wenig behandelt worden ist, so ist es wertvoll, den darauf bezüglichen,
wenn auch aus zweiter Hand gearbeiteten, so doch recht lebendigen
Abschnitt der wirtschaftsgeschichtlichen Vorlesungen zu besitzen von
L. Brentano, Die byzantinische Volkswirtschaft in Öchmollers Jahrb. 41,
1917 ^).
Sonst sind die Beziehungen des Staates zur Kirche am meisten be-
handelt. Ein großes, auf 8 umfassende Bände berechnetes Unternehmen der
Straßburger Wissenschaftlichen Gesellschaft, deren Fortarbeit auf deut-
schem Boden glücklich gesichert ist, soll die Akten der ökumenischen Kon-
zilien (^Acta conciliorimi oectwienicorw») mit den zugehörigen Urkunden
für den Zeitraum von 431 — 879 zur Ausgabe bringen s). Ein Volumen
auch M. Benxerath, Die Kirchenpatrone der alten Diözese Lausa7ine im MA., Fi'eib.
i. Schw. 1914.
1) Vgl. J. Zoegger, Du lien du mariage ä l'epoque tnerovingienne , Paris 1915.
2) Vgl. auch die laufende Berichterstattung in der Rev. hist. 117, 1914.
3) Auch von K. Roths Geschichte des byzantinischen Reiches (Samml. Göschen)
erschien, Berlin 191^, eine auf zwei Bändchen erweiterte Neuauflage.
4) Zur Gesch. der Stoivcnen vgl. die sehr gründliche Studie von L. Hatiptmann,
Polit. Umu-ähungen unter d. Slowenen v. Ende des 6. Jabrh. bis z. Mitte des neunten,
M. I. ö. G. 36, 1915, auch betreffs der karolingischen Politik u. Organisationen ihnen
gegenüber.
5) Zur Kontrole vgl. aber L. M. Hartmann, Ein Kapitel vom spätantiken und
frühmittelalterl. Staate, Berl. 1913.
6) Die Berl. Diss. von Oeorgine Tangl, Die Teilnehmer a. d. allg. Konzilien
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des 4. Gesamtbandes: Concilium universale Coiistantinopolitanum suh
Justininno (553) hahitum ed. Ed. Schwartz, Straßb. 1914 mit zahlreichen
Dokumenten über den Dreikapitelstreit usw., die Justinian als Theologen
beleuchten, hat das Wei'k vielversprechend eröffnet. Die Kaiserin Theo-
dora als Beschützerin ketzerischer Mönche des Orients und dadurch
Erhalterin des Monophysitismus schildert L. T)uches7ie, der nach seinen
iStudien über die Kirchenpolitik der Kaiser Anastasius und Justin nun
auch die Zeit Justinians ^) erreicht hat, in dem Aufsatz Les proteges de
Theodor a in Melange« d'archeol. et d'hist. 35, 1915. Die beiden Nach-
folger Justinians behandelt in vorzüglicher Darstellung mit tiefeindringenden
Untersuchungen zur Verwaltungs- und Finanzgeschichte jener Zeit E. Stein,
Studien zur Geschichte des hyzantinischen Reiches vornehmlich unter den
Kaisern Jiistinus IL und Tiherius Constantinus , 8tuttg. 1919. Ein
zugleich kirchenpolitisches und dogmengeschichtliches Kapitel hat gleich-
zeitig mit V. kSchubert (s. oben Ö. 5) sehr ins einzelne gehend aus-
gearbeitet W. M. Peitz S. J., Martin I. und Maximus Confessor, Bei-
träge z. Geschichte des Monotheletenstreites 645 — 668, Hist Jahrb. 38,
1917 2). Damals hatte bereits der Siegeszug des Islam begonnen, der
die Weltstellung des byzantinischen Reiches einengte und gründlichst
umwandelte. Über die wichtige Losreißung Ägyptens hat unter Aus-
beutung der neueren Papyrusforschung, koptischer und arabischer Quellen
neues reiches Licht verbreitet der Agyptologe Em. Amelineau (f 1915),
des MA., Weimar 1916 liegt mir nur im Teildruck bis zur Karolingerzeit vor, das
Ganze nach der Inhaltsübersicht bis 1215.
1) Vgl. ders., Les Schismes Romains au VI. siede, Mel. d'arch. et d'hist., Juni
1915; auch W. Pudor, Byxanx, u. d. Ermordung der Amalasuntha, Deutsche
Gesch.-Bl. 15, 1914.
2) Die reichen Arbeiten französischer Gelehrten auf dem Gebiete der byz. Gesch.
sind in Deutschland meist noch nicht zugänglich. Vor allem hat Ch. Diehl, Byxance,
fjrandeur et dccadence, Par. 1919 (mit den Abschnitten: Entwicklung, Ursachen von
Größe und Verfall, Kultur, Erbschaft) die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte,
die uns an Stelle gleichmäßiger Erstarrung überall den bewegten "Wechsel von Höhen
und Tiefen haben erkennen lassen, großzügig und knapp zusammengefaßt und gezeigt,
wie der Schwerpunkt der Kraft sich mehr und mehr nach Kleinasien verschiebt. Dazu
von de?)is., Eistoire de l' Empire bijxantin, Par. 1919; Dans V Orient bijxantin, Pai".
1917 (eine Sammlung bezüglicher Artikel, großenteils kunstgeschichtlicher Art, bis hinein
ins lateinische Kaisertum) und z. 8. Jh.: Uiie vie de Saint [Etierme de Auxence) de l'epoque
des empereurs iconoclastes, Comptos read, de l'Ac. des Insor. et bell. Lettr., 1916. —
Ferner die Arbeiten von L. Brekier, L' hagiographie hyxantine des VIII e IX siecles,
Journ. d. Sav., Bd. 14. 15, 1916/17 und La transformation de VEmpire byxantiti
soics les Ilernclides, ebd. Bd. 15, 1917. Die französische Forschung stützt sich hier
weitgehend auf das grundlegende russische "Werk von J. Koulakovsky , Istoriia Vi-
xantii, Bd. 3 (602—717), Kiew 1915, wo zur inneren Gesch. namentlich die langsame
und uneinheitliche Entwicklung der Themenverfassung dargestellt ist (vgl. Besprechung
Rev. bist. VIH^ 1918); von dems. auch eine kritische Studie über Theophnncs, in
Vizantijski Vrumennik, Bd. 21. — J. Ebersolt, Melanges d'histoire et d arclieologic
byxantines,Va.i-. 1917, enthält eine bemerkenswerte Skizze der Entwicklung des byzan-
tinischen lloflebens und Zeremoniells. In die spätere Zeit reicht: G. Schlimiberger,
liccils de Byxauee et des croisades, Par. 1916 (Veieinigung von Artikeln, die Byzanz
und den lateinischen Orient vom 7. — 13. Jh. betreffen. Endlich die englische Dar-
stellung von E. Eoord, The byxaniine empire, Lond. 1915.
26
Lct, conquete de VEgypte par les Ärahes, Revue bist. 119. 120, 1919^)
Sonst war die Forschung zur frühen Geschichte des Islam während der
Kriegsjahre nicht allzu ergiebig -).
Wollen wir hier endlich noch einen Sprung voraus in spätere Zeit
machen, so mag der Hinweis erwünscht sein, daß JaJc. J3urcJchardt in
seinen Basel (seit 1918) in mehr. Auflagen herausgegebenen Vorträgen
von 1844 — 1887, wo übrigens auch die Beziehungen Papst Gregors
d. Gr. ^) zur Stadt Rom behandelt sind, ein fesselndes Kulturgemälde
von Bt/mnz im 10. Jahrh. mit seinen bei allen Schrecken noch immer
bedeutenden Leistungen entworfen hat.
Die Beschränkung auf ein nationalgriechisches Gebilde, die Byzanz
seit dem 7. Jahrh. erfahren hatte, gab im Abendlande der Weltstellung
der Karolinger Raum zur Entwicklung. Hier haben nicht Editions-
aufgaben, wie für die Merowingerzeit letzthin im Mittelpunkt der For-
schung gestanden; denn wenn wir auch noch die abschließenden Aus-
gaben der Karolingerurkunden und Konzilsakten der Spätzeit, des Liber
pontificalis seit 715, der großen Kapitularien- und Dekretalenfälschungen
aus der Mitte des 9. Jahrh. und so manches andre zu erwarten haben,
so gestattet doch schon das Vorhandene einen vorläufig hinreichenden
Überblick '^). Vielmehr war es gerade eine neue kritische Durcharbeitung
des gesamten, namentlich urkundlichen Stoffes, die Ä. Dopsch in seiner
WirtschaftsentwicMung der Karolingerseit, vornehmlich in Deutschland,
1) Vgl. J. Laurent, JuArmenie entre Byzance et V Islam depuis la conquete
a/rabe jusqu' en 886 (Bibl. des Ec. fran(;-. d'Ath. et de Roma fasc. 117), Par. 1919.
2) Von Cl. Huarts Handbuch der Histoire des Arabes (bis zur Gegenwart), das
sich gegenüber dem älteren deutschen Werk von A. Müller, Der Islam im Morgen-
u. Abendland in engerem Rahmen hält und es auch da nicht eigentlich übertrifft,
erschien Leipz. 1914/15 eine deutsche Übersetzung von S. Beck u. M. Färber; von
L. Gaetanis Siudi di storia Orientale enthält Bd 3, Mail. 1914, Das Leben Mo-
hammeds, die Anfänge des Kalifats und die Eroberung Arabiens. Von desselben,
Annali deW Islam erschien Bd. 8: daW anno 33 al 35^ Mail. 1918. Vgl. auch
A. Baladimri, The origins of the Islamic state, Übersetzung aus dem Arabischen von
P. K. Hittin, Westminster 1916; O. M. Drayeott, Mahomet founder of Islam, New
York 1916; 0. Andrae, Die Person Muhammeds in Lehre u. Glauben seiner Gemeinde,
üpsala 1918.
3) Vgl. auch E. Spearing, The Patriynony of the Roman Church in the time
of Gregory the Great, ed. by Evelyn M. Spearing, Edinb. 1918.
4) Zur älteren Langobardengeschichte wäre folgendes zu vermerken : Th. Hodg-
kins Ttaly and her invaders, Bd. 5 u. 6, hat in der zweiten, vom Sohne B. H. Hodgkin
besorgten Aufl., Oxf. 1916, nicht sehr erhebliche Zusätze und Berichtigungen nach
den Notizen des Vaters erhalten. R. Morghen, II palinsesto assisi^nse della Historia
Langobardorwn di Paolo Diacono, Rom 1918; Paulus Diaeonus, Eist. Lang. 1. 1 — 3,
Rom 1919; Pauli Diaeoni Historia Romana ed. A. Crivellucci {f 1914), in Fonti
p. 1. stör. d'It. 51, Rom 1914 (soll in Text und Quellennachweis die Monumenten-
ausgabe etwas verbessern). R. Cessi, Per la storia del regno di Alboino und Le
priyne conquiste longobarde in Italia, Venedig 1916. 1918 (N. Arch. Ven); A. Ro-
viglio , Intorno alla storia dei Longobardi, (Jdine 1916, setzt mit C. Cipolla den
Einmarsch der Lgb. in Italien zu 569, den Tod Alboins eher zu 572, als zu 573.
F. Tarducci, L'Italia dalla discesa di Alboino alla rnorte di Agilulfo, Cittä di Castello
1914 stellt sich vielfach in Gegensatz zu herrschenden Meinungen, wird aber von
der Kritik ungünstig beurteilt.
27
2 Bde., Weimar 1912/13, zu starken UrawandluDgen und Umwertungen
der herrsehenden Anscliauungen geführt hatte, eine Arbeit, die für die
Merowingerzeit noch erst zu erwarten ist. Da diese bedeutende Leistung
und ihre erste Aufnahme in der Gelehrtenwelt schon vor den Welt-
krieg fallen, so genügt hier die Bemerkung, daß eine Auseinander-
setzung damit die Forschung lebhatt beschäftigt hat und noch weiterhin
beschättigen wird. Im allgemeinen haben die höheren AVertungen für das
Gebiet des Handels und Verkehrsleben einmütigere Zustimmung ge-
funden, als die agrar- und sozialgeschichtlichen Umdeutungen, über
welche die Erörterung noch nicht überall zum Abschluß gekommen ist,
Selbst die einleuchtende Lokalisierung des Capitulare de villis^)
nach Aquitanien mit der starken Einschränkung seiner Geltung hat mehr-
fachen Widerspruch erfahren, namentlich von philologischer Seite, wo
in der Sprache nordfranzösische Elemente betont werden '^). Es ist in-
dessen zweifelhaft, ob hier der Philologie das letzte Wort gebührt und
nicht vielmehr rechts- und wirtschaftsgeschichtlichen Erwägungen. Dopsch
selbst hat seine Auffassung wiederholt mit Glück verteidigt, in Spuren
westgotischen Rechtes neue Stützen für sie gewonnen ( Wesfgoi. Recht
im Cap. de villis, Z. f R. g. A. 36, 1915), u. a. auch den bekannten
Bauplan von S. Gallen mit der Klosterreform Benedikts von Aniane
816/17 auf dem Wege über Inden-Reichenau in Beziehung gesetzt und
damit in den Kreis dieser südfranzösischen Schriltstücke hineingezogen
{Das Cap. de vUlis, die Brevium Exempla u. der Bauplan v. S. Gallen,
Viert, f Soz. u. Wirtsch. 13, 1916, S. 4lff. u. ebda, mit Bestätigung von
kunstgeschichtlicher Seite her, S. 609 ff. •^).)
Es sind nicht nur die von v. Inama- Sternegg vor einigen Jahr-
zehnten (seit 1879) zum erstenmal darstellerisch zusammengefaßten wirt-
schaftsge.schichtlichen Ergebnisse, die nach manchen andern Angriffen
nun von Dopsch großenteils völlig umgerannt sind, sondern auch manche
rechtsgeschichtlichen Vorstellungen, die seit Brunners klassischem Werk
zum eisernen Bestand unserer Kenntnisse zu gehören schienen, werden
von ihm und in zunehmendem Maße auch von andern in Frage gestellt.
So hat E. Mayer in der Festgabe für R. Sohm, München- Leipzig 1914,
die entscheidende Einwirkung der Araberkriege auf die Entstehung des
Lehenswesens und die seit Roth angenommene Bedeutung der divisio
1) Vgl. W. Fleischmann, Capitulare de villis lel curtis impcrii Caroli Magni,
Berlin 1919; A. Kuem7nel, Die La7idgiUerordnung Kaiser Karls d. Or., Z. d. berg.
Geschichtsvpr. 51 druckt, ohne die Forschung von Dopsch zu berücksichtigen, nach
einer Einleitung den lateinischen und deutschen Text mit Wortregister, Glossar und
ausführlichen Erläuterungen.
2) Vgl. insbesondere die gelehrten Darlegungen von O. Batst, Viert, f. Soz.
u. Wü-tsch. 12, 1914. Ebenso J. Jiid u. L. Spitzer in der Zeitschr. AVörter u. Sachen 6,
1914. Ganz einmütig ist jedoch die philologische Beurteilung nicht, vgl. E. Winkler,
Z f. rom. Phil. 37.
3) Vgl. K. Gareis, Die Familia des Cap. de V., in Festschr. f. G. Cohn, Zur.
1915. Ferner zur Handelugeschichte der ausgehenden Karolingerzeit: K Schiffmann,
Die Zollurhmde ron RaffclsteUen (um 900), M. I. ö. G. 37, 1917, Abdruck mit zweifel-
haften Verbesserungen und Erläuterungen.
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des Kirchengutes dafür bezweifelt und ein allmähliches Zusammenwachsen
von Vasallität und Benefizialwesen ohne erheblichen Einfluß des Staats
und mit anderer Vorgeschichte angenommen, eine Ansicht, der auch
Dopsch nicht fernsteht (M. I. ö. G. 36, 24). So hat ferner in einer
tiefgrabenden Forschung H. Glitsch, Der alamannische Zentenar und
sein Gericht (Bericht üb. d. Verhandl. d. kgl. sächs. Ge|. d. Wiss. zu
Leipzig, phil.-hist. Kl. Bd. 69) 1917 versucht, das bisher angenommene
Verhältnis von Graf und Hundertschafts Vorsteher umzuwandelu, indem
er dem letzteren auch die Möglichkeit des Vorsitzes im ungebotenen
Ding, selbst in causae maiores, ohne diese freilich zum vollstreckbaren
Urteil zu bringen, zuschreibt. In diesen Zentenargerichten erblickt er
Keim und Mittelpunkt der späteren Allodialherrschaften, in dem Allodial-
grafen den einstigen Zentenar.
So gründliche Untersuchungen verdienen natürlich ernstlichste Be-
achtung und Nachprüfung, und daß sich die deutsche Rechtsgeschichte
nie aus Scheu vor Trübung des klar herausgearbeiteten Bildes auf eine
Konvenienz festlegen darf, versteht sich von selbst. Im übrigen aber
ist gerade in unserer Zeit die Mahnung vielleicht nicht überflüssig, man
möge nicht ohne die gewichtigsten Gründe an dem doch mit großer
Umsicht und Sorgfalt gefügten älteren Bau rütteln, da wir uns ein
nutzloses Abbröckeln und Wiederzusammenkitten , ein Herumbewegen
der Forschung im Kreise jetzt noch viel weniger als früher leisten können ^),
Andere Studien setzen denn auch mehr die von früher her ge-
wiesene Richtung fort. Von den Leges Saxonum und der Lex Thu-
ringorum (= Angliorum et Werinorum idest Th.) hat Gl. Frhr. v. Schiverin
für die Oktavserie: Fontes iuris Germanici antigui der Mon. Germ, auf
Grund je der besten Handschrift eine Neuausgabe zum Ersatz der alten
Folioedition herausgegeben. Die sächsischen Verfassungsverhältnisse der
vorkarolingischen Zeit haben durch die Entdeckung der ältesten Vita
des hl. Lebuin (vgl. Nederlandsch Archief voor Kerkgeschiedenis 1909)
eine merkwürdige Beleuchtung erfahren; denn man darf nun nicht mehr
an der bisher nur durch die jüngere Vita des 10. Jahrh. überlieferte
Stammesversammlung aller Sachsen zweifeln, an der sich neben den
Fürsten Vertreter von je 12 Edelingen, Freien und Laten aus jedem
Gau beteiligten. Darauf hat Ä. Hofmeister, Über die älteste Vita Lebuini
u. die Stammesverfassung der Sachsen in Geschichtl. Stud. f A. Hauck,
Leipzig 1916, hingewiesen und gegen Anzweiflung von L. Schmidt in
Korr. d. Gesamtver. 64, 1916 seine Ansicht in dem Aufsatz: Die Jahres-
versammlung der alten Sachsen zu Marhlo, Hist. Z. 118, 1917 erfolgreich
verteidigt. Neben der verfassungsmäßigen Einheit der alten Sachsen ist
1) Nach der scharfen Zurückweisung von M. Petit-Dutaillis, De la signißcation
du mot „foret^^ ä l'epoqiie franqiie, Bibl. de TEc. d. Ch. 76, 1915 ist zu den ab-
wegigen Thesen auch zu rechnen die von H. T/mmne, Forestis, Königsgut u. Königs-
recht, Arch. f. Urk. 2, 1909. Gegenüber seiner Deutung als Aussonderung aus der
gemeinen Mark zu Sonderbesitz bleibt es bei der früheren Auffassung als Reservation
für Jagd und Fischfang. Vgl. auch M. Prou, La foret en Angleterre et en France,
Journ. d. Sav. 1915, Juni/August.
29
bemerkenswert vor allem der ständische Vertretungsgedanke, wie er hier
zuerst hervortritt. Unwillkürlich werden wir daran erinnert, daß die
stammverwandten Angelsachsen später dies Repräsentationssystem über
die ganze Erde verbreiten sollten. Eben zu einer Zeit, in der zwischen
ihnen und uns alle Bande zerrissen waren, hat ein deutscher Gelehrter
F. Liehenuann sein großes, im Auftrag der Savignystiftung heraus-
gegebenes Werk Die Gesetze der Angelsachsen mit einem 3. Bande, der
eine Einleitung zu jedem Stück und Erklärungen zu einzelnen Stellen
bringt, Halle 1916 zum Abschluß geführt und damit eine Forschungs-
arbeit vollbracht, wie sie jenseits des Kanals für die nationale Geschichte
kaum in gleichem Werte hätte geleistet werden können i). Auch die
Berl. 1919 abgeschlossene Ausgabe der Werke AldJielms von R. Ehwald
in M. G. Auct. antiquiss. XV, die ihre Vorgänger weit übertrifft, darf
in ähnlichem Sinne hier genannt werden.
Nächst den wirtschafts- und verfassungsgeschichtlichen Problemen,
deren Erörterung neu in Fluß gekommen ist, steht im Mittelpunkte
unserer Anteilnahme an der karolingischen Geschichte noch immer das
Verhältnis von Staat und Kirche. Auf dem sicheren Grunde, den die
großen Forscher der vorigen Generation gelegt haben, ist hier die Arbeit,
ohne zumeist überraschende und umstürzende Ergebnisse zu erzielen,
doch in stetigem Fortschreiten begriffen. Aus der älteren Zeit hat der
Gründer der deutschen Kirche, Bcniifaz, obwohl die Hauptlinien seines
Wirkens längst so festgestellt sind, daß sie nicht mehr verschoben werden
können, die Forschung noch immer lebhaft beschäftigt -).
M. Tangl (f 1921), der B.s Briefe für die Geschichtschreiber der deutschen
Vorzeit, Nr. 92, 1912, in Übersetzung bearbeitete, kam dabei mehrfach zu neuen Er-
gebnissen und konnte in der Oktavserie der Epistolae seledae T. I der Mon. Germ, eine
gegenüber der letzten Dümmlerschen nicht unerheblich verbesserte Ausgabe der
.S'. Bonifalii et LulU epistolae, Berlin 1916, vorlegen. Im N. A. 40. 41, 1916. 1917
veröffentlichte er Studien dazu, die die Textgeschichte endgültig darlegen und bei
einer Reihe von Stücten Umdatierungen begründen. Mit //. Böhmer, Zur Öeschichte
1) R. L. Poole, The. chronology of Bede's „ Ilistoria ecclesiastica" and the Councils
of 670— 680 stellt zum Leben Wilfrids von York einige Daten fest; H. Hotvorth,
The golden days of the carly english chiirch from the arrival of Theodore to the
death of Bede, 3 Bde., Lond. 1917, beruht weitgehend auf dem älteren knapperen
AVerke von W. Bright. In diese Epoche gehört auch die „Vermählung christlichen
Inhalts mit germanischer Form", die im sächsischen Heliand des 9. Jahrb. nachwirkt,
vgl. A. Hciisler, Heliand, Liedstil u. Epenstil, Z. f. d. Altert. 57. li. L. Poole,
St. Wilfrid and the see of Eipon, Engl. bist. Rev. 34, 1919 sucht die Bischofszeit
AV.s auf den verschiedenen Sitzen Ripon, York, Leicestor festzustellen, sowie das
Todesdat.um zu 709 (geg. W. Levison 710). H. A. Wilson, The calendar of St. Willi-
brord, Oxf. 1918, Engl. bist. Rev. 34, 119, gibt den Kalender heraus, in den Willi-
brord eigenhändige Einträge gemacht hat; W. Lampen, Sint Willibrord^ Utr. 1916.
/''. M. Stenton, The stipremaey of the Mercian Kings, Engl. bist. Rev. 33, 1918,
schildert an den Titeln der Urkunden die Entwicklung zum Einheitskönigtum. Bcatriee
A. Lecs, Alfred the Great, the thriähtcller , makcr of England S4S — S99 , Newyork
1915, wird als brauchbare Einführung in den gegen wäi'tigen Forschungstand über den
oft dargestellten Ilcirrscher gerühmt; populär: A. E. Mac Killiam, The story of A.
the Or., Lond. 1914.
2) K. 0. Müller bespricht N. A. 41 , 1919 das neugefundene Bruchstück einer
(der ältesten) Handschrift der Vita S. Bonifatii von Otloh.
30
ies Bonifatius, Z. d. Ver. f. hess. Gesch. u. Landesk. 50, 1916, wo die "Wirksamkeit
des Apostels in Hessen klar herausgearbeitet ist, setzt sich Tangl, Bonifatiusf ragen,
Abh. d. Berl. Ak. 1919, auseinander und rechnet ebd. mit F. J.Bendel, Shulien %ur ältesten
Oeschichte der Abtei Fulda, Bist. Jahrb. 38, 1917 ab, der die Gründungsgeschichte
Fuldas auf ganz neue Grundlage stellen wollte, weil er die Vita Sturmi von Eigil,
von der zufällig keine alte Handschrift mehr vorliegt, grundlos entwerten zu müssen
glaubte ^).
Auch für unsere Kenntnis von den Anfängen des Erzbistums
Hamburg - Bremen und der nordgermanischen Mission glaubte W. M.
Peitz, S. J., Rimberts Vita Anskarü in ihrer ursprünglichen Gestalt,
Z. d. Ver. f. Hamb. Gesch. 22, 1918, ein neues Fundament gefunden zu
haben, indem er die kürzere Form jener Vita, die man bisher für eine
tendenziöse Bearbeitung des 11. Jahrb. zugunsten der seit Erzbischof
Adalbert betriebenen Ausdehnungspläne hielt, als die ursprüngliche zu
erweisen suchte, womit dann die überschüssigen Teile der sonst für echt
gehaltenen ausführlichen Vita als spätere, unzuverlässige Zusätze entwertet
würden.
In weiteren Untersiielmngen zu Urkundenfälschungen des MA. I: Die Ham-
burger Fälschungen (Ergänzungshefte zu „Stimmen der Zeit" II, 3), Freib. i./Br. 1919,
kam er auf die Überlieferung der Vita Anskarü zurück und zog aus der neuen Sachlage
seine Folgerungen für die Beurteilung der sonst für Fälschungen gehaltenen ältesten
Hamburger Papsturkunden, für Adam von Bremen und die nordische Missionsgeschichte;
der Legationsbereich der Hamburger Kirche sollte danach schon im 9. Jahrh. bis ans Eis-
meer erstreckt sein. Die Richtigkeit dieser grundlegenden quellenkritischen Umkehrung
wurde sofort von W. Leviso?i und Ä Schmeidler, N. A. 41, S. 769 ff., 1919, bestritten
und ist dann von ersterem Z. d. Ver. f. Hamb. Gesch. 23, 1919, gründlichst wider-
legt worden. Dieser Versuch einer Umgestaltung herrschender Ansichten hat sich
daher trotz Scharfsinn und Gelehrsamkeit als unfruchtbar erwiesen und gehört zu
denen, die künftig wegen Kraftvergeudung möglichst vermieden werden sollten.
Für die neuen Beziehungen zwischen Staat und Kirche in der
Karolingerzeit 2) schuf Bonifaz wohl die unentbehrlichen Grundlagen,
aber den eigentlichen Ausgangspunkt bildet doch erst Pippins ^) Bund
mit dem Papsttum von 754. Darüber und über die zusammenhängenden
Probleme der karolingischen Schenkungen und der Anfänge des Kirchen-
staats besteht bekanntlich eine sehr ausgedehnte, namentlich seit den
1) Zur älteren deutschen Missionsgeschichte seien die folgenden kleinen Arbeiten
notiert: L Zoepf, Lioba, Hathumot , Wibotada, Münch. 1915: Kl. Löffler, D. An-
fänge des Christentums im späteren Bistmn Münster i. W., Mitt. d. Ver. f. Gesch.
Westf. 9, 1918; F. Vetter, S. Otmar, d. Gründer u. Vorkämpfer des Klosters S. Gallen
(t 759), Jahrb. f. Schweiz. Gesch. 43, 1918; dazu 0. Scheitviler, Z f. Schweiz.
Kirchengesch. 13. Vgl. auch A. M. Koeniger, D. Militärseelsorge der Karolingerxeit,
Veröff. aus d. kirchenhist. Sem. München, 4. Reihe, Nr. 7, Münch. 1918. Populär:
Th. Hänlein, Die Bekehrung der Germanen xtmi Christentum,, I: Die Bekehrung der
Frauken u. Angelsachsen ( Voigtländers Quellenb. 78), Leipz. 1914. Ich notiere hier
auch A. Hofmeister, Weißenburger Aufxeielinungen vom Ende des 8. u. Anf. des
9. Jh., Z. f. G. d Oberrh., N. F. 34, 1919.
2) Vgl. A. Pöschl, Der Ncnbruchxeheyit , Arch. f. kath. Kirchenrecht 98, 1918,
wo die Entwicklung dieser Abgabe von der Karolingerzeit bis in die Neuzeit ver-
folgt wird.
3) B. Sepp, Wann wurde Pippin König?, Hist. Jahrb. 38, 1918 möchte schwer-
lich richtig, gegen Tangl, Pippins Thronbesteigung zwischen 13. Dez. 751 u. 18. Jan.
752, vermutungsweise auf den 6. Jan. 752 setzen.
31
achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stark anschwellende Lite-
ratur, deren jüngere Erzeugnisse man bei U. Froehl, Beiträge z. Gesch.
der Entstelning den Kirchenstaates, Diss. Halle, 1914 zusammengestellt
findet. Diese Arbeit, die einige noch weniger herangezogene Geschichts-
werke, insbesondere die Annales Mettenses priores, auf ihre Verwend-
barkeit tür das Thema sorgsam durchprüft, ist freilich durch ihr gleich-
zeitiges Erscheinen mit dem Buche von JE. Caspar, Pippin u. die
römische Kirche, Kritische Untersuchungen zum fränlüsch - päpstlichen
Bunde im 8. Jahrh., Berl. 1914, alsbald veraltet, denn diese gewichtige
Leistung, die unsere Erkenntnis erheblich gefördert hat, beherrscht seit-
dem als Grundlage für alle Weiterführung die Erörterung.
Die Auseinaudersetzungen mit ihr, voa denen liier nur die von E. Elchmann *),
Hist. Jahrb. 37, 1916, Fed. Schneider, D. L. Z. 1918, Nr. 20/21, und A. Brackmann,
Gott. Anz. 1918, Nr. 11/12, hervorgehoben seien, ziehen sich durch die Kriegsjahre
hindurch. Die Anerkennung des methodischen Ernstes, mit dem allenthalben die Reste
der brieflichen und urkundlichen Äußei-ungen zugrunde gelegt und bis aufs äußerste
(gelegentlich vielleicht zu stark) ausgepreßt werden, ehe die chronikalischen ergänzend
hinzutreten, ist allgemein. Auch die Grundzüge der kurialen Politik, ihr folgerichtiges
Streben nach Autonomie, die religiöse Bindung des karoliugischen Schutzherrn, die
ümdeutuug der Garantie des status quo vor den laugobardischen Eroberungen zu-
gunsten des unbestimmten Begriffs der „Romani", wie sie der Pakt von Kiersy aus-
sprach , in eine Überweisung an die römische Papstkirche als Hauptinteressentin , die
sich nun seit 756 stetig von Byzanz ablöst, bis Karls Vorgehen von 774 eine neue
Basis schafft, — das und vieles Einzelne kann nach diesen gründlichen Untersuchungen
als feststehend gebucht werden. Schwierige Deutungen, wie die der vielumstrittenen
Grenzlinie in jenem Pakt, vermögen bei ihrer Unsicherheit natürlich nicht gleich-
mäßig zu überzeugen. In der Anwendung fränkischer Rechtsformen auf das Ver-
hältnis von Papst und König schließt sich C., wenn auch mit gewisser Zurückhaltung
gegenüber Haller, an die seit Gundlach aufgekommene Richtung der deutschen For-
schung an. Eine gewisse Anpassung der kirchlichen Sprache an germanische Rechts-
vorstellungeu wird sich schwerlich in Abrede stellen lassen; jedoch mit der juristischen
Ausmünzung solcher Wendungen ist man in der Tat wohl viel zu weit gegangen.
Einen starken Rückschlag nach der andern Seite bedeutet die Abhandlung von K. Held-
mann, Kommendation und Königssehuh. im Vertrage von Ponthion 754, il. I. ö. G.
38, 1919, der auf den Bahnen Bernheims (s. oben S. 4) die betreffenden Ausdrücke
einfach nach ihrem biblischen Ursprung auslegt, Kommendation und Köuigsschutz im
eigentlichen fränkischen Rechtssinne als auf diese einzigartigen überstaatlichen Be-
ziehungen gar nicht anwendbar ablehnt und jene religiöse Auffassung, die C. erst
als spätere Unideutung des juristischen Verhältnisses betrachtet, als die ursprüngliche
ansieilt. Auch die Adoption des fränkischen Herrschers und seiner Söhne durch den
Papst will er nicht in dem römisch-rechtlichen Sinne als Bestimmung zur Mitregent-
scliaft oder Nachfolge nach Art der spätantiken Kaiser auslegen, wie es E. Eichmann,
Z. f. R. 37, 1916 (vgl. noch unten) getan hat. Eine derartige Auffassung scheint mir
indessen der damaligen Kurie doch viel eher zuzutrauen und fügt sich ihren sonstigen
Absichten gut ein. — Über die Beurteilung der Politik Pippins, die bei C, wenn er
selbst auch extreme Foi'mulierungen ablehnt, doch nur in wenig günstigem Lichte
erecheinen kann, sind die Meinungen noch gespalten"). Keinesfalls aber darf sein
durch kirchenpolitische Rücksichten und religiöse Gefühle stark mitbestimmtes Ver-
halten lediglich nach den Gesichtspunkten des Machtstrebens beurteilt werden, und
1) Eichninnnn eigne in die Karolingerzeit und besonders auf die Vorgänge von
754 zurückgreifende Studien zum Verhältnis von Papsttum und Kaisertum finden
besser unten ihren Platz.
2) P. liassoiv, Z. f. Kirchengesch. 36, 1916, sucht z. B. Pip]tins Politik zu ver-
teidigen.
32
überdies ist auch sein Handeln auf einem gänzlich ungewohnten, schwer zu über-
sehenden Felde gegenüber einer alten, zähen und mit verfeinerten Mitteln, wie z. B.
der tonstantinischen Schenkung arbeitenden Diplomatie noch nicht schlechthin maß-
gebend für seine staatsmännische Einsicht überhaupt, wie er sie etwa in den weniger
verwickelten, geläufigeren Verhältnissen nördlich der Alpen zu bewähren hatte. Es
muß als dringender Wunsch ausgesprochen werden, daß Caspar sich nicht, wie es so
oft zu gehen pflegt, durch die neuen Studien und Betätigtangen, denen er sich seit-
dem zuwenden mußte, dauernd von der versprochenen Fortführung über das Jahr
774 hinaus, die doch immerhin sehr viel leichter ist, abhalten lassen möchte.
Über die konstantinische Schenkung i) sind die deutschen
Forscher schon seit einiger Zeit zu annähernder Übereinstimmung g3-
kommen. Nur ob sie von der römischen Kurie kurz vor oder kurz
nach 754 angefertigt sei, erscheint noch ungewiß. Von itahenischer Seite
ist dagegen der Versuch gemacht, die Entstehung noch weiter zurück-
zudatieren. Was Ä. Gaudensi schon kurz vor dem Weltkriege auf der
Historikerversammlung in Rom ankündigte, ist nach seinem 1916 erfolgten
Tode in ausführlicherer Begründung erschienen in der Schrift: 11 Co-
stituto di Costantino, Bull, dell' ist. stör. it. 39, 19 i 9.
Die Einleitung zu dem hier vorgelegten neuen Text will dartun, daß der von
Papst Leo IX. dem Patriarchen Michael Cärularius von Konstantin opel mitgeteilte
Text älter sei, als der von S Denis, vor allem, daß das Constitutum in der ursprüng-
lich griechischen Vita S. Silvestri enthalten und daher auch zuerst griechisch ge-
schrieben gewesen sei, daß daher der in drei vatikanischen Hss. überlieferte griechische
Text älter sei als der lateinische. Angesichts der überzeugenden btilvergleichung
zwischen dem lateinischen Text und Papstbriefen, durch die einst Scheffer-ßoichorst
Zeit und Ort der Fälschung bestimmte, wird man diesem Ergebnis zunächst gewiß
recht zweifelnd gegenüberstehen.
In engem Zusammenhang mit diesen Dingen stehen auch die Nonantolaner
Forschungen Oaudenxis, II monastero di Nonantola, il ducato di Persiceta e la chiesa
di Bologna, Bull. delF ist. stör. it. 36 u. 37, 1916, in denen die schon 1901 be-
gonnene Veröffentlichung zu Ende geführt ist (vgl. F. Brandileone, Di uno scritto
postumo di Ä. G., Arch. stör. it. 75 II, 1918). Mit andern Quellen der wirren Ge-
schichtsüberlieferung von Nonantola ist da die Vita Radriani III papae [f 885)
zuerst vollständig gedruckt. Von den umfangreichen Anhängen, in denen die Schick-
sale der vorbolognesischen Rechtsschulen ergründet werden, sucht der erste darzutun,
daß die „sacratissimi cauones", mit denen auf dem römischen Konzil von 769 die
neue Papstwahlordnung begründet wurde, bestimmte Fälschungen vermutlich von der
Hand des Primicerius Christophorus waren, der ja auch als Haupturheber der kon-
stantinischen Schenkung gilt. Nach dem zweiten Anhang soll die „ karolingische
Minuskelschrift"' zuerst in der römischen Kantorenschule unter Papst Hadrian I. ent-
standen sein. Der dritte Anhang sucht eine förmliche Abtretung des Exarchats durch
die Päpste des ausgehenden 9. Jahrh. an Guido und Lambert von Spoleto zugunsten
des italischen Regnum zu erweisen, in welchem nun Ravenna ein zweites Zentrum
neben Pavia geworden sei, zugleich Sitz der von Rom dorthin übertragenen Rechts-
schule ^).
1) Chr. B. Coloman, Constantine tlie Oreat and Christianity (Columbia Uni-
versity Studios in History etc. nr. 146), New York 1914, behandelt im 2. Teil die
christliche Legende, im dritten das Constitutum Constantini, anscheinend nur referierend.
2) Vgl. zu diesem Thema auch A. Visconti, Le condixioni del diritto ai tempi
dei re d'Italia dojm la caduta dell' impero carolingio (in Mem. del r. istit. lomb.
di scienze Bd. 23), Mail. 1915; O. Buxxi, Ricerche per la storia di Ravenna e di
Roma dalV anno S50 al 1118^ Arch. stör. Rom. 38, 1915, wo die Bestrebungen der
Erzbischöfe von Ravenna zur Selbständigkeit gegenüber den Hoheitsansprüchen des
päpstlichen Kirchenstaates lehrreich verfolgt werden.
■Wissenschaftllclie Forschungsbericlite VJI. 3
33
Auf dem von Caspar betretenen Wege läßt sich vielleicht auch noch
eine fe^tere Grundlage für die Beurteilung der Kaiserkrönung Karls
d. Gr. gewinnen. Andeutungen in dieser Richtung hat Ä. Brachmann,
Die Erneuerung der Kaiserivürde im Jahre 800, Geschichtl. iStud. f. A.
Hauck, Leipzig 1916, gemacht i).
Er stellt den Schritt Leos III. verständnisvoller, als bisher geschehen, in den
Znsammenhang der kurialen Politik. Leo weicht wohl in der Taktik der völligen
Hingabe an Karl von Iladrian I. und den andern Päpsten ab, nicht aber im Ziel;
der Schaffung eines römisch -hesperischen Kaisertums auf der Grundlage der kon-
stantiuischen Schenkung, die auch allein als Rechtsboden der Verleihung von 800 zu
denken ist. Dieser Auffassung, in der doch eine künftige Abhängigkeit vom Papsttum
schlummert, muß Karl widerstreben, indem er nachträglich die Anerkennung durch
Byzanz herbeiführt und auch sonst, durch Krönung seines Sohnes usw., die Unabhängigkeit
des Kaisertums vom Papsttum betont. Das ist einleuchtend. Aber ist damit nicht sehr
gut vereinbar, daß Karl eine Titulierung, die ihn in derartige Verwicklungen bringen
mußte, für seine christlich-universale Stellung als fränkischer Großkönig urspiünglich
überhaupt nicht gewollt hat und anfangs Abneigung gegen sie hegte? Eine natürliche
Auslegung der bekannten Einhardstelle : „imperatoris et augusti nomen accepit; qnod
primo — aversatus est" scheint mir das noch immer klar zu besagen. Brackmann
will freilich das „qnod" nicht auf ,, nomen-' beziehen, sondern auf den ganzen Satz
und damit die Abneigung Karls auf die ganze Art der Übertragung durch den Papst.
Das ist jedenfalls eine künstlichere Auslegung, und das „primo" paßt dazu nur
schlecht; denn daß Karl die Art der Übertragung später günstiger beurteilte, ist
kaum anzunehmen, wohl aber, daß er sich in den anfangs unerwünschten Kaiser-
titel bald hinemlebte^).
Zur Geschichte Karls d. Gr., insbesondere ihrer quellenkritischen
Grundlage, ist in erster Linie eine Folge von Abhandlungen zu nennen
von L. Halphen, Eludes critiques sur Vhistoire de Charlemagne, in
mehreren Bänden der Rev. bist.
In der ersten (Bd. 124, 1917) läßt H. die karolingischen Reichsannalen (Annales
regni Francorum) bis 788 nicht aus den sog. ,, kleinen Annalen" zusammengearbeitet,
sondern umgekehrt diese aus jenen zu verschiedenen Zeitpunkten unter Hinzufügung
lokaler Nachrichten ausgezogen sein. Die Entstehung der Reichsannalen, die schon
seit 768 annähernd den Ereignissen folgen, wird daraufhin neu dargestellt. Die For-
schungen richten sich vornehmlich gegen die Annahmen des 191Ö vor dem Feinde
gefallenen F. Kurze, der diesen Fragen ja eine unermüdliche Tätigkeit gewidmet, aber
in Deutschland doch keineswegs so weitgehende Zustimmung gefunden hatte, wie H.
glaubt; sie kehren hier zur Auffassung des alten Pertz zurück. — Eine bestimmtere Ab-
grenzung der einzelnen Verfasser der Reichsannalen und ihres Anteils hält H. für un-
möglich; doch gewinnt er hier und in der zweiten Studie (Bd. Vlb^ 1917), die den
„kleinen Annalen" gewidmet ist, aus den Endpunkten, bis zu denen in ihnen die
Reichsannalen ausgezogen sind, Anhaltspunkte, welche die aus anderen Gründen angenom-
menen Einschnitte zu 795/6 und 801 unterstreichen. — Über Emhards Vita Karoli ^) ergeht
in der dritten Studie (Bd. 126, 1917) ein überaus scharfes Gericht. Mit Holder- Eg?er
rückt U. die Abfassung in Einhards Alterszeit, sogar m die erste Hälfte der dreißiüf^r
1) Vgl. auch C. Mcda, Papa Leone III e la restauraxione delV Lnpero dord-
dente, Rassegna nazionale 38, 1916.
2) Zu den Libri Carolini und ihrer Benutzung des Decretum Gelasianum vgl. die
Zusammenstellungen von //. BnsUjm, der gegenüber der Greifswald. Diss. von F. Knop,
1914, an der Verfasserschaft Alcliwins festliält.
3) Emhards Life of Cf/arlonafpie ed. by H. W. Oarrod and li. B. Monat, Oxford
1915, ist ohne wissenschaftlichen Wert. In der Neuausgabe der Übersetzung in den
Geschichtschreib. der d. Vorz. , ist die Neugestaltung der Einleitung durch M. Tangl
beachtenswert.
34
Jahre des 9. Jh. (was doch ganz von der Frage abhängt, ob der ßeichenauer Biblio-
tliekskatalog in dem Teile, der die Vita nennt, wirklich später als 821 zu datieren ist).
Daraus werden die zahlreichen, von H. noch vermehrt aufgedeckten Ungenauigkeiten
erklärt. Man wird sie und eine aus pietätvoller Verehrung hervorgehende unwill-
kürliche Schönfärbung zugeben, darüber hinaus aber H.s Urteil, das Einhard zum
bewußten Geschichtsfälscher zu stempeln sucht, in mehreren Punkten, auch hinsichtlich
der Benutzung Suetons, als ungerecht empfinden und als unbegründet erkennen. Wenn
Einhard die angegriffenen Feinde Karls zweimal ,. contra Francos'^ kämpfen läßt, so
sieht H. darin die Tendenz, Angriffskriege für Verteidigungskriege auszugeben, „et
Ton sait qu'il a eu des imitateurs "•, — eine aus der Kriegsleidenschaft entstandene Ent-
gleisung, die zu den sonst ruhigen und stets beachtenswerten Ausführungen schlecht
paßt. — Die vierte Studie (Bd. 128, 1918) gibt eine genaue Analyse der „Taten Karls
d. Gr." von (Notker), dem Mönche von S. Gallen *). Der literarisch-kompiiatorische Charakter
des schulmeisterlichen Werkes, der historische Unwert und Mangel an echtem Sagenstoff
wird scharf und m. E. richtig betont; ich habe schon im Reallexikon d. germ. Alt. unter
„Notker" die vorherrschende Übersehätzung bekämpft. — Die beiden letzten zu-
sammenhängenden Abhandlungen suchen fast ausschließlich auf Grund der nun etwas
anders bewerteten Annalen unter Ausschluß der hagiographischen Quellen die Ereig-
nisse von Karls Sachsenkriegen im einzelnen genauer festzustellen und ihre Abschnitte
klarer herauszuarbeiten, ohne in der Gesanitauffassuug Neues zu bringen. Die Auf-
fassung der Capitulatio de partibus Saxoniae als Abschluß der Gewaltpolitik von
782 785 erscheint, ähnlich wie bei Hauck, recht annehmbar; weniger, daß auch die
Lex Saxonum statt 802/3 schon 785 aufgezeichnet sein soll. Auch die Ausführungen,
die den letzten Sachsenkampf 793 statt 792 ausbrechen lassen wollen, können nicht
überzeugen, da sie zur Annahme von zwei ganz ähnlichen Niedermetzelungen frän-
kischer Heeresabteilungen zwingen.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Persönlichkeit des
großen Kaisers stehen, so sind hier nur über die Schicksale des Toten
kleinere Arbeiten zu nennen ^) und über das Nachleben Karls das Buch
des 1915 im Kriege gefallenen Heinr. Hoffmann, Karl d. Gr. im Bilde
der Geschichtschreihung des frühen MA. (800 — 1250), Eherings Hist.
Stud. 137, Berl. 1919 (urspr. Gieß. Diss.), das in vielfachem Anschluß
an die bekannten Arbeiten der Franzosen G. Paris, A. Kleinclausz und
J. Bödier, aber unter stärkerer Verwertung der historischen Quellen
gegenüber den poetischen eine sehr sorgfältige und brauchbare Über-
sicht über die Autfassungen von dem großen Kaiser bis zu dem Zeit-
punkte gibt, in dem Sage und Dichtung auch in Deutschland das
historische Bild völlig zu überwuchern begannen. Bekanntlich spielen
dabei seine Beziehungen zum Orient eine große Rolle. Tatsächlich sind
ja die heihgen Stätten unter seinen Schutz getreten (was L. Ralphen
freilich in seiner Einhardkritik bezweifelt). Daß die unsichere Lage
der Christen in Palästina, insonderheit ein Beduinenüberfall des Klosters
S. Sabas dazu den Anlaß gegeben hat, führt L. Brehier , La Situation
des chretiens de Palestine ä la fin du VIII. siecle et Vetahlissement du
protectorat de Chirlemagne, Moyen äge 30, 1919, nach den Peters-
burg 1914 erschienenen hagiographischen Untersuchungen des Russen
1) Vgl. den Neudruck von 0. Meyer v. Knonmi in den St. Gall. Geschichtsquell,
der Mitteil. z. vaterl. Gesch., Bd. 6, 1919.
2) Vgl. zur Bestattung und zum Grabe Karls die in der Hist. Viert. 19, 1919,
Bibliogr Nr. 2220 ff. mit genaueren Titeln verzeichneten kleineren Schriften von
J. Buchkremer, F. Kampeis, R. Pick u. E. Teichmmm ; ferner F. de Mely in Comptes
rendus de l'Acad. des inscript. etc. 1915.
3*
35
Loparev (vgl. Journ. des Savants Bd. 14. 15) näher aus. Über die
rechtliche Grundlage dieses Protektorats hat sich derselbe, Seances du
Congres Fran^ais de la Syrie f'asc. II, Paris u. Marseille 1919 geäußert ^).
Zu seiner kulturellen Wirksamkeit endlich verdient Beachtung P. Leh-
mann, Büchersanimlung u. Bücherschenkungen Karls d. Gr., Hist. Viert.
19, 1919, wo dem französischen Benediktiner Leclercq, der 1911 darüber
gearbeitet hat, Plagiat, schwere Nachlässigkeiten und Irrtümer nach-
gewiesen und über Traube hinaus Nachträge zum Thema gewonnen
werden.
Zur Geschichte Ludwigs d. Fr. kommt in Betracht eine die
herrschenden Vorstellungen genauer umschreibende Quellenanalyse von
W. Nickel, Untersuchungen über die Quellen, den Wert u. den Verfasser
der Vita Hhidovici des Astronomus, Diss. Berl. 1919. Der Bericht-
erstatter des aquitanischen Teils dürfte aber doch der dort genannte
Heerführer Ademar selbst sein, der dann später Mönch geworden wäre;
die Annahme eines gleichnamigen Sohnes, der zufällig auch alle jene
Feldzüge mitgemacht habe, ist viel zu künstlich. Den Astronomen sucht
der Verf. in der Hotkapelle -).
Die letzte Arbeit des am 15. Aug. 1915 f B. v. Simson, Pseudo-
isidor u. die Le Mans - Hypothese Z. f R. 35, k. A, 4, 1914, sucht nicht
ohne Erfolg die Einwände gegen Le Mans als Heimat der großen
kirchenrechtlichen Fälschung zu widerlegen, wird aber damit diese An-
nahme doch nicht zur Anerkennung bringen, da auf der anderen Seite
die Gründe für Reims überwiegen, und der hier sachverständigste Forscher
E. SecJcel, der seine umfangreichen Vorstudien für die Monumentenaus-
gabe des Benedictus Levita N. A. 41, 1917 fortgeführt hat, durchaus
auf diesem Boden steht ^).
Die fränkische Reichskirche wirkte in der ausgehenden Karo-
lingerzeit*) stark hinüber auf den slawischen Osten. Die Einführung
1) Der Versuch von M. Büchner, ffist. Jahrb. 35, 1914; 37, 1916 und Stud. u.
Mitt. z. Gesch. d. Benediktinerord. 35, 1914; 37, 1916 Stücke des von Zeumer in
die Zeit des Abtes Fardulf (793—806) gesetzten Formularbuches von S. Denis auf
Persönlichkeiten der folgenden Generation: Ermoldus Nigellus und Aldrich von Sens
zu beziehen und damit Entstehung und Bedeutung der Sammlung zu verschieben,
gehört zu den neuerdings sich mehrenden schlecht begründeten Abweichungen von
wohlbedachten älteren Forschungsergebnissen. W. Lcvison, Hist. Jahrb. 37, 1916 und
N. A. 41, 1917, hat ihn überzeugend widerlegt und die Richtigkeit von Zeumers Ansatz
durch neue Beobachtungen nur noch sicherer erhärtet. Die Deutung eines anderen
Stückes als eines Briefes des Ansegis an Eiuhard, Hist, Viert. 18, 1916 — 18 ist an-
nehmbarer, wenn auch die Beziehung auf Michelstadt und Obermühlheira nicht
überzeugt.
2) Vgl. L. Itid, Die Wiedereinsetzung Kaiser Ludwigs d. Fr. xu St. Denis
(1. Marx, 834) u. ihre Wiederholung xu Metx (28. Febr. 835), in Festg. f. A. Knöpf-
ler, Freib. i. B. 1917.
3) E. IL Darenport, The false decretals, New York, Oxford 1916, ist ein ohne
Benutzung deutscher Literatur unternommener unbrauchbarer Versuch, die Person
des Fälschers als gutgläubig in Schutz zu nehmen.
4) ./. Riegel, Bischof Salomo I. v. Konstanx u. seine Zeit, Freiburg. Diözesan-
arch. 42, 1914, bat von dem Wirken dieses tüchtigen Kirchenmannes (839—871) in
Sprengel und Reich und am Hofe Ludwigs d. D. ein ansprechendes Bild entworfen.
36
des Christentums in Böhmen (von Bayern, nicht von Mähren aus) hat
A. Naegle, KircJiengesch. Böhmens, Bd. 1, 1. Teil, Wien/ Leipz. 1915 bis
gegen Ende des 9. Jahrh. gründlich dargestellt. Der 2. Teil (1918) führt
in eingeherden Untersuchungen die auf diesem schwierigen Felde nicht
zu umgehen waren, tief in das 10. Jahrh. hinein. Verbesserungen dazu
gibt R. Holtsmann, Z. f. R 41, K. A. 10, Ui20 (vgl. auch A. Naegle, Der
hl. Wendel, Rektoratsrede, Prag 1919). Wie solche Missionsbestrebungen
in Mähren mit durchkreuzenden Einflüssen von Korn ^) und Byzanz her
zu ringen hatten, bis sie letzten Endes doch den Sieg davontrugen, das
ist jetzt auf eine sichere Grundlage gestellt von H. v. Schubert, Die sogen.
Slawenapostel Consfantin und Methodius. Ein grundlegendes Kapitel
aus den Beziehungen Deutschlands zum Südosten, S. B. d. Heid. Ak. 1916.
In scharfem Gegensatz zu A. Brückner werden die unzuverlässigeren
Legenden jener Apostel zurückgeschoben, und die Darstellung statt ihrer
auf die gleichzeitigen Urkunden und Berichte der Reichsannalen auf-
gebaut. Während die zeitweihg vom Papsttum in Gegenwirkung gegen
landeskirchliche Bestrebungen geförderte Slawenmission in Mähren und
Oberungarn schließlich nur Episode blieb, war der Sieg des slawischen
Kirchentums bei den Bulgaren und Russen von schwerwiegendsten Folgen.
Vornehmlich in die Ausgangszeit '^) der Karolinger im westfränki-
schen Reiche bis zu ihrer Ablösung durch die Capetinger führt uns
K. Voigt, Die Jcarolingische Klosterpolitih u. der Niedergang des west-
fränkischen Königtums, Kirchenrechtl. Abb. 90/91, Stuttg. 1917.
Ein sehr wichtiger Punkt in der gesamten Politik der Karolinger ist stets die
ausreichende Belohnung der Anhänger, der nach außen hin die Eeichsausdehnung,
daneben aber, und sobald jene stockt, in verstärktem Maße im Innern die Verfügung
über die Kirchen dient. Der 1912 erschienenen Arbeit von A. Pöschl über die
Bischofskirchen ^) stellt sich diese gründliche Untersuchung über die Königsklöster
zur Seite. Die Einleitung greift auf die frühere Karolingerzeit kurz zurück. Aus-
getan haben alle diese Herrscher die königlichen Klöster an geistliche und weltliche
Große, bald brutaler wie Karl Martell, bald mehr im Einklang mit den kirchlichen
Bedürfnissen, wie Karl d. Gr., stets aber im Staatsinteresse. Der Unterschied in der
westfränkischen Spätzeit seit dem Verduner Vertrage ist außer dem starken Anschwellen
solcher Vergabungen der, daß nunmehr auf Kosten des Staates Vorteilsucht und Ge-
walttat der Großen entscheiden, wozu die schwache Regierung Ludwigs d. Fr. den
Übergang bildet. Dies Emporblühen des westfränkischen Eigenkirchenwesens , die
Mediatisierung der Königsklöster durch die weltlichen Aristokraten, die sich ihrer
nicht nur in der früheren Weise als Laienäbte, sondern geradezu als Inhaber zu
dauerndem Familienbesitz bemächtigen und dadurch vor allem schließlich die Gegen-
wirkung von Cluny hervorrufen, bildet das Hauptthema der gerade durch das Vor-
1) Auf das wertvolle Buch von E. Pereis, Papst Nikolaus I. und Ätiastasius
Bibliothecaritis, Berl. 1920, das im ersten Teil die Grundzüge der Politik des Papstes
darstellt, kann hier nur im voraus kurz verwiesen werden.
2) Vgl. R. van der Lindeji, Les Normands ä Louvain 884—892, Rev. bist. 124,
1917, wo einige Einzelheiten genauer dargestellt werden, als bei R. Parisot und
W. Vogel. Ferner: F Lot, La Loire, l' Aquitaine et la Seine de 862 ä 866. Robert
le Fort, Bibl. de l'Ecole d. Ch. 76, 1915 (Bruchstück eines größeren Werkes über
die Normauneueinfälle).
3) Für das Kirchengut in Italien vgl. die Sonderuntersuchung von R. Endres,
Das Kirchengut im Bistum Lucca vom 8. bis 10. Jahrh., Viert, f. Soz. u. ^^"ix*tsch.
14, 1918.
37
legen des Stoffes wertvollen Darlegung, deren spätere Ausdehnung auf Ostfranken in
Aussicht genommen wird.
Die edelsten und dauerndsten Leistungen der karolingischen Epoche
liegen auf kulturellem Gebiet, namentlich dem der bildenden Kunst
und Dichtung. Zu der ersten nenne ich neben den eigentlich kuust-
gescliichtlichen Forschungen, die hier im einzelnen doch nicht berück-
sichtigt werden können, die zuerst in der Z. d. Aach. Geschichtsver. 40,
1 9 1 8 erschienenen Forschungen von 31. Buchner, Einhard als Künstler,
in iStudien z. deutsch. Kunstgesch. 210, IStraßb. 1919.
Daß das Schwergewicht von Einhards künstlerischem Schaffen in manuigfachei-
kunstgewerblicher Betätig\ing zu suchen ist. wird man gewiß anerkennen, wenn man
auch die damaligen Grenzen zwischen ihr und der Architektur nicht so scharf ziehen
möchte, daß E. als Bauherr in Steinbach und Seligenstadt nicht zugleich sein eigner
Baumeister hätte sein können. Wertvoll ist der Nachweis, wie sehr man sich beim
Bau des Aachener Münsters der Idee nach und selbst bis in die Maßverhjiltnisse hinein
den Tempel Salomos zum Vorbild nahm. Auch sonst ist manche Schilderung und
Einzelfeststellung fördernd. Die weiteren Bemühungen jedoch, Kunstwerke wie die
früheren Erztüren von S. Denis und die bekannte Keiterstatuette Karls d. Gr. Ein-
hard selbst, der, obwohl Abt, mit dem in S.Denis dargestellten „Airaidus monachus''
identisch sein soll, zuzuweisen und Wollin, der die Verkleidung des Ilauptaltars von
S. Ambrogio in Mailand geschaffen hat, mit einem Einhardsehüler Vussin zusammen-
zubringen, halten nicht streng genug die Grenzen vorsichtiger Forschung inne und
bleiben Hypothesen, soweit sie nicht, wie auch die S. 47 im Anhang II versuchte Um-
bestimmung zweier Eiuhardbriefe (einleuchtender Anh. Ij ganz unmöglich erscheinen ^).
Die seltene Vereinigung hoher bildnerischer und literarischer Fähig-
keiten macht Einhard zu dem anziehendsten Vertreter karolingischer
Kultur, deren dichterische Leistungen hinter den künstlerischen wohl
zurückstehen, aber in ihrer Folgewirkung keineswegs gering einzuschätzen
Bind. Ein nach längerer Pause wieder erschienener Teil der Mon. germ,
bist. Poetae latini niedii aevi, t. IV, p. II, 1, herausgeg. v. K. Sirecker,
Berlin 1914, hat zum erstenmal eine umfassende Sammlung der Rhythmen
aus der fränkischen Zeit vorgelegt und damit das bisher zerstreute
Material, auch soweit es schon gedruckt war, erst recht nutzbar ge-
macht -). Obwohl es sich natürhch überwiegend noch um geistliche
StoflPe dieser Gelehrtendichtung handelt, fehlt es nicht ganz an Spuren,
die auf die lebensfrische Vagantenpoesie des Hochmittelalters voraus-
deuten •').
1) Vgl. übereinstimmend mit obigem Urteil jetzt W. Levison, N. A. 43, 428.
"Wie es sich mit einem in der Kapitelbibliothek von Vcrcclli gefundenen „Libellus de
Psalmis'' Einhards verhält, von dem M. Vattano in der Zoitschr. Bessarione, Bd. 19,
1915 Vorrede, Anfang und Endo mitteilt, wird weiterer Prüfung bedürfen. — Einen
Traktat jener Zeit (zw. 795 u. 816) über Maße und Gewichte enthält eine wieder-
gefundene IIs. der Bibl. Vallicelliana, die aus der Lyoner Abtei S. Martin auf der
Isle Barbe stammt. Eine andere Es. ders. Bibl. s. IX. enthält eine anfangs ver-
stümmelte Sammlung von Briefen Papst Nikolaus I. ; vgl. J. Oiorgi in Kendiconti
d. K. Accad. d. Lincei, hist.-phil. Kl., 5. Serie, Bd. 36, 1917.
2) Vgl. dazu eine Einzelstudie des am 9. März 1917 f ^^- ^Ve^er aus Speier in
Gott. Nachr. 1915.
3) R. Ilrnirie/is, Der Ileliand u. Haimo v. Halberstadt, Cleve 1916, versucht
Haimo (Bischof 840- 853) als Dichter des H. zu erweisen. Vgl. zum Ileliand auch
oben S. 3U Anm. 1.
38
3. Längsschnitte durch die mittelalterliche
Geschichte, vornehmlich des Deutschen Reiches
Aus dem Zerfall des Karolingerreiches erhebt sich der deutsche
Staat, der an der Spitze von Mitteleuropa auf längere Zeit nicht nur
als Macht die Führung im Abendlande gewinnt, sondern auch aus sich
eine Fülle von Lebenskräften entfaltet, neben denen einstweilen alles
zurücktritt, was die umgebende Staaten weit dagegen aufzuweisen hat.
So tritt bis zum 12. Jahrhundert hin das Deutsche Reich für uns nicht
nur aus nationalen Rücksichten, sondern auch aus innerer Berechtigung
in den Mittelpunkt der Betrachtung. Ehe wir aber die Forschungen
zu den einzelnen Stufen seines Entwicklungsganges schrittweise weiter
verfolgen, haben wir der Längsschnitte und zusammenfassenden Studien
zu gedenken, die sich nicht auf eine Periode beschränken ; und da über-
wiegen naturgemäß neben ideengeschichtlichen Betrachtungen
die der Rech ts- und Wirtschaftsgeschichte angehörenden StoflFe.
Für die rechtsgeschichtliche Forschung in Deutschland bedeuten die
Kriegsjahre den Abschluß einer Epoche, und zwar einer reichen und
fruchtbaren, in der die Führung in der Hand bedeutender Juristen lag.
Wenn auch von ihnen noch einzelne, wie K. v. Amira, am Schaffen sind,
so hat doch der Tod mit H Brunner (f 11. August 1915), R. Schröder
(t 3. Jan. 1917), R. Sohm (f 16. Mai 1917) und O. Gierke (f 10. Okt.
1921), um nur die hervorragendsten zu nennen, so starke Lücken in ihre
Reihen gerissen, daß man, wenn man überdies noch die psychologische
Wirkung der großen politischen Umwälzungen in Betracht zieht, einen
tiefen Einschnitt machen muß. Die jüngere Generation hat nun über
das reiche Erbe zu walten. Als ausführliches Inventar darüber ist noch
in ihre Hände gelegt die 6. Auflage von R. Schröders Lehrbuch der deut-
schen Rechtsgeschichte, I.Teil, Leipz. 1919, wo mit Ausschluß von Privat-
und Strafrecht, sowie Gerichtsverfahren, also den Abschnitten, die dem
Historiker etwas ferner liegen, das Mittelalter in Neubearbeitung bewältigt
ist. Den größten Teil hat der Verf. noch selbst besorgt; nach seinem
Tode widmete sich E. Frhr. v. Künßherg opferbereit dem Buche, dem
er für die Abschnitte „Gerichtsverfassung" und „Territorien" Ergän-
zungen, für den Paragraphen „Städte" und das Kapitel „Rechtsquellen"
selbständige Neubearbeitung zuteil werden ließ. Eine Charakterisierung
des bekannten Werkes erübrigt sich; man kann nur der Freude darüber
Ausdruck geben, daß es durch rastlose Arbeit noch einmal, und nun
wohl für längere Zeit, gelang, der Forschung auch des letzten Jahrzehnts
ihren Platz im Rahmen der Gesamtdarstellung anzuweisen. Jeder, der
neuere Literatur zur mittelalterlichen deutschen Rechtsgeschichte sucht,
wird nun zuerst zu diesem vertrauten Buche greifen. Wären auch die
jüngsten Forschungen durchgehends darin verzeichnet, so möchte deren
Aufzählung an dieser Stelle überhaupt überflüssig erscheinen. Indessen
der Druck begann noch im Frieden, die einzelnen Bogen, nacheinander
in Reindruck fertiggestellt, zeigen nur den Wissensstand ihrer Ent-
stehungszeit, nicht des Erscheinungsjahres 1919. So konnten die meisten
39
Forschungen der Kriegszeit noch nicht berücksichtigt werden. Sie hier
vollständig aufzuzählen oder gar ihre Ergebnisse im einzelnen darzulegen,
erscheint mir auf" eng beschränktem Räume für diese Fülle von Studien,
unter denen auch die lokalen Monographien zumeibt allgemeinere Be-
deutung besitzen, noch untunlicher, als für die anderen Gebiete der
Geschichtswissenschaft. Es kann sich in noch höherem Maße als dort
nur um eine Auswahl handeln, und von ihrem Inhalt kann nur soviel
angedeutet werden, wie notwendig ist, um ihnen ihre Stellung innerhalb
der Gesamtforschung anzuweisen. Eine Beschränkung ist hier um so
eher erlaubt, als unter der rastlosen Fürsorge von U. Stutz die Savigny-
Zeitschrift für RecJitsgeschichte germ. Abt. samt ihrer unter Mitleitung
von A. Werminghoff stehenden hanon. AU. auch während der Kriegszeit
ihre kritischen Übersichten über die Forschungen des jeweils verflossenen
Jahres mit nur vorübergehender Einschränkung fortführen konnte, eine
Berichterstattung, der wir Historiker an Vollständigkeit des Wertvollen
und Pünktlichkeit des Erscheinens nichts Gleichwertiges an die Seite
zu stellen haben. Eine feinsinnig bewertende Auswahl der rechtsge-
schichtlichen Literatur bis 1918 hat auch E. Heymann der von ihm
besorgten 7. Auflage von H. Brunners Grundzügen der deutschen Rechts-
geschicJäe, deren Text er im übrigen unverändert ließ, eingefügt. Auch
andere, bereits bewährte Handbücher oder größere Zusammenfassungen
sind in der Kriegszeit oder kurz vorher in neuer Bearbeitung erschienen
oder fortgesetzt worden. Sie bieten vielfach die Grundlage für weitere
Forschung, jedoch genügt hier ein kurzer Hinweis auf sie ^). Von dem
durch jahrelange Sammlung vorbereiteten Deutschen Rechtste örterhuch,
dessen Leitung nach R. Schröders Tod E. Frhr, v. Künßberg über-
nommen hat, war eben die erste Lieferung (Weimar 1914J ausgegeben,
als der Krieg seine lähmende Wirkung begann. Hoffenthch gelingt es,
die Schwierigkeiten zu überwinden, mit denen ein so großzügiges Unter-
nehmen, namentlich wenn es allgemein-deutschen, nicht provinziellen
Charakters ist, heute zu ringen hat ! Wahrscheinlich wird man zunächst
versuchen, es in stark verkürzter Form zur Ausführung zu bringen.
Läßt man die bunte Mannigfaltigkeit der rechtsgeschichtlichen Einzel-
forschungen an sich vorüberziehen und sucht sie nach bestimmten Rich-
tungen zusammenzufassen, so versteht sich zunächst von selbst, daß von
der Mehrzahl der Gelehrten auf dem gelegten Grunde mit der bewährten
1) K. V. Aniiras knapper Grundriß des germanischen Hechts in Pauls Grundriß
der germ. PLilol. erschien 1913 in 3. Aufl. Zu A. Meisters Deutscher Verfassunr/s-
geschichte, 2. Aufl. 1913, und ihrer privatrechtlichen P^rgänzung durch Cl. Frhr.
r. Schwerins Deutsche Rcchtscjcschichte, 2. Aufl. 1915, erschien als Fortsetzung F. Har-
iungs Deutsche Verfassungsgeschichte t\ 15. Jahrh. bis xiir Gegenwart 1915, in der
nur die einleitenden Kapitel über Territorialverfassung und Keichsrefornibewegung
allenfalls noch zum Mittelalter zu rechnen sind (die letzten drei in Meisters Grundriß
der Geschichtswiss.). — Zum deutschen Privatrecht vgl. 0. Oierke, Deutsches Privat-
recht III, Leipz. 1917, und die Zusammenfassungen von li. Hübner, Qrundxiige des
deutschen I'riratrcchts, 8. Aufl.. Leipz. V.)\[),\xn()i E. Frhr. v. Schwind, Deutsches Privat-
recht, inn Grundriß z. Vorlesungen und ein Lehrbuch f. Stud. I, Wien/Leipz. 1919, und
Cl. Frhr. v. Schwerin, Grundxiige rfes deutschen Privatrechts. Bcrl. 1919. Auf
//. Fehrs Deutsche Pechtsgeschichte, Berl. -Leipz. 1921 sei vorausverwiesen.
40
Methode weitergearbeitet wird. Es gilt da etwa neuen Erkenntnisstoff
zu erschließen aus der örtlichen Enge ländlicher ^), städtischer und terri-
torialer Rechtsquelien und Rechtsverhältnisse oder aus fernen, noch nicht
bis aufs letzte durchforschten Rechten, wie dem nordischen oder spani-
schen -) Vergleichsstoff oder alte Gemeinsamkeitswerte zu gewinnen. Auf
dem besonderen Gebiete der kirchlichen Rechtsgeschichte ist in der
reichen Schule von ü. Stutz der Fortschritt am offensichtlichsten; die
Übersiedlung seines kirchenrechtlichen Seminars von Bonn nach Berlin
(1917) hat daran nichts geändert^). Und so wird auch sonst vieltaltig
weiterbauend gearbeitet.
Daneben haben sich schon seit längerer Zeit Bestrebungen gezeigt,
welche die mancherlei Hypothesen und Wahrscheinlichkeitsschlüsse, ohne
die für Zeiträume dürftigen Quellenstoffes auch die herrschende Schule
eine Gesamtdarstellung natürlich nicht geben konnte, in Frage zu stellen
und andere Lösungen zu bevorzugen. Solche Versuche haben durch
Ausscheiden von lebenden Autoritäten wie Brunner an Boden gewonnen, —
eine Nachprüfung, die zur Vermeidung dogmatischer Festlegungen von
Zeit zu Zeit zweifellos nötig ist, die auch mit frischem Zuge wertvolle
Berichtigungen erzielen kann, die jedoch, sofern sie nicht mit strengster
Methode und aus vollster Kenntnis heraus vorgenommen wird, leicht
zu Irrungen und Wirrungen führt, wofür es nicht ganz an Beispielen
aus den letzten Jahren mangelt. Einzelne sind uns schon oben begegnet.
Auch sonst wurden allerlei Wünsche laut: stärkere Durchackerung
des späten Mittelalters, für das man ja stets eine sichere Stoffgrundlage,
wie die der Waitzschen Verfassungsgeschichte entbehrt, sowie der neu-
zeitlichen deutschen Rechtsgeschichte, lebendigere Verknüpfung der Ver-
gangenheit mit der Gegenwart und ihren Fragestellungen, Herausbildung
einer mehr aus dem eignen Wesen der Rechtsgeschichte hervorgehenden
1) Die SamnüuDg und Veröffentlichung der Weistümer machte auch während
der letzten Jahre einige Fortschritte. Neben die älteren Sammlungen (z. B. Weis-
tümer der Rheinprovinx, Bd. 2 von H. Anbin, Bonn 1914) traten die Badischen Weis-
tümer u. Dorfordnungen, Erste Abteilung: Pfülxische Weistümer n. Dorfordnungen,
H. 1 von C. Brinkmann. Heid. 1917. Vorbereitend: Willi. Müller, Verzeichnis hes-
sischer Weistümer. Darmst. 1916; vgl. auch G. Winter, D. niederösterr. Bannteidings-
iceseh, Jahrb. f. Landesk. Niederöst. 13/14, 1916. Daß die Ausbeutung der Weis-
tümer noch in den Anfängen steckt, betont H. Fehr, Lber Weißtumsforschung, Viert,
f. Soz. u. AVirtsch. 13, 1916.
2) Vgl. von dem im Mai 1919 verstorbenen spanischen Eechtshistoriker E. de
Hinojosa, El eleme?ito germanico en el dereeto espanol, Madrid 1915 (dazu Z. f. R., g. A.
36, 495 f.) und E. Mayer, Studien z. span. Rechtsgesch., Z. f. R., g. A. 40, 1919, wo
versucht wird, dies für Deutschland noch jungfräuliche Gebiet zunächst einmal durch
Studium seiner Rechtsquellen zu erschließen.
3) Eine Übersicht über die Ergebnisse in Bonn findet man in der 1920 als
Manuskript gedruckten, größtenteils in Z. f. R. 41, k. A. 10, 1920 wiederholten Schrift
von U. Stutx, Das kirr-henrechtliche Seminar an der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-
Universität XU Botin (19; »4— 1917). Vornehmlich Unterrichtszwecken soll dienen E. Eich-
mann, Quellensa mm hing xur kirchl. Rechtsgesch. und xum Kirchenrecht, Paderborn
1912—1916, Bd. 1 (Kirche u. Staat 750—1122), Bd. 2 (Kirche u. Staat 1122 bis Mitte des
14. Jahrb.), Bd. 3 von O. J. Ebers [D. Papst u. d. röm. Kurie I). Von Einzelstudien
vgl. A. Pöschl, Der Neubruchxehnt, Arch. f. kath. Kirchenrecht 98, 1918.
41
Periodisierung, Überbrückung der germanisch-römiächen Zwiespältigkeit
der Behandlung zu einer Einheit, und was dergl. mehr ist ^). Ganz
neu sind solche Forderungen nicht, und wirksamer als Programme
wären Versuche zur Durchführung, die Möglichkeit und Zweckmäßig-
keit überzeugend dartäten. Sicher liegt ein Drang nach schärferer ge-
danklicher Durcharbeitung des Stoffes, nach ideengeschichtlicher Be-
handlung im Zuge unsrer Zeit, und da sind denn auch aus den letzten
Jahren Werke von nicht geringer Bedeutung auzutühreu.
Eine mustergültige Monographie dieser Art ist F. Kern, Gottes-
gnadcritum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter (= Mittelalt.
Studien 1, 2), Leipz. Ibl4, ausgegeb. 1915.
Es ist nicht gerade überraschend Neues, was dem Buche seinen Wert gibt;
der unmittelbar aus den Quellen zusammengetragene Stoff war im einzelnen meist
bekannt, aber nie in solciier Vollständigkeit vereinigt, so klar geordnet, so geistig durch-
drungen. Das monarchische Recht, aus dem das Gottesgnadentum erwächst, beruht
auf Volkswahl, Geblütsvorzug, priesterlicher Weihe (namentlich bis zum Investitur-
streit) und unter den Staufern Einwirkung antiker Herrschervergötteruug. Der ent-
scheidende unter diesen Faktoren bleibt doch die VoJkswahl, und auch rechtlich, das
ist der Grundgedanke des Buches, erscheint der Herrscher gebunden. Das göttliche
oder Naturrecht ist über ihm, es wird von Volksgenossen gefunden und gekündet, der
König ist nur sein Wahrer und Vollstrecker.
Über die viittelaUerliche Anschauung vom Recht hat der Vf. sich in eng damit
verbundenen Gedankengängen H. Z. 115 (1915), die ich trotz ihrer überscharfen und
einseitigen Zuspitzung den jüngeren Fachgenossen angelegentlich empfehlen möchte,
und ausführhcher noch einmal in dem Aufsatz: „Eecht und Verfassung im MAr ebd.
120, 1919, weiter ausgesprochen. Er legt dar, wie es als etwas ein für allemal Be-
stehendes, auf den neuen Einzelfall nur Angewandtes, über Staat und Herrscher
Waltendes gilt, wie daher der Nachweis alten Bestehens damals dem heutigen, daß
etwas gültiges Staatsgesetz sei, gleichkomme, woraus sich denn auch die massenhaften
fäl-schenden Zurückverlegungen in uralte Zeit erklären. Der Zweck des Staates ist
danach, das vorhandene Recht dem Einzelnen zu beschirmen ; Schutz des Individuums
bei Schwächung der Staatsgewalt ist der durchgehende Zug des ma.hchen Rechts-
begriffs. Der Herrscher aber, der diesen Rechtsschutz versagt, bringt sich selbst um
sein Aurecht auf den Thron. Damit münden diese Gedankengänge ein in den Haupt-
teil des Kernschen Buches: die Entwicklung des Widerstandsrechtes, für die die
Grundzüge früher von ü. Gierke in seinem Joh. Althusius bereits gezogen waren.
Hier ist sehr klärend die Sonderung der germanischen Wurzel (Treubruch des Königs
iri dem Gegenseitigkeitsverhältnis von Herrscher und Volk) und der noch stärkeren
kirchlichen Auffassung von der Widerstandspflicht gegen den unchri&tlichen , recht-
brechenden Herrscher, den „Tyrannen" im augu.stinischen Sinne (vgl. oben S. 5).
Beide vereinigen sich im Investiturstreit. Damals sucht das Königtum seine Sache
zu festigen durch die angebliche Übertragung der Gewalt durch das Volk auf den
Herrscher in der Lex Regia, woraus der frühe Verfechter der Volkssouveränität Mane-
^?^^. ^'^" Eautenbach einen kündbaren Dienstvertrag macht, der den pflichtvergessenen
König wie einen untauglichen Schweinehirten fortzujagen gestattet. Schon im 12. Jahrh.
vertritt Johann von Salisbury die Lehre vom Tyrannenmord. An Stelle dieses form-
losen Widerstandsrechtes schafft zuerst die Magna Cliarta von 1215 die konstitutionelle
Garantie einer verfassungsmäßig organisierten Selbsthilfe. Nur bis ins 13. Jahrh. hat
Kerns Buch, dessen Bedeutung durch diese wenigen Sätze natürlich nur unvollkommen
umschrieben wird, die Betrachtung geführt »).
1) Vgl 2. B. E. Rosenstock, Der Neubau der deutscJien Rechtsgeschichte in „Die
Arbeitsgemeinschaft", Leipzig, Nov.-Dez.-Heft 1919.
2) Von den eingeiienderen ]3osi)rechungen des Buches sei auf die von E. Eich-
mann, Hi.st. Jahrb. 38, 1917, mit abweichenden Auffassungen, besonders hingewiesen.
42-
Selbständig von ihm ist K. Wohendorjf (f 1921), Staatsrecht und
Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechts-
widrige Ausübung der Staatsgewalt {Gi'mrke^ \}nieY&. 126), Breslau 1915,
zu ähnlichen Ergebnissen gekommen, ergänzt aber jenes zeitlich dadurch,
daß er die Dinge vornehmlich vom Spätraittelalter ab bis ins 19. Jahrh.
führt, weicht übrigens auch in der Behandlungsart insofern von Kern
ab, als er die Beziehungen zum positiven Recht der Zeiten in den
Mittelpunkt stellt ^). So ist wenige Jahre vor der deutschen Revolution
das Widerstandsrecht des Volkes gegen den Herrscher von zwei Seiten
her wesentlich aus germanischer Wurzel hergeleitet, durch die Geschichte
hindurch verfolgt und seine wissenschaftliche Erkenntnis damit zu einem
gewissen Abschluß gebracht worden "-).
Eine ähnlich klärende Wirkung durch die Verbindung reichster
Kenntnis mit schärfster logischer Durchdringung geht aus von dem kurz
vor dem Kriege erschienenen Buche G. v. Belows, Der deutsche Staat
des Mittelalters, Bd. l: Die allgemeinen Fragen, Leipz. 1914=^) Es ist
Sohmsche Art der begriflflichen Erfassung, aber ohne dessen Neigung
zu konstruktiver Zuspitzung, darum wohl mit geringerer Kraft der An-
schaulichkeit, aber mit umso größerer Andacht gegenüber der mannig-
faltigen historischen Wirklichkeit.
Wenn bei der Betrachtung des Widerstandsrechtes die Stellung des mittelalter-
lichen Herrschers schwächer erscheint, als vielfach angenommen, so unternimmt es
V. B. das deutsche Mittelalter gegen die Meinung zu verteidigen, es sei staatlos ge-
wesen, und genau abzugrenzen, wie weit seine Staatlichkeit tatsächlich und im Be-
wußtsein der Zeitgenossen gereicht habe. Seinem langjährigen und erfolgreichen Kampf
gegen die giauidherrliche Theorie *) entsprechend , bekämpft er zunächst die alte
Hallersche Vorstellung vom Patrimonialstaat, die mit dem Aufschwung der wirtschafts-
geschichtlichen Studien neue Kraft gewonnen hatte. Auch des Lehnswesen, dessen
anfangs stärkende, bald überwuchernde Wirkung voll gewürdigt wird, hat den Staat
doch nie gänzlich verschlungen und zeigt seine auflösenden Folgen für Deutschland
erst seit dem 13. Jahrb. Und nun scheidet v. B., was, da man den Unterschied mehr
für dynamisch als sachlich hält, nicht allgemeinen Beifall gefunden hat, von dem
Lehnsstaat ab den Feudalstaat des ausgehenden Mittelalters, für den die Durchbrechung
des Staatsverbandes durch Privilegierungen bis zu weitgehender Zersetzung kenn-
zeichnend ist; man kann ihn natürlich auch die letzte Phase des Lehnsstaates nennen.
Selbst hier aber ist noch nicht mit 0. Gierkes Genossenschaftsrecht eine untrennbare
Vermischung von öffentlichem und privatem Rechte anzunehmen, obwohl sich die
Veräußerung von Hoheitsrechten vielfach in den privatrechtlichen Formen der Ver-
1) Eine kurze Zusammenfassung nach den beiden Büchern gibt H. Fehr , Das
Widerstandsrecht, M. T. ö. G. 38, 1918.
2) Einen einzelnen staatsrechtlichen Gedanken hat durch die Rechtsentwicklung
hindurch verfolgt auch A. Werminghoff, Der Recht sgedanke von der Unteilbarkeit des
Staates in der deutschen u. brand.-preiiß. Geschichte, Hallesche Univ.reden I, Halle
1915: Widerstand der staatlichen gegen die privatrechtliche Auffassung, in Deutsch-
land durch Kaiserwürde und kirchliche Einheit gefördert, aber in den Territorien
fortgeführt, von denen Preußen insbesondere betrachtet wird bis zur Gegenwart.
3) Zur ersten Einführung empfiehlt sich die Lektüre des Referats, das der Vf.
selbst Internat. Monatsschr., Berl., Febr. 1914 gegeben hat. Vgl. auch die Besprechung
von R. Hübner, Z. f...R., g. A. 35, 1914.
4) A. Zycha, Über clen Aiiteil der Unfreiheit am Aufbau von Wirtschaft und
Recht, 1915, möchte bei aller Anerkennung solcher Kritik die Leistungen der Un-
freien für Wirtschaft und Recht doch sehr hoch einschätzen.
43
lehnuDg. Verpfändung, des Verkaufs usw. abgespielt hat, sondern selbst da noch
waren unzweifelhafte Genieinschaftszwecke und wenigstens Reste eines begrifflichen
Scheidungsvermögens zwischen öffentlichem und privatem Recht vorhanden. Ins-
besondere haftete auch an dem veräußerten üerichtsbezirk noch der staatliche Cha-
rakter und fand seinen Ausdruck darin, daß der Inhaber in den hohen Adel eintrat.
Der staatliche Neubau im Kampf gegen das Lehenswesen vollzog sich in Deutschland
innerhalb der Territorien mit der Ausbildung einer öffentlich-rechtlichen Steuer-
verfassung und eines straffen Beamtentums. Immerhin wurde dadurch, daß sich das
staatliche Leben hinüberflüchtete in die Territorialstaaten, der deutsche Nationalstaat
so gut wie völlig zersprengt, und da auch in jenen der volle staatliche Charakter sich
nach aulieu und innen doch nur im Laufe einer langen Entwicklung durchsetzte, so
trat im 14. und 15. Jahrb. denn doch ein Zustand ein, der von Staatlosigkeit vielfach
nicht allzu weit entfernt war. So hat man innerhalb des deutschen Mittelalters
zwischen verschiedenen Peiioden zu unterscheiden, und nicht auf alle in gleichem
Maße ist v. B.s Verteidigung des staatlichen Charakters zu beziehen , wie man sich
doch auch wird hüten müssen, die Dinge, was natürlich nicht in v. B.s Absicht liegt,
nun in allzu hellem Lichte zu sehen. Ein zweiter Band soll zu den allgememen
Grundlinien die Einzelausführungen für die gesonderten Gebiete des Staatslebens
bringen, auch das Verhältnis zur Kirche berühren.
Die anregende Wirkung, die von diesem Buche, auf das wir bei
der Frage der deutschen Kaiserpohtik noch einmal zurückkommen
müssen, ausgegangen ist, läßt sich nicht nur aus eingehenden Be-
sprechungen, sondern auch aus selbständigen, ergänzenden Studien er-
kennen. Öo möchte A. Dopsch, Der deutsche Staat des MA., M. I.
ö. G. 36, 1915, bei lebhafter Zustimmung gelegentlich noch über v. B.
hinausgehen, während F. Keutgen seine in ähnlicher Richtung gehenden
Gedanken in einem ganzen, gleichbetitelten Buche Der deutsche Staat
im MA, Jena 1918 niedergelegt hat.
K. sucht nicht wie v. B. die Vorstellungen der ma.lichen Menschen selbst über
staatliches und privates Recht aus den Quellen zu eimitteln, sondern geht ausschließ-
licher mit festen modernen Begriffen, die freilich bei den neueren Staatsrechtleru
einigermaßen im AVaudel begriffen sind, an die Analyse des älteren deutschen Staats-
lebens heran, betont wie v. B. namentlich für die Frühzeit, aber auch noch für die
Epoche überwiegenden Lehnswesens den staatlichen Charakter, ohne die entgegen-
stehenden privatrechtlichen Elemente (z. B. Gefolgswesen, Teilungserbrecht in der
ersten Periode) zu verkennen, die späterhin immer mehr die Oberhand gewinnen; viel-
mehr ist es gerade dieser Dualismus, den er durch die deutsche Reichsgeschichte
und dann seit dem 13. Jahrb. auch durch die der Territorien mit ihrem Widerstreit
zwischen Landesherren und Stauden hindurch verfolgt. Obwohl die ersteren daraus
.schließlich als absoluti.stischo Sieger hervorgehen, haben doch die letzteren, die ab-
weichend von Rachfahl und Spaugenbei'g als eine Vertreterschaft aus eignem Rechte
aufgefaßt werden, stark dazu beigetragen, den staatlichen Charakter der Territorien
gegen privatrechtliche Neigungen der Fürsten, wie Erbteilungen, Veräußerungen, Ver-
pfändungen usw. zu sichern. Eben in dem durchgehenden Rechtsdualismus der ger-
manischen Völker sieht K. im Gegensatz zu der Rechtseinheit des Altertums, die zwar
größere Kraftzusammenfassung verbürgt, aber auch die Gefahr der Verknöcherung in
sich geschios,sen habe, ein lebenerhaltendes Moment.
Ein nüchtern gesunder Sinn für die historischen Besonderheiten und die tat-
sächlichen Machtverhältnisse, deren umgestaltender AVirkuug erst die rechtlichen Um-
formulierungen folgen, b(;stimmt diese aus laugjährigen Studien erwachsenen Betrach-
tungen. Die Kehrseite davon ist ein gewi.sser Mangel an eindrucksvoller Gestaltung,
die auch durch die Vermischung von Untersuchung und Darstellung beeinträchtigt
wird. Läßt man sich das in diesem wesentlich analytischcui Teil noch gefallen , so
darf man wohl hoffen, daß der in Aussicht gestellte weitere Band, der aufbauend
eine „zu.sammonhängende Darstellung der deutschen Staatsgeschichte" bringen soll,
.sich in der künstlerischen Bewältigung des Stoffes auf eine höhere Stufe heben möge.
44
Die breiten Ausführungen K.s über den Reichsfürstenstand,
die sich dem Aufriß des Buches nicht recht organisch einfügen, aber
forschungsmäßig gerade sein wertvollster Teil sind, leiten uns zu einigen
ständegeschichtlichen Untersuchungen hinüber, die, soweit sie sich nicht
einer bestimmten Periode einfügen lassen, hier vorweg zu nennen sind.
Der Charakter des älteren und jüngeren Reichsfürstenstandes, sowie Art und
Ursachen seiner Umwandlung sind gerade neuerdings wieder vielumstritten. Dadurch,
daß J. Fickers weitvorbereitete Studien nach der Drucklegung des 1. Bandes seines
Reichsfürsten Standes (1861) abgebrochen wurden, ist hier die Forschung lange stecken
geblieben. Erst allmählich kam sie wieder in Fluß , um dann durch P. Puntscharts
Herausgabe eines Teils von Fickers 2. Bande (1911) weiteren Anstoß zu erhalten.
Wer sich in die schwierigen Probleme, die hier auftauchen, einführen will, wird zu
dem bequem referierenden Buche des im Felde gefallenen F. Schönlierr, Die Lehre
vom Reichsfürstenstande des MA., Leipz. 1914, greifen, wo insbesondere auch Fickers
Ansicht von den Einseitigkeiten und Vergröberungen Späterer gereinigt erscheint; es
ergibt sich, daß er das lehnsrechtliche Moment für die Bildung des jüngeren Reichs-
fürsten Standes zwar als das ausschlaggebende, aber nicht als das einzige angesehen
hat, daß daneben doch auch nach ihm landrechtliche Momente, die mit der Ablösung
des alten Herzogsamtes zusammenzuhängen scheinen, eine Rolle gespielt haben.
Die neueste Forschung geht nun in dieser Richtung viel weiter,
indem sie die beliebte Gegenüberstellung von Amtsfürsten und Lehns-
fürsten als überhaupt nicht treffend zu erweisen sucht. Vornehmlich
sind da zu berücksichtigen die einschlägigen Kapitel in dem doch recht
tief schürfenden Buche von E. Rosenstock, Königshaus u. Stämme in
Deutschland zwisclien 911 u. 1250, Leipz. 1914, in dem man das Gute
nicht um deswillen vernachlässigen sollte, weil andres darin allzu über-
spitzt und hypothetisch erscheint.
R. sieht , indem er in der Richtung der Auffassung von Laband , Heck und
Rietschel weiterbaut, in den jüngeren Reichsfürstentümern weniger eine Abwandlung
des alten Fürstenstandes, als vielmehr eine Neuordnung des Reiches nach der 1180
mit der Zertrümmerung Sachsens und Bayerns zum Abschluß gebrachten Auflösung
der Stammesherzogtümer. Eine herzoggleiche, übergräfliche Stellung in je einem der
alten Stammesgebiete ist denn auch Voraussetzung für den nunmehrigen Reichsfürsten,
kennzeichnet sein Fahnlehen. Was aber dieser Neuordnung erst ihr Gepräge gibt,
ist die inzwischen anj.'ebahnte Verschiebung des Reichsgebietes nach dem Osten in-
folge der gi'oßen Kolonialbewegung. Die dadurch mächtig erweiterten Marken lösen
sich nun aus der bisherigen Zugehörigkeit zu den Stammlanden und reihen sich
ihnen als selbständige Reichsfürstentümer an. Diese Auseinandersetzung zwischen
Stämmen und Marken ist das wesentlichste an der ganzen Neuordnung^).
Was die Ablehnung lehnsrechtlicher Einwirkungen auf die Neubildung betrifft,
die er vielmehr nur als nachträgliche bewußte Befestigung der einmal errichteten
Scheidewand zwischen Fürsten und Magnaten auffaßt, so stimmt Keutgen mit R. über-
ein (ob diese völlige Ausschaltung nicht doch zu weit geht, ob sie dem mit dem
Lehnsrecht doch eng verbundenen militärischen Moment genügend Rechnung trägt?)
Die Reichskanzlei habe einfach die in Sachsen schon vorher übliche begrenztere, die
Grafen ausschließende Anwendung des Fürstenbegriffs auf das ganze Reich aus-
gedehnt. Auf der andern Seite wendet K. dem älteren Fürstenstande wertvolle Unter-
suchungen zu und bestreitet da wohl mit Recht den Amtscharakter als ausschlag-
gebend. Alter Geburtsadel, Familienverbindungen, persönliches Ansehen, Besitz,
politische Macht hätten unter den Großen einen engeren Kreis ohne genaue Be-
stimmung als die ersten herausgehoben. Sie sind nicht Fürsten, weil sie Reichsbeamte
sind, sondern eher umgekehrt: Beamte, weil sie dem Fürstenkreis angehören. — Ob-
1) Kritische Bemerkungen dazu z. B. von v. Dungern, M. I. ö. G. 37, 1917.
45
wohl hier noch nicht alles gesichert ist, wird man auf die Scheidung von Amtsfürsten
und Lehnsfürsten doch schon jetzt verzichten müssen.
In der Ablehnung der Fehrschen Hypothese von dem Nebeneinan-
der der alten Amtstürsten und neuen Lehnsfürsten bis in die Zeit des
Sachsenspiegels hinein ist auch R. 31ocller, Die Nniordnung des Beichs-
fürsfenstandes u. der Prozeß Heinrichs des Löiven, Z. f. R., g. A. 39,
1918 eindrucksvoll. Was er jedoch selbst zur Erklärung der Neuord-
nung im Jahre 1180 vorträgt, ist bei allem Scharfsinn zu konstruktiv
und ruht auf zu unsicherem Grunde, als daß es zu überzeugen ver-
möchte.
Was die geistlichen Reichsfürsten betrifft, so entbehrten anfangs
bekanntlich die nicht reichsunmittelbaren SufFragane des Salzburger Erz-
bischofs des Reichsfürstentitels, bis sie sich ihn doch allmählich gewohn-
heitsmäßig aneigneten. Ihre Ausnahmestellung als Eigenbistümer (Gurk
seit 1072, Chiemsee, Seckau und Lavant seit dem Anfang des 13. Jahrh.)
ist jetzt sehr eindringlich und sorgfältig untersucht von Wilhelmine
Seidenschnur, Die Salzhurger Eigenbistümer in ihrer reichskirchen- und
landesrechtlichen Stellung, Z. f. R. 40, k. A. 9, 1919.
Die ständegeschichtliche Forschung ist auch sonst im
Gegensatz zu der starken Nivellierung der Gegenwart in der letzten
Zeit besonders lebhaft gewesen. Die fruchtbaren Untersuchungen von
Ä. Schidte und seinen Schülern über die Edelfreien und ihr Vorwalten
in der deutschen Kirche des MA. (vgl. neuerdings A. Schulte, Der hohe
Adel im Leben des ma.lichen Köln, S. B. d. Münch. Ak. 1919) haben
neben den Forschungen von O. Frh. v. Dungern und 0. Forst-Battaglia
das Interesse auf den Herrenstand gelenkt. Der letztere hat früheren
Schriften darüber während der Kriegsjahre umfassende Studien folgen
lassen unter dem Titel: Vom Herrenstande. Hechts- u. ständegeschichtl.
Untersuchungen als Ergänzung zu den genealogischen Tabellen z. Gesch.
des MA., H. 1. 2, Leipz. 1916. 1915 (Die genealog. Tabellen Lief. 1, Wien
1914). Die Kritik hat die ungenaue Eilfertigkeit seiner Vorstudien
gerügt ^), auch in diesen und ähnlichen Forschungen die Vernachlässigung
der Rechtsspiegel beklagt; gleichwohl verdankt man dem Buche, das
umsichtig neben den rechtlichen auch in vollem Umfang die sozialen
und politischen Besonderheiten zur Begriffsbestimmung überschaut, sicher-
Hch eine Erweiterung unserer Kenntnisse von der Zusammensetzung,
Zahl und Bedeutung des Herrenstandes im Deutschen Reiche und darüber
hinaus in den Ländern Europas. Wer sich mit diesen nicht leichten
Problemen beschäftigen will, der sei hingewiesen auf die einführenden
und kritischen Darlegungen von F. Philippi, Alter deutscher Adel- u.
Herrenstand, D. L. Z. 1917, Nr. 8—10.
Die herrschende Meinung von dem Beamtentum als adelsbildendem Prinzip seit
der Karolingerzeit wird hier, wenigstens in dem meist beliebten Umfang, in Zweifel
gezogen, wobei sich der Vf. in ähnlicher Richtung wie Keutgen betreffs des älteren
Füi-stenstandes bewegt. Ebensowenig kann von einer durchgängigen „Entfreiung-' der
Edelherreu selbst, wenn sie in die Ministerialität eintraten, oder ihrer Nachkommen-
\) Vgl. namentlich E. Vofjt, H. Z. 117, 1916.
46
Schaft, wenn sie eine Frau aus Dienstmannengeschlecht heirateten, die Rede sein.
Denn neben den unfreien Ministerialen gab es nicht selten auch freie Dienstmannen,
die diese Freiheit sich nicht etwa nur auf einer späteren Entwicklungsstufe erworben,
sondern von früher her bewahit hatten. Es wird dafür auf W. Wittichs älteren,
aber von der Wissenschaft nicht gebührend gewürdigten Nachweis für Niedersachsen
hingewiesen, daneben aber werden auch eigne Belege für Westfalen erbracht. Ein
größerer Teil des späteren Adels, als man bisher annahm, ist daher altfreien Ur-
sprungs, und verlor diese Standesfreiheit nicht durch Eintritt in den Fürstendienst.
Die Frage nach der freien oder unfreien Herkunft der Ministerialen
von Ritterart, die sich danach in zwei Gruppen scheiden, beschäftigt
auch W. V. Ploiho, Beitrag zur RecJitsgeschichte des deutschen JJradels,
Viertelj. f. Wappen-, Siegel- u. Familienkunde 47, 1919. Sonderunter-
suchungen prüfen die Ergebnisse der allgemeinen Darstellungen von
Moiitor und Kluckhohn an den Verhältnissen einzelner Stifter nach, so
F. Joetze, Die 3Iinisferialität im Hochstifte Bamberg, Hist. Jahrb. 06,
1915 und J. Bast, Die Ministerialität des Erzstifts Trier, Beiträge z.
Gesch. des niederen Adels, Trierisches Arch. 17, Erg.heft, Trier 1918^).
Vornehmlich aber hat sich die weitere Forschung auseinanderzusetzen
mit der tiefdringenden Untersuchung von V. Ernst, Die Entstehung des
niederen Adels, Berl., Stuttg., Leipz. 1916, der die herrschende Meinung
von dem Hervorgehen desselben aus der Ministerialität überhaupt ein-
schränken zu müssen glaubt, indem er wenigstens für das von ihm
untersuchte schwäbische Gebiet in dem niederen Adel eine früh durch
Zwing- und Bannrechte '^) zur örtlichen Herrschaft emporgehobene Freien-
schicht erblickt, ihre Burgen auf nichtgrundherrschaftliche Meierhöfe zu-
rückführt ^).
Zu den gesellschaftlichen Satzungen des Ritterstandes liefert einen
wertvollen Beitrag TT^ Erhen, Schivertleite und Ritterschlag , Z. f. hist.
Waffenk. 8, 1919, indem er den Bedeutungswechsel der Schwertleite
vom germanischen Symbol der Volljährigkeit zum Zeichen des Eintritts
in den Ritterstand im 12. Jahrh. und die Verdrängung der Schwert-
umgürtung durch den Ritterschlag zur Vereinfachung bei Ma?sen-
erteilungen (seit dem Romzuge Karls IV. 1354) genauer verfolgt.
K. H. Schäfer endhch hat seine verdienstlichen Zusammenstellungen
über Deidsche Ritter u. Edelknechte in Italien in einem kurz vor dem
Kriege erschienenen 3. Buche mit Untersuchungen über die im 14. Jahrh.
in kaiserlichen und ghibellinischen Diensten stehenden deutschen Söldner
in Pisa und Lucca, die freiHch mehr für genealogische und lokal-
geschichtliche, als rechtshistorische Zwecke in Betracht kommen, fort-
getührt und damals noch zwei weitere Bücher bis zum Abschluß des
Werkes in Aussiebt genommen (Quell, u. Forsch., hrsg. v. d. Görresges. 16,
Paderb. 1914).
1) Vgl. auch Dorothea Zeglin, Der hämo Ugius u. die französische Ministerialität,
Diss. Leipz. 1914: H. Wahrheit, Die Burglehen zu Kaiserslautern, Diss. Heidelb. 1918.
2) Vgl. E. Eichholxer, über Zivangs- und Bannrechte, namentlich nach sehweixe-
risc/iem Recht, Zur. Beitr. z. Rechtswiss. 54. Aarau 1914.
3) Nicht zustimmend H. Glitsch, Z. f. R., g. A. 37, 1916, S. 614 ff. Vgl. auch
W. Gatnenmüller , Neuere Theorien xur Entstehungsgeschichte des niederen Adels,
Z. d. hist. Ver. f. Niedersachs. 82, 1917.
47
Auch über die unterhalb der Edelfreien folgenden ständischen
Schichten der Gemein freien ist bekanntlich im Anschluß an den hier
namentlich durch Ph. Heck wieder zu Ehren gebrachten Sachsenspiegel
in jüngerer Zeit lebhaft diskutiert worden.
Dio Benennung einer besonderen Gruppe als „Scböffenbarfreie" ist jetzt besser
ganz fallen zu lassen, da Eike von Repgow selbst sie nicht kennt, vielmehr von
„Schöffenbaren'^ spricht, die er daneben auch als frei bezeichnet. Die Stellung der
Schöffen war allmählich ein Vorzug der oberen Si hichten geworden bis hinab zu den
freien bäuerlichen Dreihufnern. Daß nach der Annahme Zallingers und seiner Nach-
folger Dienstmannen, insbesondere in die Ministerialität übergeti-etene Freie, dies Vor-
recht besessen hätten, und sie vornehmlich unter den ,,Schöffenbarfreien'' zu ver-
stehen seien, hat PIi. Heck, Die Ministerialcntlieorie der Schöffcnbarcn, Viert, f. Soz.
u. Wirtsch. 14, 1918, gegen Amira mit dem Hinw'eis auf die Gleichsetzung von
„schöffenbar" und „frei" energisch bestritten. Ist nicht auch hier die Frage be-
treffs Freiheit und Unfreiheit innerhalb der Ministerialität aufzuwerfen?
Die nächstfolgende ständische Gruppe der Pfleghaften (oder Bier-
gelden) ^) ist letzthin nicht minder heiß umstritten gewesen. In den
bisherigen Gang und jetzigen Stand der Forschung wird man da am
besten eingeführt durch die Studie von K. Beyerle, Die Ffleghaften,
Z. f. R., g. A. 35, 1914.
Zu dem nach den Forschungen K. v. Amiras und E. Meisters gewonnenen Bilde
dieser freien bäuerlichen Kleinbesitzer mit der aus der ursprünglichen Heersteuer um-
gewandelten Gerichtsabgabe an den Grafen, in dessen Untertaneuverband sie schließ-
lich seit dem 14. Jahrh. aufgehen, hat B. urkundliche Ergänzungen hinzugefügt und
die Gerichtsbeziehungen, die besonderen Pfleghaftendinge unter dem Grafschafts-
schultheißen schärfer herausgearbeitet. Im Ergebnis damit einverstanden, versucht
F. Pliilippi, Pfleghafte, Eixjcn- m. Reichsgut, M. 1. ö. G. 37, 1916, eine andre Be-
gründung, indem er das Eigen der sächsischen Pfleghaften, wie schon in der kurz
vor dem Kriege erschieneneu Untersuchung Zur O erichtsverfasswig Sachsens im
hohen MA., M. I. ö. G. 35, 1914, auf altes Keichsgut zurückführen und den Grafen-
zins damit in Verbindung bringen will. Dagegen kommt Ph. Heck, Pßcghafte und
Örafschaftsbauern in Ostfalen, Tüb. 1916, nochmals mit neuen Argumenten auf seine
wenigstens in dieser Zuspitzung allgemein abgelehnte Auffassung der Pfleghaften oder
Biergelden als einer niederen Schicht von Stadtbewohnern, nicht Grafschaftsbauem.
zurück. Derartige Ausführungen des Vf. sind, auch wenn sie nicht überzeugen, stets
so kenntnisreich, scharfsinnig und eindrucksvoll vorgetragen, daß sie eine eindring-
liche Entgegnung erfordern, die ihnen diesmal von Cl. Frh. v. Schtverin, Z. f. E.,
g. A. 37, 1916 zuteil geworden ist.
Indem wir uns die ständischen Verhältnisse der Städter für spätere
Besprechung versparen ^j, kommen wir mit einigen Studien über die
Wachszinsigen , denen Ergebung an eine Kirche und Hörigkeit gegen-
über dem Titelheiligen vereinbar war mit Behauptung des weltlichen
Freienrechts, auf die nächste Stufe in der Folge der Stände^). Zur
1) F. Philippi., M. I. ö. G. 35, 1914, S. 228, meint zwischen den beiden nach
der Form, in der sie das Eigen besäßen, einen Unterschied machen zu sollen.
2) F. Simjp.rmann, Die Kennxeich?iung der Juden itn MA., Diss. Freib. i. ß.
1915, sei schon hier angemerkt.
3) A. Meisler, Studien x. Oesch. der Wachsxinsigkeit (Arbeiten von /. Schulte
u, W. Holland, eingeleitet von Meister), Münstersche Beiträge z. Geschichtsforsch.
N. F. 31— 3;^, Münster 1914, nur auf Westfalen bezüglich, im Anschluß an d. Arbeit
von Brebaum über Süd Westfalen (1913). Vgl. H. Frh. v. Minnigerode, Wachszins-
recht, Viert, f. Soz. u. Wirtsch. 13, 1916.
48
Sozialgeschichte des gesamten bäuerlichen Berufsstandes hat H. Fehr
umfassende Untersuchungen auf einem bisher wenig begangenen Gebiete
begonnen in seinen Studien: Das Waffenrecht der Bauern im MÄ.,
Z. f. R., g. A. 35, 1914 u. 38, 1917.
Der erste Teil untersucht das bäuerliche Waffenrecht im Reichsrecht, uament-
lich nach dea Gottes- uad Laudfrieden, der zweite das Territorialrecht des ausgehen-
den MA. zunächst für Bayern und Pfalz Aus den iuhaltreichen , klaren und wohl-
gegliederten Ausführungen, die auch für Heeresfolge, Fehde, Zweikampf beachtenswert
sind, sei hier nur vermerkt, daß das Waffenverbot für die Bauern, das sich im
12 Jahrh. als eine Folge der Teilung des Volkes in Wehrstand und Nährstand ergab,
nicht lediglich der Vorstellung von der höheren Ehre und dem gesellschaftlichen Ab-
schluß des Kriegerstandes entsprang, sondern daneben auch eme Maßregel sozialen
Schutzes war, um die friedliche Tätigkeit des Landwirts den störenden Einwirkungen
des Fehderechts zu entziehen, wie denn der arbeitende Bauer mit Gerät und Tieren
in den Landfriedensordnungen des ausgehenden MA. ausdrücklich unter Friedens-
schutz gegen alle Fehdehandlungen gestellt wurde. Die Landfolgepflicht zur Ver-
teidigung gegen eindringende Feinde blieb aber für die Bauern trotz des Waffen-
verbotes wenigstens zunächst, und die Gerichtsfolge zur Ergreifung Landschädlicher
dauernd bestehen. Daß sich die letztere im fränkischen Recht auch auf Halbfreie
und Unfreie, aber nicht auf Geistliche erstreckte, während die Landfolge nur die
Waffenfähigen betraf, hat Fehr noch in einer besonderen Studie in der Festgabe für
R. Sohm, Münch.-Leipz. 1915, ausgeführt^).
Damit werden wir von den ständischen Problemen zum Gerichts-
wesen hinübergeleitet. Dort ist namentUch die Bannleihe des Königs
zum Gegenstand voneinander abweichender Erörterungen gemacht.
H. V. Voltelini, Königsbannleihe u. Blutbannleihe, Z. f. R., g. A. 36, 1915, will
die Königsbannleihe, die höheren Friedensschutz gewährt, nach Ursprung und Bedeu-
tung von der Blutbannleihe, die in die Grafschaftsübertragung eingeschlossen und nur
bei den von geistlichen Fürsten abhängigen Hochgerichten wirklich vom König ein-
geholt sei, scheiden. Die Ergebnisse seiner Untersuchung werden großenteils abgelehnt
von Ph. Heck, Die Bannleihe ifn Sachsenspiegel, Z. f. R., g. A. 37, 1916, der seiner-
seits aber ähnlich — und zwar trotz zweier scheinbar entgegenstehender Sachsen-
spiegelstellen — eine persönliche Erteilung der Bannleihe durch den König nur an
die Kirchenvögte annimmt, denen sie der geistliche Fürst ja bis Ende des 13. Jahrh.
nicht vermitteln konnte, während die weltlichen Fürsten als Nachfolger in den her-
zoglichen Rechten sie den Grafen zugleich mit der Erteilung der Gerichtsgewalt über-
mittelten, was deren unmittelbare Verpflichtung für den König durch Amtseid nicht
beeinträchtigte. Man hat den Eindruck, daß in dieser Frage das abschließende Wort
noch nicht gesprochen ist.
Als seit der Schwächung der deutschen Zentralgewalt im 13. Jahrh.
die Herleitung der Gerichtsgewalt vom König zuerst in den weltlichen,
dann auch in den geistlichen Fürstentümern schwand, blieb sie bekannt-
lich in einzelnen Reichsgebieten, namentlich Westfalen, lebendig. Die
oben besprochene ständegeschichtliche Forschung über die Pfleghaften
hat nun erneut zu einer Untersuchung dieser „Freigrafschaftea" geführt,
über die in dem inhältreichen Buche von Th. Lindner über die Feme
(1888) doch noch nicht das Letzte gesagt ist. Während Ä. Meining-
haus, Freigrafenamt und Freigraf enleJien (und zwei andere dahin gehörige
Studien in Beitr. z. Gesch. Dortmunds 25, 1918) Einzeluntersuchungen
1) Vgl. H. Oerdes, Geschichte des deutscJien Bauernstandes (Aus Natur und
Geistesw. 320), 2. Aufl., Leipz.-Beri. 1918.
Wissenscliaftllche Forschungsberictite VIT. 4
49
zu den westfälischen Freigrafengerichten bringt, sucht A. Waas, Zur
Frage der Freigrafschaften, vornehmUch in der Wetter au, Z. f. R., g. A.
38, 1917, in die Grundfrage Licht zu bringen, ob wir es mit einem
Verfallsprodukt öfFentlichrechtlicher Verhältnisse zu tun liaben, was der
bisher zumeist vorgetragenen Meinung entspricht, oder mit Herrschafts-
rechten, nämhch altem, an „Freie" ausgeliehenen Reichsgut, dessen
Verwaltung aus den Händen des Königs als Eigentümers in die des
Grafen hinübergeglitten ist.
"\V. knüi^ft hier an die obengenannten Forschungen von F. Philippi an, der immer-
hin den öffentlichrechtlichcn Ursprung der Verhältnisse betont, die sich erst alhnilh-
fich bis zum 13. Jahrh. in fast ganz privatrechtliche, den Späteren grundherrlich er-
scheinende gewandelt hätten. Indem W. auch die Analogie der Schweizer Freigiaf-
schaften heranzieht, die Gemeinschaften freier königlicher Muntmannen in privatrecht-
licher Abhängigkeit vom König gewesen seien und mit öffentlichrechtlichen Graf-
schaften nichts zu tun hätten , findet er den privatherrschaftlichen Ursprung auch
durch Untersuchungen über die hessischen Freigrafschaften bestätigt und erwartet von
weiteren einschlägigen Forschungen über die im ganzen Reiche verbreiteten Freigraf-
schaften Aufklärung über das zerstreute Königsgut.
Wenden wir uns dem Rechtsgang ^) zu, so galt die Frage der
Herleitung von Geschworenengericht und Inquisitionsprozeß, soweit die
enghsche Wurzel in Betracht kam, bisher als durch H. Brunners epoche-
machendes Buch: Die Entstehung der Schwurgerichte (1872) mit seiner
Feststellung fränkisch- normannischer Hinüberwirkung nach England für
entschieden. Neuerdings hat man begonnen, dies Ergebnis kritischer
zu betrachten.
Während jedoch K. Haff, Beweisjury u. Rügeverfahren im fränkischen und alt-
dänischeti Rechte, Z. f. R., g. A. 38, 1917, durch den Nachweis, daß das fränkische
Recht mit seinen amtlich bestellten Rügegeschworenen schon vor lOHG auf dem Wege
über Jütland auf das angelsächsische Recht gewirkt hat, an der Bruniierschen Theorie
nur eine leichte Korrektur vornimmt, sucht E. Mayer, Oeschrrorcncmiericht und In-
quisitionsproxcß, Münch. u. Leipz. 1916, ihre Grundlage zu erschüttei-n, indem er das
englische Geschworenengericht als eine Fortbildung älterer angelsächsischer, nicht
durch normannischen Einfluli vermittelter Formen und damit als eine gemeingeroianische
Rechtseinrichtung auffassen will. Er hat damit zunächst den scharfen Widerspruch
K. V. Amiras, Z. f. R., g. A. 37, 1916, hervorgenifen, und man wird abwarten müssen,
ob sich seine Auffassung sonst durchzusetzen vermag.
Was die italienische Wurzel betrifft, so war die Arbeit von Bich.
Schmidt, Die Herkunft des Inquisitionspro2csses (1902), die Basis, von
der man auszugehen hatte.
Seitdem haben Foi'schungen von Kaniorotvicx, E. Mayer, Niese, Zcchbatier unsere
Kenntnis des normannisch-sizilischen und italienischen Rechtes im 12. und 13. Jahrh.
erheblich erweitert. Schmidt selbst hat nun noch einmal die Hau|)tentwicklungs!inien
gezogen in seiner Studie. Küniysrechf, Kirchenrecht u. Stadtrcchl beim Anfbau des In-
qnis/fionsproxesses, Festschr. f. R. Sohm, Münch./Leipz. 191f), und darin seinr? frülieren
Ergebni.sse giuauer umrissen, insonderheit die Annahme normannisch-sizilischer (letzt-
hin aus dem fränkischen Reiche stammendei) Einflüsse auf die Einführung der kirch-
lichen Inquisition durch Innozenz 111. zu stützen versucht. Wie schon früher, so
1) Als eine gute Einführung in diesen den meisten Historikern ferner liegenden
Stoffkreis ist zu empfehlen: 77. Planitx, Handhaft u. Blutrache n. andre Formen des
ma.lichrn h'cchtsfianges in anschaulichen DarstcUuncirn (Voigtländ(>is Quellcnb. 94),
Leipz. 1918. Ähnlich in ders. Samml. H. Qlitsch, Ma.liche Gottesurteile (1918).
50
hat auch jetzt H. v. Volfeh'm, Hist. Z. 117, 1916, diese Einflüsse als quellenmäßig
nicht genügend belegt, vielmehr das italienische (auf das römische zurückgehende)
Stadtrecht als die eigentliche Wurzel des kirchlichen Inquisitionsprozesses erklärt.
Über die Reich sacht sind in den Jahren vor dem Kriege mehrere
Studien erschienen, die von J. Lechner in einer Besprechung des Buches
von J. Poetsch (1911) in der Krit. Vierteljahrschr. f. Gesetzgeb. und
Rechtswiss. III. F. 17, 1915, unter Hicweis auf die noch vorhandenen
Lücken der Forschung kritisch gewürdigt werden. Ihre Ergebnisse hat
Lechner, Die Eeichsacht, Hist. Viert. 17, 1914, knapp und klar zu-
sammengefaßt. —
Wenn die deutsche Rechtsgeschichte des MA., zum mindesten bis
ins 13. Jahrh. hinein, im wesentlichen ein festgefügtes Gebäude darstellt,
das wohl noch mancherlei Umbauten und feinere Durchbildungen ertährt,
aber kaum noch eine Änderung seines Grundrisses, so hat die viel
jüngere Wirtschaftsgeschichte wohl in Büchern wie denen von
Lamprecht oder v. Inama- Sternegg vorläufige Notbauten errichtet, ist
aber erst in reichen Einzeltorschungen von verschiedenen Seiten her
damit beschäftigt, das Fundament lür die dauernde künftige Darstellung
zu schaffen. Soweit diese Studien aus lokalen Stoffen einzelne Bausteine
gewinnen, würde ihre Aufzählung hier zu weit führen, wenn auch das
örtliche Ergebnis zumeist nur dem größeren Ziele dienen soll ^j.
Zu einigen Sondergebieten kann auf bequeme Einführungen in den
derzeitigen Forschungsstand verwiesen werden -). Von umfassenderen
Darstellungen ist außer dem schon oben im kulturgeschichtlichen Ab-
schnitt behandelten Werke von A. Dopsch die gründliche, sehr reiche
Literatur verwertende Neubearbeitung von W. Sombarts, Der moderne
Kapitalismus, 2. Aufl., Bd. 1. 2, Leipz. 1916/17, zu nennen, aus der auch
für das MA. viel zu lernen ist, wenn auch der Schwerpunkt des Buches
natürlich in der Behandlung der neuzeithchen Entwicklung liegt. An
die ablehnende Besprechung v. Belows in dem gleich zu nennenden
Buche hat sich eine erneute Auseinandersetzung geknüpft.
1) Einige Dissertationen aus v. Belows Freihurger Schule ziehen den Kreis der
Betrachtung für einzelne Wirtschaftszweige von vornherein weiter, wie etwa Lotte
Wever, Die Anfänge des deutschen Leinengetcerbes bis 7:nm Ausgang des 14. Jahrh.,
1918, und W. Lauenstein, Das ma.liche Böttcher- und Küferhanduerk in Deutsch-
land, mit besonderer Rücksicht auf Lübeck, Köln, Frankfurt a. M.. Basel und Über-
lingen (also ohne giößere Zusammenfassung) 1917. — Von den Eheinischen Urbaren
erschien Bd. 3: Die urbare der Abtei Werden a. R. , B. Lagerbücher, Hebe- und
Zinsregister vom 14—17. Jahrh., hrsg. v. R. Köfxschke (Publ. d. Ges. f. rhein. Ge-
schichtsk. XX, 3), Bonn.
2) Ä. Zycha, Zur neuesten Literatur über die Wirtschafts- und Rechtsgeschichte
der deutschen Salinen, Viert, f. Soz. u. Wirtsch. 14, 1918, faßt die Forschunj;en der letzten
beiden Jahrzehnte zusammen ; ./. Lappe, Die Wüstungen der Provinx Westfalen. Ein-
leitung: Die Reehtsgeschichte der icüsten Marken, MüuNter i. W. 1916. gibt eine um-
fassende Einführung in den Forschungstand lür das gesamtdeutsche Siedlungsgebiet;
W. Lotx. Finanxuissenschaft im Handbuch des öff. Rechts. Einleitungsbd. 9. Abt.,
1. u. 2. Lief., Tüb 1916/17, kommt für die Finanzgeschichte des MA. in Betracht,
wenn auch nicht überall die neueren historischen Forschungen verwertet sind, wie
A. Dopsch in Viert, f. Soz. u. Wirtsch. 14, 1918, zeigt.
4*
51
Die Zeit dürfte nun vielleicht bald reif sein für einen neuen um-
fassenden und ersten vollständigen Versuch einer deutschen Wirtschafts-
geschichte. In dem von G. Brodnits herausgegebenen Handbuch der
WirtschaftsgcschüMe, das eine Reihe darstellender Wirtschaftsgeschichten
der einzelnen Länder bieten soll, wird man ihn zu erwarten haben.
Einstweilen hat der Herausgeber selbst den ersten Band einer gründ-
lichen Englischen Wirtschaftsgeschichte, Jena 1918, veröfifentlicht, der die
ma.liche Periode nicht in fortschreitend chronologischer Folge, sondern
nach den einzelnen Gebieten des Wirtschaftslebens behandelt i). Einen
gewissen Ersatz für die noch fehlende Wirtschaftsgeschichte des deut-
schen MA. haben wir jüngst erhalten durch G. v. Belows Probleme der
Wirtschaftsgeschichte, Tüb. 192t), wo wir außer zwei neuen Abhand-
lungen zur älteren deutschen Agrar- und Steuergeschichte ältere, aber
umgearbeitete Studien des Vf. vereinigt finden, die sich mit fast allen
wichtigen Fragen der neueren wirtschaftsgeschichtlichen Forschung be-
schättigen und darum hier als erwünschte Einführung genannt werden
müssen, wenn sie auch aus den Berichtsjahren bereits herausfallen.
Zum Schluß haben wir hier noch der Gesamtdarstellungen der
deutschen Geschichte -) zu gedenken, die natürlich meist auch in die
ältere Zeit kurz zurückgreifen. Sie haben sich um einen beachtens-
werten Versuch gemehrt: K. Brandis Deutsche Geschichte, Berl. 1919.
Aus Kriegsvorträgen erwachsen, ist sie mit ihren 235 Seiten Text sicherlich zu
knapp, daher ungleichmäßig und z. T. skizzenhaft, erhebt sich aber doch über ein
bloßes Kompendium , indem sie die Vorgänge wenigstens in einzelnen Abschnitten
aus den tieferen Volkskräften herzuleiten sucht, auf die verfassungsgescbichtlichen
Entwicklungen Gewicht legt und für den Abschnitt des MA. auch dem Forscher hier
und da Nachdenkliches zu sagen weiß. Erweckt es noch nicht überall den Eindruck,
aus der Fülle historischen Lebens hervorgequollen zu sein, so möchte man ihm Ge-
legenheit wünschen, in einer Neuauflage unter einer gewissen Ausdehnung seines
Umfangs sich dem erstrebten Ideal weiter zu nähern "),
1) E. Lipson, An mtroduction to fhe economic history of England, Bd. I : Ihc
middle ages , London 1915. ist nach der Kritik eine nicht ganz befriedigende Kom-
pilation aus zweiter Hand. Vgl. auch F. Bradshaw, A social history of England,
Lond. u. Cambr 1918.
2) D. Schäfers Deutsche Geschichte erschien 1919 in 7. Aufl.; P. Joachimsen,
Vom deutschen Volk zum deutschen Staat, eine Gesch. d. deutschen Nationalbewußt-
seins (Aus Natur und Geistesw.), Leipz. 1916, behandelt das MA. nur ganz kurz;
E. F. Henderson, A short history of Germany, 2 Bde., Lond. 1916, ist nur eine
bis 1871 unveränderte Neuauflage. Jüngst: A. v. Hofmann, Polit. Gesch. der Deut-
schen 1 (bis 919), Stuttg./ßerl. 1921 (mit z. T sehr anfechtbaren Auffassungen).
3) Lehrzwecken sollen in erster Linie dienen die seit 1916 in Leipzig erschieneneu
Quellen z. Gesch. der ma. Geschichtschreibung : L F. Kern, Geschichtschreiber des
früh. MA.; IL F. Vigener, Deutsche Geschtchtschreiber der Kaiserxeit. Vgl. zur
Historiographie auch die während des Krieges zum Abschluß gekommenen Artikel
von K. Ilampe ülier germanische Geschichtschreibung des ersten Jahrtausends n. Chr.
in Hoops Keallcxikon (s. S. 7). Vgl. auch K. Jacob, Quellenkunde der deutschen
Geschichte im MA. (bis 1400). Göschensche Samml. 279, Berlin 1917.
52
4. Deutsche Kaiserzeit
Vom zehnten Jahrhundert ab steht die deutsche Kaisergeschiehte i)
auf längere Zeit unzweifelhaft im Mittelpunkt der gesamten abendländi-
schen Begebenheiten ; auch als vom Investiturstreit an das Papsttum im
Bunde mit den emporsteigenden nationalen Kräften die deutsche Hege-
moniestellung bekämpft, zeitweilig erschüttert, schließlich unterhöhlt,
lassen sich bis ins 13. Jahrh. hinein die europäischen Geschicke noch
um dies Zentrum gruppieren. So mag eine Literaturbesprechung, auch
wenn sie sich keineswegs auf deutsche Geschichte beschränken möchte,
für diesen Zeitabschnitt denselben Rahmen wählen.
Das Problem der deutschen Kais erpolitik ist seit der berühmten
Auseinandersetzung zwischen v. Sybel und Ficker von Zeit zu Zeit
immer wieder erörtert worden.
Die Mehrzahl der ma.lichen Historiker schien sich auf die Formel geeinigt zu
haben, daß vom modern - politischen Standpunkt aus die kleindeutsche Beurteilung
V. Sybels, in ma.lich-historischer Betrachtung jedoch die großdeutsche Fickers im we-
sentlichen recht behalten habe. Wie jene Erörterung selbst aus politischer Erregung
erwachsen war, so war die Zeit deutscher Saturiertheit seit 1871 ihrer Weiterführung
nicht eben günstig, während neue Erschütterungen sie wieder beleben mußten. Jedoch
ist sie noch kurz vor dem Weltkriege wieder in Fluß gekommen. Nachdem sich zu-
letzt D. Schäfer in seiner Deutschen Geschichte und in einer Besprechung derselben
F. Kern (DLZ. 1912, Nr. 30) dazu geäußert hatten, hat v. Below , der die Emflüsse
persönlicher Politik auf den deutschen Staat des MA. und die Auflösung seiner Ver-
fassung nicht aasschalten wollte, in seinem oben S. 43 besprochenen Buche die Frage
erneut aufgeworfen und gründlich untersucht. Auf dem universalhistorischen Gebiete
will er dem Kaisertum Verdienste nicht abstreiten, stellt sich aber vom nationalen
Gesichtspunkte aus entschlossen auf v. Sybels Seite und sucht in mehreren Punkten
die Schlagkraft der Fickerschen Verteidigung zu entkräften. Ich habe ihm (DLZ. 1914,
Nr. 48) entgegengehalten, daß selbst von diesem Gesichtspunkte aus sich Nutzen und
Schaden der Beherrschung des Papsttums, der Kräftezusammenfassung Mitteleuropas,
der mit der Kaiserkrone verbundenen Unwägbarkeiten, der Verknüpfung mit der
Kultur Italiens nicht so reinlich abschätzen lassen, daß die Verhältnisse verwickelter
liegen, daß aber insonderheit die universalen Momente für den frühma.lichen Menschen
gegenüber den wenig entfalteten nationalen schlechthin entscheidend waren, und
jede Zeit beanspruchen darf, nach ihren eigentümlichen Idealen beurteüt zu werden *).
Gewiß waren die Mittel zur Beherrschung Italiens unvollkommen
und mußten seit der städtisch-geldwirtschaftlichen Entwicklung, die dort
seit dem 11. Jahrh. einsetzte, auf die Länge der Zeit versagen. Das
ist kürzlich von verschiedenen Seiten ausgeführt worden, so von H. Da-
vidsohn, Die Vorstellungen vom alten Reich in ihrer Einwirhung auf
die neuere deutsche Geschichte, S. B. der Münch. Ak. 1917, wo der epi-
sodenhafte Charakter der deutschen Herrschaft und die Unmöglichkeit
eines Obsiegens gegenüber den Städten stark betont werden; so mit ein-
dringender Begründung von L. M. Hartmann, Geschichte Italiens im
MA. IV, 1: Die Ottonische Herrschaft, Gotha 1915.
1) K. Hampe, Deutsche Kaisergeschichte im Zeitalter der Salier utid Staufer,
erschien während des Krieges in 3. u. 4. (gegen die zweite unveränderter) Aufl.,
Leipz. 1916 u. 1919.
2) Eine vermittelnde Stellung hat A. Dopsck, M. I. ö. G. 36, 1915, eingenommen.
53
Die Stärke des Halbbaades liegt iu den der imieroa Geschichte gewidmeten
Abschnitten '). Der Kami^f um das Kirchengut zwischen geistlichen und weltlichen
Gewalten steht da beherrschend im Mittelpunkt. Die Ottonen regierten das Land,
indem sie einen Teil der ürolien durch Begünstigung für sich gewannen und durch
sie die andern niederhielten. Da die erstereu vornehmlich die Bischöfe waren, galt
es ihnen das Kirchengut zu sichern und zu mehren. Nicht ihnen aber gehörte die
Zukunft im Lande, sondern den aufstrebenden Klassen der Valvassoren und Stadt-
bürger. Insofern setzten die deutschen Herrscher auf die falsche Karte, trieben, wie
H. es mit einem leicht zu mißdeutenden modernen Ausdruck nennt, reaktionäre Politik.
Immerhin möchte man bezweifeln, ob für sie ein anderer "Weg gangbar war, wenn sie
die Einheit gegenüber den zersplitternden Sonderinteressen verfechien wollten, sah sich
doch selbst ein Arduiu von Jvrea, dessen „nationales" Königtum H. durchaus be-
streitet, von anderen Anfängen her in die gleiche Richtung gedrängt. Und ein Re-
gierungssystem, das sich über hundert Jahre bewährte, wird man noch nicht deshalb
verfehlt nennen dürfen, weil es gegenüber der weiter fortschreitenden Entwicklung
einmal versagen mußte. Auch sonst neigt H. etwas zu sehr zu ungün.stiger Beurteilung
der Politik Ottos L, namentlich gegenüber dem technisch gewiß auch darin überlegenen
Byzanz. Solange Otto lebte, war doch der Erfolg im allgemeinen auf seiner Seite.
Aber eine derartige Politik des Balauzierens im Innern und nach außen hing .stark
ab von der Persönlichkeit des Kaisers. Nicht ebenso glücklich wurde sie von den
beiden Nachfolgern gehandhabt. In ihrer Beurteilung folgt H. im allgemeinen, wenn
auch mit mancher bemerkenswerten Einzelbeobachtung, der herrschenden Meinung;
mit dem Tode Arduins von Ivrea bricht seine Darstellung, die, wie in den vorigen
Bänden für uns eine erhebliche Bereicherung bedeutet, einstweilen ab.
Ihr berufenster Beurteiler war wohl Fed Schneider auf Grund seiner
umfassenden Studien zu dem Buche Die ReichsverivaUung in Toskana
von der Gründung des Lanyohardenreiches bis sum Ausgang der Stau f er
(568 — 1268), dessen erster vor dem Kriege erschienener Band: Die
Grundlagen (Bibl. d. kgl. preuß. hist. Inst i. Rom XI), Rom IUI 4, sich
allerdings überwiegend noch in der stark nachwirkenden Langobarden-
zeit bewegt, bei der ebenso mühevollen, wie dankenswerten Umschreibung
des Reichsgutes und der Reichsabteien Toskanas aber auch bis in das
11. und 12. Jahrh. vorgreift.
Dem Erscheinen des eigentlichen Ilauptteils, der ., die Organisation der Reichs-
verwaltung, ihre Tätigkeit, Ziele und Entwicklung, ihre Reorganisationen und ihren
Untergang infolge des Falles des staufischen Kaiserhauses und der Tätigkeit Karls I.
von Neapel als toskanischen Reichsvikars von Papstes Gnaden" darstellen soll, wird
man mit begreiflicher S])annung entgegensehen; wird er doch zur Beurteilung der
Italienpolitik unsrer deutschen Herrscher wenigstens für einen wichtigen Gebietsteil
eine über Fickers Forschungen noch hinaus gesicherte Grundlage bieten. Eine wert-
volle Vorarbeit dazu sind die von Schneider veröffentlichten Analecta Toscann^ Quell.
n. Forsch, aus it. Bibl. u. Arch. 17, 1914, mit wichtigen unedierten Kaiserurkunden
und andern Dokumenten des 10. bis 13. Jahrb., die eingehend erläutert sind. Auch
hat Schieider, Zur Qeschic.lite der OUonen, Viert, f. Soz. u. Wirtsch. 14, 1918, den
Gang des Ilartmannschen Buches mit eindringlichen ergänzenden Bemerkungen be-
gleitet *), auch gelegentlich eine abweichende Ansicht begründet. So will er von den
Otto 111. zugeschriebenen Phantastereien nach der Untersuchung Halphens mehr als
H. in Abzug bringen und erblickt in seiner tatsächlich geführten Politik im An-
1) O. Salrioli, Sloria ecoiiomica dltalia ncW alto niedio evo. Le nostri origini,
Neap. 1914, vereinigt zwei ältere, hier umgearbeitete Studien, die zeitlich etwa bis
z. J. 1000 reichen.
2) Vgl. auch H. Viert. 18, 1916, S. 141 und die Besprechurg von Mathilde
Uhlir%, M. I. ö. G. 37, 1917, von R. HolUmann, II. Z. 121, 1920.
54
Schluß an H. Reincke - Blocli überwiegend das klare Wollen des Bischofs Leo von
Vercelli.
Wird so an der Aufhellung der Reichsverwaltung Italiens im ein-
zelnen unaufhörlich gearbeitet, so hat inzwischen die Weltkriegskata-
strophe mit ihren Umwälzungen weitere Antriebe zu erneuter Über-
prüfung der Auffassung im großen gebracht, Antriebe, die, wie mir
scheint, sämtlich mehr auf die Betrachtungsweise Fickers zurückführen:
zuerst der Wunsch nach einer engeren Verknüpfung der Kräfte Mittel-
europas, dann der Zusammenbruch, der zum Teil doch auch deshalb
erfolgte, weil die alte mitteleuropäische, auch über die Alpen hinab-
reichende Vereinigung gegenüber den Feinden ringsum nicht zustande
kam ; weiter das Scheitern der kleindeutschen Lösung, das von der Not
geförderte erneute Emporwachsen des großdeutschen Gedankens, endlich
die anbrechende Krise des Natiopalismus und die keimende Sehnsucht
nach höherer universaler Vereinigung; der Anlauf dazu in dem zunächst
noch mißgestalteten Völkerbunde. Es sind keineswegs flache Geister,
die heute in der universalen Ordnung des MA. mit kaiserlicher oder
päpstlicher Spitze den vollkommensten Kosmos erbUcken, den Europa
jemals gehabt habe. Aus solcher Sehnsucht heraus wird man sich
künftig vermutlich noch weiter mit diesen Problemen befassen. Im
Grunde ist es ja freilich die antike Weltreichsidee, die sich gegenüber
dem germanischen Nationahtätsprinzip solange siegreich behauptete, als
sich die Verwirklichung des Friedensideals durch sie noch nicht als
unmöglich erwiesen hatte, was im späteren MA. offenkundig wurde.
Den Widerstreit der beiden Mächte hat U. Finke dargelegt in einer
bedeutenden Rede : Weltimperialismus und nationale Regungen im
späteren MA., Freiburg i. B. u. Leipz, 1916.
Ihr Wert liegt vielleicht weniger in der Führung der großen Züge, die ja im
allgemeinen bekannt waren, als in dem reichen Inhalt vorzüglich gewählter Belege,
welche die beste Grundlage für jeden bieten, der sich weiter mit diesen Fragen be-
schäftigen will.
Kur in losem Zusammenhange mit dem Thema steht die Abhandlung von
H. Prutx, Die Friedensidee im MA., S. B. der Münch. Ak.. Münch. 1915 (fast wörtlich
übernommen in das Buch: Die Friedensidee, ihr Ursprung, mifümilicher Sinn wid
allmählicher Wandel, Münch., Leipz. 1917). Es werden da nur wenige Hauptmomente
aus der Entwicklung herausgehoben (Gottesfrieden, Kaiser Heinrich II L, Jungfrau von
Orleans, die Pläne Pius IL und Pauls IL); eine wirklich eingehende Geschichte der
Idee bliebe noch erst zu schreiben. Andrerseits hat R. Finke, Der Gedanke des
gerechten u. heiligen Krieges in Gegenwart u. Vergangenheit, Freib. i. B. 1915 , aus
kriegstheoretischen Schriften ma.licher Kanonisten und Theologen mancherlei Wert-
volles mitgeteilt, ohne freilich damit dies wenig betretene Literaturgebiet im Rahmen
einer Rede ausschöpfen zu können. Lockend konnte es erscheinen, mit der ma.lichen
Kaiseridee den modernen Imperialismus zu vergleichen, wie es A. Werminghoff, Der
Imjierialisnins in Gegenwart u. Vergangenheit, Grenzboten 76, 1917, versucht hat.
Wenn er als den Hauptunterschied die materiellen Ziele des einen, die religiöse
Färbung des ;;adcni hervorhebt, so möchte man statt dessen stärker die ganz ver-
.schiedeuen Ausgangspunk':e betonen: gegenüber der aus dem römischen Weltreich
übernommenen univer.salen Idee des ma.lichen Kaisertums die Übersteigerung des
Nationalismus der Gegenwart, die letzten Endes auf die dem Kaisertum feindlichen
Bildungen des späteren MA. zurückzuführen ist. — Von sonstigen Arbeiten zur Kaiser-
idee des MA. sei hier nur noch genannt eine Rede des Verfassers unserer neuen
republikanischen Reichsverfassung H. Prenß, Die Wandlungen des deutschen Kaiser-
55
gedankens, Berl. 1917, in welcher die Bedeutung des deutschen Königtums sich denn
doch allzusehr hinter der des Kaisertums verflüchtigt *).
Wer weiß, ob uns nicht die nächste Zukunft den Versuch einer
Wiederbelebung der alten Kaisersage in gewissen Schichten des Volkes
bringen wird? Die Forschung hat auch in den letzten Jahren an ihrer
Erkenntnis weitergearbeitet. Der darum besonders verdiente F. Kam-
pers untersucht in der Abhandlung, Die Gehurtsurhunde der ma.lichen
Kaiseridee, Hist. Jahrb. 36, 1915, noch einmal und in einer von seiner
früheren wesentlich abweichenden Auffassung die berühmte 4. Ekloge
Vergils.
Jüdisch-messianische Vorstellungen, eine verklärende eschatologische Umbildung
des an Alexander d. Gr. anknüpfenden "Weltherrscherideals, scheinen ihm hier jetzt
unter Vermittlung der Cumäischen Sibylle im Gegensatz zum Nationalrömertum zum
erstenmal auf den Westen einzuwirken, um von da aus auf das ganze MA. ihren Ein-
fluß zu üben.
Ein Fund aus einer Reimser Briefsammlung, den K. Hampe, Eine
frühe Verknüpfung der Weissagung vom Endkaiser mit Friedrich IL
und Konrad IV., S. B. der Heid. Ak., 1917, mit Erläuterungen ver-
öffentlicht hat, wirkt als eine Bestätigung im Sinne der von Kampers
seit langem vertretenen Forschungsrichtung.
Es liegt hier die allerfrüheste Beziehung der mit Vorstellungen des Sonnenkultes
durchsetzten Sage vom Friedenskaiser am Ende aller Zeiten auf Friedrich II. un-
mittelbar nach seinem Tode und auf seinen in Italien erwarteten Sohn Konrad IV.
vor; diese mit der tiburtinischen Sibylle verknüpfte, in dem kaiserfreundlichen Tivoli
entstandene Weissagung bildet zugleich das bisher vermißte Mittelglied zwischen den
pseudo-joachitischen Prophetien der Gegner des Kaisers und der ghibollinischen Aus-
gestaltung der Sage auf deutschem Boden. Eine besondere Lokalentwicklung dieser
lej:zteren hat W. Erben, Untersberg-Studien. Ein Beitrag zur Oeschichte der deutsehen
Kai^ersage, Mitt. der Gesellsch. f. Salzb. Landesk. 54, 1914, gründlich behandelt, in-
dem er sie letzten Endes auf die Beziehungen Friedrichs I. zu Salzburg zurück-
führen will ').
Das dem ma.lichen Imperium zugewandte Interesse der Forscher
hat sich in fördernder Weise namentlich mit den Formen der Kaiser-
krönung, ihrer Entwicklung, ihrer Symbolik und der Bedeutung ihrer
Wandlung lür das Verhältnis zum Papsttum beschäftigt. H. Günter
hat Die römischen Krönungseide der deutschen Kaiser von 754 — 15S0
(kl. Texte f. Vorles. u. Üb. H. 132), Bonn 1915, für Unterrichtszwecke
herausgegeben und in der Abhandlung Die Krönungseide der deutschen
Könige im MA. (Forsch, u. Versuche, Festschr. f D. Schäfer), Jena
1915 ^) dargetan, daß es sich da, abgesehen von dem Eide Albrechts I.,
1) Die Schriften von A. Paquet, Der Kaiserg edanlce, Frankf. a. M. 1915; F. Stieve,
Die deutliche Kaiseridee im Laufe der Jahrhunderte, kommen für das MA. wenig in
Betracht. R Scholz, Zur Geschichte des ma.lichen K lisergcdankrns, Zeitschr. f. Politik
VII, 1914, ist nur eine wesentlich ablehnende Besprechung älterer Schriften von
Stengel, Reincke-Bloch und Kampers. Vgl. auch E. IL Zeijdel, Tlie Holy Roman Em-
pire in (Jerman literature. New York 1918.
2) Vgl. auch P. Hosp, Ketxertum und detdsche Kaisersage beim Minoriten Jo-
hann V. Winierthur, Franzisk. Stud. 3, 1915.
3) Zur ma.lichen Krönungssymbolik vgl. ebenda F. Kern, Der Rex et Sacerdos
in bildlicher Darstellung. ,
56
den er in diesem Sinne auslegt, nirgends um ein Vassallitätsverhältnis
zum Papste handle, die gegenteilige Behauptung Klemens' V. daher eine Ent-
stellung sei. Für das spätere MA. kommen hier die eindringlichen Unter-
suchungen R. MoeUers in dem unten noch weiter zu berücksichtigenden
Buche Ludivig der Bayer und die Kurie im Kampf um das Reich
'Eherings Hist. Stud. 116), Berlin 1914, in Betracht. Auf beiden Arbeiten
und eigenen älteren Studien fußt E. Eichmann, Die römischen Eide
der deutschen Könige, Z. f. R. 37, k. A. 6, 1916, der auch eine Über-
sicht über die sonstige neuere Literatur zu dem Gegenstande gibt, aber
er führt seine Untersuchung in manchem Punkte darüber hinaus.
Sicherheits- und Treueid sind nach ihm nicht -wesentlich verschieden ; bei beiden
aber fehlt zur Vassallität die Mannschaft. Die anfangs wechselseitigen Treuegelöbnisse
werden im 12. Jahrh. durch Schwinden der päpstlichen einseitig. Unter den Krönungs-
ordnungen bedarf der Ordo Cencius II. noch immer der genaueren zeitlichen Be-
stimmung*); das Wort „fidelitas" darin bleibt umstritten. Seit 1198 wandeln sich
die Beziehungen zur Überordnung des Papsttums, was im einzelnen dargelegt wird.
Ein Lehnsverhältnis ist aber (gegen Moeller) auch von Albrecht I. nicht eingegangen,
da Homagium und Investitur fehlen ; sein Eid trug die Form des Untertaneneides. Die
kuriale Theorie von der kaiserlichen Lehnsabhängigkeit tritt offen erst 1312 zutage
und wird 1317 durch Aufnahme in die Klementinen ein fester Satz des kanonischen
Rechts. E. schildert, wie sie sich allmählich ausgebildet, wie die deutschen Könige
ihr mehrfach durch Entgegenkommen Vorschub geleistet, und betont scharf ihre letzte
Herleitung aus dem Papstkaisertum der konstaatinischen Schenkung. Zuletzt wird
die Entwicklung des Eömereides verfolgt. Auch wenn man in einigen Punkten ab-
weichender Meinung sein kann "■'), wird man die hier nur flüchtig angedeuteten gründ-
lichen Darlegungen hoch einschätzen. Ergänzend tritt dazu von demselben, Die Adoption
pes deutschen Königs durch den Papst, Z. f. R., g. A. 37, 1916. Wiederum auf Grund
jener konstantinischen Schenkung, deren Bedeutung immer höher gewertet wird, haben
Päpste des 9. Jahrb., so wird hier gezeigt, versucht, das 754 mit den Frankenherrschern
eingegangene Verhältnis einer geistigen Vater- i^nd Sohnschaft umzubilden zu einer
Kaiserdesignation nach spätantikem Vorbild. Daß nun aus dieser zum Designationsakt
gestalteten Adoption sich letzten Endes die später von den Päpsten beanspruchte Appro-
bation herleite, ist doch nicht zwingend erwiesen ; sie konnte mindestens ebenso leicht
aus der Krönungsbefugnis unmittelbar entwickelt weiden.
Da das Interesse für diese und ähnliche Fragen so lebendig ist,
so werden übersichtliche Zusammenstellungen, auch wenn sie nicht zu
wesentlich neuen Ergebnissen führen, willkommen sein^). Andere Arbeiten
befassen sich mit den Reichsinsignien, deren Geschichte und Bedeutung
im einzelnen noch immer weiterer Aufhellung bedarf ^).
1) In den Studien xur Geschichte der abendländischen Kaiserkrönung , Hist.
Jahrb. 39, 1919, wo der Anteil der laterauensischen Bischöfe an der Krönung unter-
sucht wird, begründet ders. noch einmal die Zuweisung jenes Ordo in die Ottouenzeit.
2) Vgl. auch A. Hofmeister, H. Z. 118, S. 151 u. 154 ff.
3) Eoa Sperling, Studien xur Geschichte der Kaiserkrömoig und Weihe, Diss.
Freib. i. B. 1918, erörtert derart Herkunft und Bedeutung der Teile des Krönungs-
zeremoniells. Gerda Baseler, Die Kaiserkrönungen in Rom und die Römer von
Karl d. Gr. bis Friedrich II., Diss. Freib. i. B. 1919, führt für die einzelnen Her-
gänge das bekannte Material auf.
4) A. Werminghoff , Von den Insignien u. den Reliquien des alten heiligen
römischen Reiches, Neue Jahrb. 23, 1914, verfolgt deren Schicksale rückwärts und
gibt u. a. über den geistlich-weltlichen Doppelcharakter des Kaisertums nähere Aus-
führungen. Derselbe hat im Anschluß an das 1914 erschienene unzulängliche Buch
von E. Guglia , Geburts-, Sterbe- u. Grabstätten der röniischen Kaiser u Könige
0<
Eine von K. Burdach im Zusammenhang mit seinen Rienzostudien
(vgl. oben S. ^ß) hingeworfene Skizze hat E. Sehoenian, Die Idee der
Volkssouveränitüt im ma.Hchcn Rom (Frankf. Hist. Forsch., N. F. H. 2),
Leipz. 1919, zu einem Gesamtbilde ausgeführt.
Die Ge.schichte jener Idee, die als Quelle do.s Kai.sertums wiederholt mit dem
Papsttum in freilich meist ohnmächtige Mitbewerbung gotn^ten ist, wird hier erstmalig
in umsichtiger und wirklich fördernder Weise zur Darstellung gebracht. Daß der
Stoff in solchem ersten Wurfe eines Anfängei's nicht bis ins Letzte erschöpft werden
konnte, verhehlt sich der Verf. selbst nicht. Namentlich die Vorgänge aus der Mitte
des l;j. Jaiirh. dürften für das Reifen der Idee etwas zu leicht behandelt sein. Es
ist immer bedenklich, den der spätantiken Rhetorik nachgebildeten Stil jener Zeit als
phrasenhaft zu verwerfen, statt sich um sein genauestes Verständnis zu bemühen.
Den Versuch wenigstens möchte ich machen , ob sich hier nicht durch zeitlich be-
grenztere Untersuchungen einiger Schüler noch eigänzeuder Stoff gewinnen läßt ^).
Wenden wir uns den Einzelforschungen zunächst der Ottonenzeit
zu, so wird der Umfang unserer spärlichen Quellen da wohl kaum
noch eine Erweiterung erfahren; an ihre schäriere Erfassung und Aus-
legung müssen die geringen hier noch möglichen Erkenntnisfortschritte
anknüpfen. Was Wunder, daß man ihnen da gern mehr abpressen
möchte, als sie hergeben können.
Wer wie ich zu "\^'idukinds Sachsengeschichte die scharfsinnig durchgeführte
Hypothese von H. Reincke-Bloch über die frühe Bearbeitung von 958 zum mindesten
als nicht erwiesen ansieht*), wird mit den darüber weit hinausführenden unsicheren
und teilweise ganz unwahrscheinlichen Vermutungen von Gerta Krabbel, Hat Widu-
kind seinen Res (jesfae Saxonieae die Form, in welcher wir sie Iieute besitxen, selbst
gegeben? (Abh. üb. Corveyer Geschichtschreibung, 2. Reihe'), hrsg. v. F. Philippi),
Münster i. W. 1916, trotz der ritterlichen Verteidigung Philippis (H. Z. 119, 1918),
schwerlich etwas anfangen können. Es heißt zu viel von der inneren Kritik eines
Werkes verlangen, daß man verschiedene Schichten seiner Entstehung und tlber-
arbeitung voneinander glaubt sondern zu können, und die ganze These von der Nicht-
vollenduug durch Widukind selbst schwebt doch einigermaßen in der Luft.
Die Werke Liutprands von Cremona, die man bisher im Autograph
des Verf, als das man die Münchener Hs. ansah, zu besitzen glaubte,
sind von J. Becker, Liutprandi episcopi Cremonensis opera, ed. III in
unter dem Titel: Zur Ikonographie des deutschen MA., D. G. Bl. 18, beachtenswerte
Bemerkungen gemacht. /'''/•. Kampers, Der Waise, Hist. .Lihrb. 39, 1919, knüpft an
den bckanntim Edelstein der Kaiserkrone weltweite sagengeschichtliche Betrachtungen,
die Benennung und Vorstellungskreis auf den Orient zurückführen, was er üi)rigens
auch für die sonstigen Symbole des Kaisertums feststellt, für die nur ein spärlicher
germanischer Einschlag anzunehmen ist,
1) A. de Boiiard, La su~.erainete du pape stir Rome aitx 13 et 14 siecles, Rev.
hist. llfi, 1914, sucht durch lose gefügte Bemerkungen deutlich zu machen, daß sich
trotz der republikanischen Selbständigkeit der Stadt aus der kirchlichen Stellung des
Papstes doch immer wieder eine Art Suzeränität über Rom ergab.
2) Vgl. K. Ilampe, Artikel Widukind in Hooijs' Reallexikon d. germ. Alt. IV,
1918/19.
3) Die sonstigen Forschungen des Bandes von 11. Schwcrtmann über „die Glaub-
würdigkeit von Üstertafeln" und von F. Philippi über den ,,liber vitae"', das Ver-
brüderungsbuch des Klosters Corvey 1147— 7G haben, ohne des allgemeineren Inter-
esses zu entbehren, mehr lokalhistonscheu Charakter. Vgl. P. Lehmann, Corveyer
Studien , Abh. d Münch. Ak. .'Jü, 1919 {namentl. über die Geschichte der Kloster-
bibliothek).
58
SS. rer. Germ., Hann. Leipz. 1915, zuerst auf die richtige Hss.grund-
lage gestellt worden, wie sie der Herausgeber in vorbereitenden Ab-
handlungen bestimmt hatte, und damit wesentlich verbessert.
Für die italisch-burgundische Geschichte in der ersten
Hälfte des 10. Jahrh. hat man daneben eine neue Stütze gefunden in
den Urkundenausgaben der Fonti per 1. stör. d'Italia von L. Schiaparelli,
der dazu in der Schrift / JDlplonii di Ugo e di Lotario im Bull. delF
Ist. stör. it. 34, 1914, historisch -diplomatische Untersuchungen gefügt
hat. So ergeben sich Handhaben, um diesen dunklen Geschichts-
abschnitt wenigstens an einigen Punkten aufzuhellen.
Schon Ä. Hofmeister, Deutschland und Biirgund im früheren MÄ.,
Leipz. 1914, hat da über die jüngeren französischen Forschungen,
namentlich Poupardins, hinaus eigne Ergebnisse gewonnen.
Besonderen Eindruck hat der versuchte Nachweis gemacht, daß die durch Ab-
tretung uiederburguudischer Ansprüche König Hugos von Italien an Rudolf II. von
Hochbargund um 933 erfolgte Vereinigung der beiden burgundischen Reiche, von der
man in allen Uaudbüchern liest, auf einem Irrtum Liutprands beruhe, wie übrigens
schon R. Köpke 1842 vermutete und neuerdings auch Schiaparelli annimmt. Vielmehr
habe Hochburgund diese Ausdehnung über die südliche Hälfte des arelatensischen
Königreiches erst in den vierziger Jahren unter Rudolfs IL Sohn Konrad erlangt, und zwar
mit dem starken Rückhalt an Otto dem Großen . dessen Einfluß nun klarer und be-
deutender hervortritt. Jene Annahme eines vollkommenen Irrtums bei Liutprand ist
indes in Deutschland und im Auslande neben Zustimmung auch Zweifeln begegnet,
so bei B. L. Poole, Burgundian notes, Engl. bist. Rev. 30, 1915, der sonst namentlich
die schwäbischen Abtretungen König Heinrichs I. an Rudolf II um 926 behandelt
und hinsichtlich ihres Umfangs (Aargau '? Basel?) zu keinem sicheren Ergebnis kommt.
Vor allem aber scheint C. W. Previte Orton, Itahj and Provence 9t)0 — 050, Engl,
bist. Rev. 32, 1917 '■), der auch sonst beachtenswerte Richtigstellungen genealogischer
und chronologischer Art vorschlägt, eine ansprechende Deutung gefunden zu haben.
Er nimmt Abtretung der außerhalb der eigentlichen Provence gelegenen Territorien
von Vienne und Lyon um 931 an Rudolf IL an , die diesem allerdings 933 durch
westfränkische Einmischung verloren gehen, aber seinem Nachfolger Konrad um 937
und 942/3 wieder zufallen. Die eigentliche Provence gewinnt Konrad erst nach dem
Tode Hugos (10. Apr. 948), der, aus Italien 947 geflüchtet, seine letzte Lebenszeit
dort noch wieder zugebracht hat.
Für Mittelitalien um die AVende des 9. u. 10. Jahrh. ergibt einige Nachrichten
die Translatio Juvenalis et Cassii episcoporimi Narniensium Lucani, die A. Hof-
meister, N. A. 41, 1919, untersucht hat, zugleich auch einen bisher unbeachteten frühen
Beleg für den bei der Weinsberger Frage vielerörterten Brauch, daß die Einwohner
einer belagerten Feste soviel Habe mit sich nehmen dürfen, wie sie tragen können *).
Die für die niederrheinischen Verhältnisse zur Zeit Kaiser Heinrichs IL ^) wert-
volle Chronik Alperts von Metz ist naqh der bereits früher im Faksimile veröffent-
lichten hannoverschen Hs. in neuer .'Ausgabe herausgebracht von Ä. Huhhof, Alperti
Mcttensis De diversitate temporiim, mit Einleitung von C. Pijnacker Hordijk (Utrechter
bist. Gesellsch. 3. Serie n. 87), Amsterd. 1916.
1) Vgl. auch: f/crs., Charles Constantine of Vienna, Engl. bist. Rev. 29, 1914.
2) F. Savi'o, Gioranni Diacono hiografo dei rescori napoletani, Atti d. R. Accad.
d. scienze di Torino 50, 1914/15, bestimmt als Abfassungszeit des größten Teils das
erste Jahrzehnt des 10. Jahrh.
3) Vgl. H. Schöppler, Die Krankheiteii Kaiser Heinrichs II. und seine ,, Josephs-
ehe", Arch. f. Gesch. der Med. 11.
59
Zur Geschichte der ottonischen Herrscher sind nur ganz
wenige Arbeiten zu nennen ^).
Das Verhältnis zu Dänemark behandelte Annemarie v. Liliencron,
Die Beziehungen des Deutschen Reiches zu Dänemark im 10. Jahrh.,
Kiel 1914 (auch Z. d. Ges. f. schlesw.-holst. Gesch. 44).
Das wichtigste Ergebnis ist, daß die Urkunde Ottos I. v. 26. Juni 965, durch
welche die drei jütischen Bistümer von Abgaben an den kaiserlichen Fiskus befreit
werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit für echt zu halten ist, was einen weitreichen-
den Einfluß des Kaisers in Jütland dartut. Während aber A. Hofmeister, H. Z. 118,
S. 157 ff., daraus ein großangelegtes Vorschieben der deutschen Macht unter den ersten
Ottonen und entgegen der fast allgemein angenommenen Meinung Steenstrups auch
das Bestehen einer schleswigschen Mark folgert, bevorzugt W. Biereye, Untersuchungen
xur Geschichte Nordalbingiens im 10. Jahrh., Z. d. Ges. f. schlesw.-holst. Gesch. 46,
1916, eine beachtenswerte andre Erklärung: Otto habe nur, um dem Mißtrauen der
Dänen zu begegnen, daß Christianisierung und deutsche Herrschaft gleichbedeutend
seien, auf Rechte verzichtet, die ihm als Schutzherrn der Bremer Kirche über deren
Suffragane zustanden. Wie er betreffs der schleswigschen Mark einen Irrtum des
späteren Adam von Bremen annimmt, so verwirft er auch die von v. Liliencron
verteidigte Nachricht des letzteren, Heinrich I. habe nicht nur den angrenzenden dä-
nischen Teilherrscher Chnuba, sondern auch den seeländischen König Gorm, der in
Jütland eingedrungen, in Tributabhängigkeit gebracht.
Für die Ostpolitik kommt vor allem der schon oben S. 37 an-
geführte 2. Bd. von Ä. Naegles Kirchengeschichte Böhmens in Betracht,
der natürlich die Beziehungen Böhmens zum Reiche eingehend be-
handelt. Teilweise in Übereinstimmung damit steht eine diplomatische
Untersuchung von R. HoUzmann, Die Urkunde Heinrichs IV. für Prag
vom J. 1080, Arch. f. Urk.forsch. 6, 1918, der indes nachweist, daf5
das 973 von Otto I. gegründete, 975/76 zur Ausführung gebrachte Bis-
tum Prag seit dem Adalbertprivileg von 985 auch der mährischen
Kirche übergeordnet gewesen ist, bis diese sich 1063, endgültig 1090
aus dieser Abhängigkeit löste. Ders., Böhmen und Polen im 10. Jahrh.
Eine Untersuchung zur ältesten Geschichte von ScMesien, Z. f. Gesch.
Schles. 25, 1918, hat aus seinen Forschungen die Folgerungen für
Schlesien gezogen, dessen politische und kirchUche Zugehörigkeit zu
Böhmen er für das Gebiet links der Oder in der 2. Hälfte des 10. Jahrh.
erweist.
Auf den Westen gerichtet war die Tätigkeit von Ottos Bruder
Brun, der als Politiker und Mensch eine sehr feinsinnige Würdigung
erhalten hat durch H. Schrörs, Erzh. Bruno von Köln 953 — 65, eine
geschichtliche Charakteristik, Ann. d. bist. Ver. f d. Niederrh. 100, 1917.
Seinem klugen und kräftigen Eingreifen gegen den einheimischen Adel
verdankte man in erster Linie die sichere Angliederung Lothringens
an das Reich ^). Darüber hinaus griff er wiederholt wie eine höhere
Autorität in den Hader der westfränkischen Neffen ein.
1) Vgl. //. Roggc, Verbrechen des Mordes, begangen an weltlichen deutschen
Fürsten i. d. Zeit r. UlJ—lOöe. Diss. Berl. 1918, wo versucht wird, aus der spärlichen
Zahl der Belege eine höhere Rechtssicherheit in Deutschland gegenüber andern Län-
dern zu folgern.
2) Hier sei gleich hingewiesen auf das schon vor Kriegsausbruch abgeschlossene
Buch von li. Parisut, Histotre de Lorraine I Des origines ä 1552, Par. 1919, sowio
60
Die ältere französische Geschichte gewinnt allmählich eine
gesicherte Grundlage in den Bänden der Charles et Diplomes relatifs
ä Vhistoire de France.
Vou der jetzt unter der Leitung von M. Prou stehenden karolingischen Ab-
teilung kommt hier in Betracht: Reeueil des actes de Louis IV. (936 — 954) von
Ph. Lauer, Paris 1914. Von der kapetingischen, die E. Berger leitet, erschienen, um
das hier gleich anzuschließen, während des Krieges die Bände: Reeueil des actes de
Philippe- Auguste I (1179 — 1194) von H Fr. Delaborde, Paris 1916 und Reeueil des
actes de Henri IL , concernant les provinces frangaises et les affaires de France , zu
der 1909 erschienenen Introduction L. Delisles auf Grund von dessen "Vorarbeiten
jetzt Bd. 1. von F. Berger, Paris 1916')-
Zur inneren Frühgeschichte Frankreichs hat dort einige Bewegung
hervorgerufen das Werk von J. Flach, Les origines de Vancienne France,
dessen 4. Bd.: X et XI siecles. Les nationalites regionales; leurs
rapports avec la couronne de France, Paris 1917 erschien 2).
Diese neue, mit großem Aufwand von Gelehrsamkeit und kritischem Scharfsinn
versuchte Grundlegung der französischen Verfassungsgeschichte will dem Königtum
bis über die Mitte des 12. Jahrh. hinaus keine lehnsherrlichen Rechte über die großen
Seigneurs zugestehen. Der Mangel an Quellenbelegen über Lehnshuldigungen erklärt
sich nicht aus tatsächlicher Vernachlässigung bestehender Rechte , sondern aus deren
Nichtvorhandensein. Diese Auffassung erfährt bei aller Anerkennung der Leistung
scharfen Widerspruch ^).
Neuerliche (übrigens nach älteren Vorgängern unternommene) Ver-
suche von französischer (J. Flach in Rev. des et. hist. Juli/ Aug. 1916)
und belgischer ^eite (31. Wilmotte, Rev. hist. 127, 1918), das lateinische
Waltharilied nicht nur dem Mönche Ekkehard von S. Gallen, sondern
überhaupt dem deutschredenden Gebiet abzusprechen und etwa dem
romanischen Lothringen zuzuweisen, verdienen deutscherseits gründlich
unter die Lupe genommen zu werden, wie das von K. Strecker, Z. f d.
Alt. 57, 1919 und für einen ähnlichen Versuch Wilmottes hinsichtlich
des Ruodlieb in N. Jahrb. f. d. klass. Altert, usw. 1921 mit nieder-
schmetterndem Erfolge bereits geschehen ist.
Die mehr den Theologen, als den Historiker interessierende Schrift
von B. SchwarJc, Bischof Bather von Verona als Theologe, Diss. Bonn
1915, die die Abhängigkeit R.s von der Tradition der Kirchenväter
stark betont und ihm wohl individuelle Verarbeitung, aber keine auf-
bauende Kraft zuerkennt, weist uns nach Italien hinüber. Da scheint
auf die Stoffzusammenstellung von Äug. Meyer, Der politische Einfluß Deutschlands
u. Frankreichs auf die Metzer Bischofswahlen im MÄ., Metz 1916.
1) Früher sind erschienen: Lothar u. Ludwig V. (954—87) von L. Ralphen u.
F. Lot; Philipp I. (1059 — 1108) v.M. Prou. Vor dem Abschluß stehen: Heinrich U.
(wie oben), Bd. 2 und die Könige der Provence v. R. Poupardin. Weit gefördert
sind die Könige Äquitaniens v. L. Levillain imd die ersten Kapetinger v. Martin-
Chabot; in Vorbereitung: Ludwig VII. v. L. Ralphen und Ludwig IX. v. G. Daurnet
u. H. Stein.
2) Die Introduction dazu abgedruckt Rev. hist. 126, 1917. Drei weitere Bde.
sollen folgen.
3) Vgl. z. B. L. Ralphen, Rev, hist. 129, 1918. Im Zusammenhang mit dem
Hauptwerk steht J. Flach, Le comte de Flandre et ses rapports avec la couronne de
France du IX. au XII. siede, Rev. hist. 115, 1914.
61
für diese Epoche L. RI. Hartmanns Darstellung (oben S. 53) einen vor-
läufigen Abschluß gebracht zu haben. Gewiß gewinnt die gesamte
Kirchenpolitik Ottos I. und seiner Nachfolger durch Forschungen, wie
sie unten zum Investiturstreit zu besprechen sind, vertiefte Autfassungen.
Zunächst sind hier aber lördernde Einzeluntersuchungen kaum zu ver-
zeichnen.
Weau R. L. Poole, The names and numbcrs of inediaeval popcs, Engl. bist.
Kev. 32, 1917, für Papst Johann XU. die Beueunung Oktavian nur als Beinamen zu
dem ursprünglichen Taufnamen Johann annimmt und dann bei Johann XIV. (983),
der seinen Namen Petrus aus Ehrfurcht vor dem Apostel vermied, den frühesten
Eall einer päpstlichen Namensänd(;rung erblickt, so ist beides zu bezweifeln; sonst
aber bieten für die folgenden Zeiten P.s Bemerkungen wertvolle Anregungen. Die
Arbeit eines meiner Schüler wird, wie ich denke, über seine Bemerkungen und die
früheren von Knöpfler hinausführen *).
Für das byzantinische Italir-n sei hier hingewiesen auf das zeitlich umfassende
Buch von Baromie Diane de Guldencrone, nee de Gohineau, L'Italie byxantine. Etüde
siir le haut inoyen äge (400 — 1050), Paris 1914. Gerade für die letzten beiden Jahr-
hunderte dürfte es sicii an das bekannte Buch von J. Gay, das 1917 in italienischer
Übersetzung erschien, anschließen und wenig Originalwert haben. Daß Byzanz auch
für die Geschichte der Ottonen nicht vernachlässigt werden darf, zeigt der oben S. 27
genannte Vortrag von J. Burckhardt. Zum Verständnis Ottos III. trägt es doch viel-
leicht bei. wenn wir uns ennnern, daß er der Urenkel jenes Konstantin VII. Porphyro-
genitus war, der ein ganzes Buch über das Zeremoniell seines Ilofos schrieb und auf
diese Dinge ein übertriebenes Gewicht legte '^).
Die Zeit der Salier eröffnet die neue Ausgabe der Wijwnis Opera
(SS. rer. Germ.) ed. lil. hrsg. v. H. BreßUm, Hann.-Leipz. 1915, jetzt
mit deutscher Einleitung und Anmerkungen; schon durch ihren ver-
doppelten Umfang zeigt sie die starke Bereicherung gegenüber der
zweiten Auflage^). Im Anhang sind, wie bisher, zwei vielleicht Wipo
zuzuweisende Gedichte aus der Cambrido;er Liederhandschrift abgedruckt,
die etwa gleichzeitig von K. Brcul, The Cambridge songs. A yoliards
song hook oj' the 11. Century, Cambr. 1915, mit vollständigem Faksimile
(und dadurch wichtig) neu herausgegeben ist.
Konrads II."*) Mailänder Gegner ist behandelt von E. Wunderlich, Aribert von
Antemiano^ Erxbischof von Mailand, Diss. Halle 1914. Er beurteilt die Aussichten
der Politik des Kaisers ungünstiger, als man gewohnt ist, vermag aber das scharf-
1) Zur frühen Verwaltiuigsgeschichte des Kirchenstaats vgl. 0. Falco^ L'ammi-
7iistrazione papale nella Campagna e nella Marittinia (750 — 1000), Arch. stör.
Kom. 3H, 1915; ders. ebda. 42, 1919: / connmi della Camp, e d. Mar. nel mcdio
evo (,bis E. 12. Jh.).
2) Zu Heinrich II. vgl. L. Zoepf, Deutsche Gottsucher, 1 Heft: Kaiser Hein-
rich IL der Heilige, Tüb. 1915. Vgl. auch P. Verdun di Cantogno, Re Arduino,
Ivrea 1915.
3) A. H()f))ieister. Wipos Verse über die Absta^nnnnuj der Kaiserin Gisela von
Karl d. Gr., llist. Viert. 19, 1919 wird mit seinem neuen Erklärungsvorschlag zum
14. Grade seit Karl, nämlich statt der Generationen die Ilerrscherpaare zu zählen,
schwerlich irgendwelche Gegenliebe finden; da wäre doch etwa die Vermutun«:, Wipo
habe in einer ihm vorliegenden (fremden oder eignen) Notiz Villi (mit Einrechuung
Karls) in XI III verlesen, einfacher.
4) P. S. Leicht, Una carta verolana dcl 1000, Arch. stör. it. 75 II, 1918 ver-
teidigt Breßlaus Bestimmung der Konstitution Konrads II. von 1037, Const. I, 82,
gegen abweichende Zuweisungsversuche.
62
umrissene Bild Ariberts natürlich im großen nicht zu ändern, nur in Einzelheiten
eigne Wege zu gehen.
Aus der weiteren Salierzeit bis zum Ausbruch des Investiturstreites
ist die vorzügliche Editionsleistung von B. Schmeidler, Magistri Adam
Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum ed. III. (ÖS. rer.
Germ.), Hann., Leipz. 1917 zu nennen, eine Frucht langjähriger Arbeit,
die auf Grund der scharfsinnig ermittelten Textgeschichte die Ausgabe
auf eine neue Grundlage stellt und durch umfassende Erläuterungen
bereichert ^). In Übereinstimmung mit der sprachlichen Untersuchung
von E. Schröder, Zur Heimat des Adam von Bremen, Hans. Gesch.bl.
1917 bestimmt er Adams Heimat zwischen den Oberläuten von Werra
und Main und läßt ihn mit Wahrscheinlichkeit aus der Bamberger
Schule nach Bremen kommen. Aus diesen Adamstudien ist auch das
weitere Buch Schmeidler s erwachsen: Hamburg - Bremen und Nordost-
Europa vom 9. — 11. Jahrh., krit. Untersuchungen zur hamhurg. Kirchen-
geschichte des Adam v. Bremen, zu Hamburger Urkunden u. zur nor-
dischen u. ivendischen Geschichte, Leipz. 1918.
Der Untertitel allein gibt die richtige Vorstellung von dem Inhalt, der von jeg-
licher Darstellung absieht. Die textkritischen Untersuchungen zu Adams Werk zeigen
namentlich, wie das Gleichmaß der Charakteristik des Erzbischofs Adalbert durch
spätere Zutaten, eigne und fremde, gestört ist'^j. Die Urkundenforschungen suchen
die Erkenntnis der Hamburger Fälschungen, von denen schon oben S. öl die Rede
war, über F. Curschmann hinaus zu fördern, indem er zwei Papsturkunden des
9. Jahrh. für Fälschungen Erzb. Adalberts erklärt, zwei des 10. Jahrh. der auf ihn
folgenden Generation und die Oründungsurkunde Ludwigs d. Fr. der 2. H.' des
9. Jahrh. zuweist. Der letzte Abschnitt bringt Feststellungen über Todesjahr (1074)
und Ehe des Dänenkönigs Svend Estridsen, über Beziehungen Adams zu den Schweden-
königen, über die Obotritenfürsten des 10. u. 11. Jahrh. und die Lage von Rethra
(am ToUensesee in Meckl.-Strelitz). Die mehrfach abweichenden Aufstellungen von
W. Biereye, Untersuclnmqen xur Geschichte der nordelbischen Lande in d. 1. H. des
11. Jahrh.. Z. d. Ges. f. schlesw.-holst. Gesch. 47, 1917, hat Schmeidler N. A. 41, 1919,
S. 777 scharf zurückgewiesen.
Im übrigen war für die ganze Salierzeit das Interesse der Forscher
nahezu ausschließlich auf die großen kirchenpolitischen Gegen-
sätze gerichtet. Da ist der Ertrag sehr reich. Im Auslande hat man
sich der Päpste des 11. Jahrh. •^), insbesondere auch derer von Sutri
lebhaft angenommen.
1) Vgl. D. Bruun, The Icekmdie colonixation of Oreenland and tlie findiny of
Vineland. Kopenh. 19)8.
2) Vgl. ders., Über eine eigenhändige Urkunde Adams v. Bremen, Arch. f.
Urk.forsch." 6, 1918.
3j R. L. Poole, Papal chronology in the eleventh Century, Engl. bist. Rev. 32,
1917, sucht die genauen Pontifikatszeiten der Päpste bis 1()73 festzustellen. In der
Rivista stör. it. 36, 1919, S 128 wird ohne Ort und Jahr hingewiesen auf eine neuere
Arbeit von Bossi über die Crescenxi di Sabina stefaniani e ottaviani 1012 — llOG.
Vgl. auch /. Oiorgi, Biografie Farfensi di papi del X e del XI secolo, Rom 1916,
■wo der farfensische Ursprung des Pastkatalogs im Cod. Casauatensis 2010 gegen An-
zweiflung Duchesnes verteidigt wird. Derselbe Oiorgi hat gemeinsam mit dem in-
zwischen (1916! verstorbenen Ugo Bahani endlich den fehlenden 1. Bd. des Regesto
di Farfa mit Vorrede, Indices und ergänzenden Urkunden, Rom 1914 herausgebracht,
durch üen das bekannte fünfbändige Werk nun abgeschlossen ist.
63
Daß hier z. ß. die Darstellung Haucks vielfach in die IiTe ging, war ja auch
in Deutschland nicht unbemerkt geblieben. Die Verteidigung des jungen, unwürdigen
Benedikt I\. durch A. Mai/iis S.J., II pontefice Bcnedetto IX., Rom 1916 (aus Civiltii
cattolica) verdient kaum Beachtung. Ernster zu nehmen ist die in Italien wegen
ihrer methodischen Kritik geschätzte Studie von G. B. Bcjrino, L'elexione e la deposi-
zione di Grcgorio VI , Arch. stör. Rom. 39, 1916'). Danach sei dem jungen Be-
nedikt IX. nur die von ihm für das Papsttum ausgelegte Summe zurückgezahlt; von
einem Kauf der Würde durch Gregor VI. könne nicht geredet werden. Heinrich III.
habe ihn auch nicht deshalb abgesetzt, sondern weil er aus politischen Gründen den
Reformer nicht wollte, der auch gegen die Krönung Heinriclis und seiner Gemahlin
wegen der durch zu nahen Verwandtschaftsgrad anstößigen Ehe Schwierigkeiten ge-
macht haben würde. Man wiid diese nicht eben überzeugend erscheinenden Ergeb-
nisse jedenfalls scharf zu prüfen haben. In ähnliche Richtung geht die vorsichtiger
gehaltene Studie von B. L. Pools, Benedict IX and Gregory VI, Proceedings of tbe
Briti.sh Academy VIII, 1918, nach der Gregor jedenfalls keine Simonie zu begehen
glaubte, durch die Art seiner Reformbestrebungen , die auf den jungen Hildebrand
wirkte, aber den kaiserlichen Interessen so hinderlicli war, dal! er weichen mußte.
Es folgten die von Heinrich eingesetzten deutschen Pcäpste -). Unter
Leo IX. bereitete sich nicht nur die Emanzipation des Papsttums im
Abendlande vor, sondern vollzog sich auch 1054 der endgültige Bruch
mit der griechischen Kirche.
L. Brillier, Normal relations hetween Rome and tlie Church of the East before
the Schism of the 11. Century, The Constructive Quarterly, New York Jan. 1917 legt
die formalen Gemeinsamkeiten, den modus vivendi zwischen We.st und Ost dar, der
trotz der Abweichungen noch bestand, bis das Schisma mehr aus politischen, als reli-
giösen Ursachen eintrat.
Das allmähliche Wachsen und den Verlaut' der gregorianischen
Reformbewegung abweichend von der systematischen Behandlung Mirbts
in ihrem historischen Zusammenhange zu schildern und die Stellung zu
bestimmen, die Gregor VIT. selbst in ihr einnimmt, ist die Aufgabe,
die sich A. Fliehe in zahlreichen Schriften gestellt hat. Es sind: Le
cardinal Humhert de Moyenmoutier , Rev. bist. 119, 1915; Guy de
Ferrare, etude sur la polemique religieiise en Italie ä la fin du XL siede,
Ann. d. I. fac. des lettr. d. Bordeaux et des univ. du Midi, Bull, italien 15,
1915; Etudes sur la polemique religieuse ä Vepoque de Greqoire VII.
Les Pregregoriens, Poitiers, Par. 1916; Vclection d'Urhain IL, Moyen
äge 25, 1916; Les theories germaniques de la souverainete ä la fm.du
XL. siecle, Rev. bist. 125, 1917; Llddebrand, Moyen äge 30, 1919.
Den Inhalt dieser Schriften im einzelnen zu skizzieren, würde hier zu weit
führen. Ein Hauptgesichtspunkt ist der, daß Hildebrands geistig tonangebende Rolle
in der Zeit vor seinem Pontifikat überschätzt sei. Er sei da weniger leitender Kopf,
als ausführender Arm der Reformer. Die vorwärtstreibenden Gedanken stammten vom
Kardinal Humbert, dem Juristen und Politiker. Ihm gegenüber habe sich Hildebrand
viel länger, als man gewöhnlich annehme, in den Bahnen der ethischen Mönchsideale
des gemäßigteren Petrus Damiani gehalten. Noch für den Pontifikat Nikolaus H.,
dessen Politik Humbert bestimmt habe, bestreitet Fl. den Einfluß Hildebrands auf
Papstwahldekret =') und Normannenbünduis; erst die Erhebung Alexanders U. (1061),
1) Vgl. (lers. ebda. .38, 1015: Per la storia della riforma della cliiesa nel secolo XL
2)^^]. K. Gnc/genhcrger, Die deutsehen Päpste, Köln 1916 (ob wissenschaftlich?).
3) G. Schober, Uns Wahldekret v. J. 1050, Diss. Breslau 1914, sucht betreffs
des kaiserlichen Mitwirkungsrechtes bei der Papstwahl einen mittleren Weg zwischen
den Ansichten Scheffer -Boichorsts (sehr zweideutige Anerkennung) und v. Pfiugk-
die sein Werk war, habe ihn obenauf gebracht. Aber bis in die Anfänge seines
eignen Papsttums hinein habe er die Kirchenreform in Gemeinschaft mit dem Kaiser-
tum durchführen wollen; erst der Widerstand Heinrichs IV . habe ihn den radikalen
Theorien in die Arme getrieben. — F. arbeitet im allgemeinen gründlich und mit
nüchterner Kritik, stets führt er allgemeine Urteile auf den Quellenbefund zurück;
man darf an seinen Forschungen nirgends vorbeigehen. Immerhin bleibt bei der Ab-
schätzung solcher Einflüsse einzelner Persönlichkeiten ein subjektives Moment be-
stehen, das durch die Quellenangaben nicht völlig ausgeschaltet werden kann. Vor
allzu weitgehenden Umwertungen wird man sich daher doch hüten.
In gewisser Beziehung zu diesen Forschungen, die ja die Publizistik
jener Kampfzeiten weitgehend berücksichtigen, stehen die kanonistischen
Studien von P. Fournier, die uns die Rüstkammer erschließen, aus der
die kurialen Streiter ihre kirchenrechtlichen Waffen entnahmen.
Die allgemeinere Abhandlung Thiologie et droit canon au moyen äge, Journ.
des Savants 13, 1915 knüpft an das zerstreute Abhandlungen vereinigende Werk von
J. de Ghellinck S.J., Le mouvenient theologique du XII. siede, Par. 1914, worin
namentlich dem erstaunlichen Einfluß eines kompilatorischen Lehrbuches, wie das
des Peti-us Lomhardus, nachgegangen, wird, und betrachtet die Entwicklung von
Theologie und kanonischem Recht vom Ausgang der Karolingerzeit bis zum 12. Jahrh.
Weiter hat Fournier 3 ältere, wenig bekannte italienische Kanonessammlungen {Un
groupe de recueiis canoniques italiens des X. et XL siecles aus Mein, de TAcad. des
inscr. et belles-lettres 4u, Par. 1915) und 4 auf Gregors VII. Autrieb ausgearbeitete
Sammlungen (eine unedierte um 1050, Atto, Auselm*), Deusdedit) kritisch untersucht
(Les collectio'ns canoniques rotnaines ä l'epoque de Oregoire VII. aus Mem. etc. 41,
Par. 1918J-).
Es könnte der Eindruck entstehen, als ob vornehmlich das Aus-
land bemüht gewesen wäre, zur Aufhellung des großen kirchenpolitischen
Kampfes beizutragen. \yährend indes die genannten Schriften doch
mehr im Quellenkritischen stecken bleiben, ist die deutsche Forschung
ja längst in den Kern des Problems, die Auseinandersetzung zwischen
dem revolutionären römischen Kircheurecht und der konservativen ger-
manischen Eigenkircheurechtsidee vorgedrungen. Noch in den letzten
Jahren vor dem Kriege wurde versucht, von der Seite des Klosterwesens
her, in Studien über Klosterimmunität und Vogtei, namentlich von
H. Hirsch (1913), den üingen ein noch tieferes Verständnis abzu-
gewinnen. Daraus sind nun mit bedeutender, teilweise wohl zu weit-
gehender Kühnheit die letzten Folgerungen gezogen von A. Waas,
Vogtei und Bede in der deutschen Kaiserzeit, 1 . Teil (Arbeiten z. deutsch.
Rechts- u. Verfassungsgesch., H. 1), Berl. 1919^).
Nur die Vogtei ist hier zunächst behandelt. Im Anschluß an A. Heusler wird
sie für das frühere deutsche MA. abweichend von der vorhergehenden fräDkischen
Harttungs (ausdrückliches Zugeständnis in einem verlorenen echten Papstwahldekret),
nämlich Anerkennung in einem besonderen, verlorenen Privileg, aber niu- allgemeiner,
auch anders auslegbarer Hinweis darauf im Wahldekret. Eine rechte Förderung hat
die Schrift nicht gebracht.
1) Anselmi ej). Lucensis Collectio canomcm ed. F. T haner , Teil 11 erschien
Innsbr. 1915.
2) Vgl. auch F.Bliemetxrieder, Zu den Schriften Ivos v. Ghartres, S.B. d. Wien.
Ak. 182, 1917. Zur Publizistik: Miß M. T. Stead, Mamgold of Lautenback, Engl,
hist. rev. 29, 1914.
3) Vgl. ders., Leo IX. und das Kloster Muri, Arch. f. Urk. 5, 1914.
Wissenschaftliche Forschungsberichte VII. 5
65
Epoche , in welcher der Beamtencharakter der Kirchenvögte bisher zu ausschließlich
uusre Auffassung bestimmt hat, gleichgesetzt mit der germanischeu Blunt und ent-
sprechend als Ilerrscliaft, nicht als Beamtentum erklärt, wenn man auch kirchlicher-
seits seit dem 12. Jahrh. das letztere durch umfassende Urkundenfälschungen zu er-
härten suchte. Die Vögte, die also die Munt über ihre Kirche haben, sind identisch
mit den Eigenkirclienherren, so daß wir aus ihrer Gescbichte einen reichen Stoff für
den Kampf um die Eigeukirche gewinnen. Die Köuigsmunt aber ist mindestens seit
dem 9. Jahrh. vermischt und gleichbedeutend mit der aus römischer Wurzel stammen-
den Immunität, mit der sich also auch die königliche Obervogtei über die Kirchen
deckt. Selbst die Banuleihe des Königs an die Vögie wird nicht mit Seeliger und
andern aus öffentlich rechtlicher Befugnis hergeleitet, sondern aus seinem herrschaft-
lichen iluntrechte.
Auf wenigen Zeilen läßt sich nicht mehr als diese grundlegenden Hauptthesen
des Buches herausheben. Sie werden mit ihrer sciiarfen Abweichung von herrschen-
den Meinungen nicht unangefochten bleiben. In einer lehrreichen Besprechung hat
bereits 11. Planitx, Z. f. ß., g. A. 41, 1920, die neue Auffassung der Bannleihe (vgl.
auch die Forschungen oben S. 49) abgelehnt und beanstandet, daß zwischen der
sachenrechtliclien Eigenkirclienherrschaft und der Vogtei als Äluntherrschaft über Per-
sonen trotz ihrer oft praktischen Vermischung juristisch kein Unterschied gemacht
sei. Das hindert ihn jedoch nicht, im übrigen den fruchtbringenden Hauptgedanken
und die bedeutende Gesamtleistung anzuerkennen.
Für die Beurteilung der Kaiserpolitik und ihrer kirchlichen Gegenwirkungen er-
gibt sich daraus mancherlei. Gegenüber den Sondergewalten der Herzöge begründete
Otto d. Gr. die einigende Macht des Königtums neu, indem er über das in allen
Stammcsgebieten verbreitete Kircliengut seine Muntherrsehaft als Obervogtei ausdehnte.
Damit strebten er und seine Nachfolger ., die Kirchen des Reiches in ihrer über-
wiegenden Mehrheit, von der römischen Kirche bis zum kleinsten Kloster zu um-
fassen". Die Verleihung des Köuigssclmtzes in der Form der Immunität war für jene
das Lockmittel, für das Reich also zunächst nicht eine Zersetzung, sondern Festigung
der Einheit. Eben als Inhaber der Muntherrsehaft übte der König die Einsetzung
der Bischöfe'), während sich sein Einfluß auf die Bestellung der Untervögte da init
Ausbreitung der Immunität abschwächte , die mächtigeren Bischofskirchen sich ihm
bei geringerer Schutzbedürftigkeit auch eher entziehen konnten. Weitaus am nach-
haltigsten behauptete sich die Vogtei als germanische Muntherrsehaft sei es des
Königs oder des Adels gegenüber den einzelnen Kirchen, insbesondere den Klöstern.
Deren Kampf gegen die Laienherren bildet gewissermaßen die untere Schicht im In-
vestiturstreit. Die Einmischung des Papsttums erfolgte hier seit 1(J49 durch Leo IX.,
worauf schon Hirsch hinwies, in der eigenartigen Weise, daß der Papst, selbst Mit-
glied des deutschen Laienadels, mit dem er das Interesse an einer Gegenwirkung
gegen die Macht der Reichskirche teilte, Eigenkirchenherr von südwestdeutschen
KlösteiTi wurde. Indem er sich also noch nicht in grundsätzlichen Widers] iruch zu
dem Eigenkircheugedankcn des kaiserlichen Regierungssystems setzte, verstehen wir
die noch freundlichen Beziehungen Heinrichs III. zu ihm. Dadurch konnte er auch
die zukunftsvolle Verbindung zwischen Papsttum und süddeutschen Dynasten begründen,
die die Reformer mit ihrer Bedrohung von deren Eigenkircheninteressen nicht zu-
stande gebracht hätten. So aber, auf dem kaiserlichen Kechtsboden selbst, ließen sich
die Ziele der Reformer doch nicht erreichen. Daher begann unter Gregor VII. der
Kampf gegen jegliche Laienherrschaft über Kirchen, damit gegen das Eigenkirchen-
we.sen. Die Kirche suchte nun das volle Eigentum des Eigenkirchenherrn in bloße
muntschaftliche Herrschaft, Vogtei umzudeuten (Planitz) und für die Vogtei mit Hilfe
1) Vgl. W. Gesler, Der Bericht des Monachus Hamerslebicnsis über die kaiser-
liche Kapelle S. Simon und Juda in Goslar und die Beförderung ihrer Milglieder,
Diss. Bonn 1915. Mr.n kann hier .statistisch beobachten, wie die Ka]>elle geradezu
eine Pflanzschule für Bischöfe, die die Kaiser ernannten, war, bis das \\'ormser Kon-
kordat da einen Umschwung brachte und an Stelle des Einflusses der Zentralgewalt
den des regionalen Adels setzte.
66
jener Fälschungen die amtsmäßige Auffassung zu begründen, in diesem Sinne dann
auch die Vogtei des Kaisers für die römische Gesamtkivche zu betonen.
Die umfassende Sorge Gregors VII. für die Sicherung des Kirchen-
gutes auch auf dem mehr verwaltungsrechtliehen Gebiete hat W. Schneider,
Papst Gregor VII. und das Kirchengut, Diss. Greifsw. 1919 gut dar-
gestellt und betont, daß jener, abgesehen von der Ernennung bei der Eigen-
kirchenrechtsinvestitur, keineswegs dem Reiche seine Rechte auf die
Regalien, z. B. die auch dem Gegenkönig Rudolf zugestandene Tempo-
ralieninvestitur , habe bestreiten wollen, setzt aber doch wohl zu früh
jene abstrakten Scheidungen voraus, die erst ein spätes Ergebnis der
publizistischen Erörterungen waren.
Wie das Bild Gregors und seiner Politik sich unter dem Einfluß
der neueren, namentlich deutschen Forschungen in letzter Zeit gewandelt
hat, ohne daß doch der feste Kern seines Wesens davon berührt worden
wäre, hat J. P. Whitney, Gregory VII., Engl. bist. Rev. 34, 1919 dar-
gelegt. Es hätte etwa betont werden können, daß auch die Unter-
suchungen A. Schultes über die ständischen Verhältnisse in der Kirche
tiir die Gesamtbeurteilung nicht gleichgültig sind, indem sie den Gegen-
satz des allenthalben mit demokratischen Strömungen ^) verbündeten
Bauernsohnes Gregor zu der aristokratischen und dadurch in hundert
weltliche Interessen verstrickten deutschen Reichskirche verschärften.
Auch mag schon hier darauf hingewiesen werden, daß die weitaus
wichtigste, durch die neueren Forschungen in ihrem Wert noch ge-
steigerte Quelle zu Gregors Geschichte, das Originalregister seiner Briefe
jetzt durch die Ausgabe E. Caspars in den Epistolae seJedae der Mo-
numenta Germaniae (erste Hälfte, Berl. 1920) seine abschließende Druck-
legung erhält.
Die eindrucksvollste Szene des ganzen Streites -) ist in ihrem äußeren,
noch immer umstrittenen Verlaufe noch einmal sorgfältig geprüft von
H. Otto, Heinrich IV. in Canossa, Hist. Jahrb. 37, 1916.
Der Hinweis darauf, daß Donizo das Wort ,,stare" öfter im abgeschwächten
Sinne des italienischen Sprachgebrauches = verweilen anwendet, dürfte wohl die
Yoistelhmg eines eigentlichen Bußestehens beseitigen. Die Buße Heinrichs bestand
darin, daß er während eines dreitägigen Aufenthalts im Flecken Canossa in Büßer-
tracht betete und fastete, wobei dahingestellt bleibt, ob er sich so zeitweilig auch vor
dem Burgtor gezeigt habe. Die Entwertung des Bußakts gegenüber den Verhand-
lungen wird gegen Haller mit Recht bestritten, gleichwie auch der Vorwurf der Un-
wahrhaftigkeit des päpstlichen Schreibens an die deutschen Fürsten. Ebenso richtig
wird die Auffassung Campaninis, der Bußakt sei erst die Folge der entscheidenden
Verhandlungen gewesen, abgelehnt. Über die Lage der Nikolauskapelle, in der die
entscheidende Abmachung mit der Gräfin Mathilde stattfand, ob es die nachweisbare
in Mongiovanni oder die hypothetische im Canossaflecken gewesen sei, kommt 0. zu
1) J. Goetx, Kritische Beiträge zur Geschichte der Pataria, A. f. Kult. XII, 1. 2,
1914, untersucht einzelne Punkte zur Urheberschaft und Chronologie der Mailänder
Bewegung ; seine Herleitung des Namens aus einem verderbten Cathari ist indes völlig
verfehlt, vgl. O. Schu-artx, (gefallen 1914) ebenda XH, 3. 4, 1916; es bleibt bei der
Ableitung vom Mailänder Trödelmarkt.
2) Lehrzwecken dient das Büchlein von F. Schillmann, Kaiser und Papst. Der
Kampf Heinrichs IV. n. Gregors VII. (Voigtländers Quellenb. 84), Leipz. 1918.
5*
67
keiner sicheren Entscheidung^). Darin, daß die Wiederaufnahme Heinrichs in den
Schoß der Kirche für Gregor noch nicht seine volle Wiedereinsetzung ins Königtum
bedeuten sollte, ist 0. geneigt, mir zuzustimmen, beachtet aber, wenn er das
Demütigende des Bußaktes ganz bezweifelt , nicht die gegenteilige Auffassung der
deutschen Fürsten von 1119.
Am 24. Juli 1915 waren 800 Jahre seit dem Tode der Großgräfin
Mathilde verstrichen. In Italien ist das nicht unbeachtet geblieben. Daß
aber die dort aus diesem Anlaß erschienenen Gelegenheitsschriften wissen-
schafthch in Betracht kommen, ist kaum anzunehmen •*).
Am meisten dürfte der unter dem Titel : Neil' VIII centetiario dl Matilde di
Canossa. Scritti varii, Reggio Em. 1915 erschienene Sammelband bieten, z. B Notizen
von A. Mercati über die Siegel der M., ihre Beziehungen zu Anselm von Canterbury
und zwei weniger beachtete Briefe von ihr (Texte und Tatsachen waren freilich im
wesentlichen bekannt, neu die veröffentlichten Miniaturen). Beachtenswert ist auch
N. Zucc/icllf, La contessa Matilde nei documoiti pisani (1077—1112), Pisa 1916.
Mehr quellenkritischer Art ist die Abhandlung von P. Fournier, Boiiixo de Sutn,
Urbain II et la ronitcsse Mathilde d' apres le ,, Liber de vita christiana " de Bonixo,
Bibl. de l'Ec. d. eh. 7*j, 1915 ")•, sie sucht aus der späteren theologisch-kanonistischen
Schrift Bonizos zu erweisen, daß ihm der Sinn für praktische Mäßigung nicht gefehlt
habe, wenn er auch zuletzt in Opposition gegen die klug entgegenkommende Politik
TJrbans IL geraten sei.
Auch außer der Gräfin Mathilde haben einzelne Persönlichkeiten,
die in dem Investiturstreit eine Kolle gespielt haben, eine biographische
Behandlung erfahren.
B. Oaffrey, Hugo der Weiße und die Opposition im Kardinalskollegium gegen
Papst Gregor VII., Diss. Greifsw. 1914, sucht diesem erbitterten Feinde Gregors
mehr gerecht zu werden, indem er ihn nicht ganz ohne Erfolg als grundsätzlichen
Gegner der Refornibestrebungeu und Anhänger der kaiserlichen Auffassung hinstellt,
ohne daß er freilich stark persönliche Antriebe und die Skrupellosigkeit seines Vor-
gehens zu tilgen vermöchte. Oust. Schmidt, Erxbischof Siegfried von Mainz. Ein
1) Abweichend von den von 0. vorgeschlagenen Möglichkeiten möchte ich an-
nehmen, daß folgende Gruppierung der Vorgänge am ehesten mit den Quellen im
Einklang stünde: Ilerankunft Heinrichs. Erste Zusammenkunft mit Mathilde und
Hugo V. Cluny etwa in Bianello. Die beiden zum Pa|)ste. Heinrich folgt unver-
mutet, ohne die Antwort abzuwarten. Dreitägige Buße und Verhandlungen vom
Flecken Canossa aus. Hartnäckigkeit Gregors. Heinrich im Begriffe abzuziehen.
Entscheidende Zusammenkunft mit Mathilde in der Nikolauska[)elle, in der nach der
Danstellung Donizos (petit capeliam!) die dreitägigen Verhandlungen jedenfalls noch
nicht stattgefunden hatten (daher vielleicht doch eh» r das entferntere Mongiovauni).
Vermittlung Mathildes, Nachgeben Gregors usw. — Mit der Örtlichkeit befassen sich
auch zwei nach dem Titel wenig vertrauenerweckende Schriften von O. Fregni, Di
Oregorio VII e di Enrico IV, e si cioe l'incontro tra papa Oregorio VII e l'im-
peratore Enrico IV, nel 27 gennaio 1077 , avvenne a Canossa di Reggio Emilia, o
in qualclie altra cittä o castello del Pie/nonfe e d'Italia : studi critici, storici e filo-
logici, Modena 1916. Ders., Di nuovo sulla riipe di Canossa, e se cioe la rvpe di
Canossa e quell' oppidum Canitsü di cui parla Oregorio VII nella sua lettera —
del 28 genn. 1077, Mod. 1917. Vgl. auch F. Tolli, Sei punti controversi , darin 5:
Enrico IV a Canossa (sonst über Templerprozeß, Päpstin Johanna, Guelfen u. Ghi-
bellinen), Rom 1914.
2) Vgl. V. Bianchi- Cagliese, M. d. C. nelV VIII centenario dclla sua morte,
Rom 1H15; L Tondelli, M. d. C, Rom 1915; M. liuini, Lagrande italiana M. d. C,
eommemorata nella sua volle, Fir. 1916.
3) Vgl. ders, Les sources eanoniques du „Liber de vita christiana" de Bonixo
de Sutri. ebd. 78, 1917.
68
Beitrag xur Oeschichte der Mainxer Politik im 11. Jahrh.. Diss. Königsb., Berl. 1917,
macht, einer von A. Bnickmann gegebenen Anregung folgend, die vielfach unklare
Haltung dieses Kirchenmannes im Investiturstreit dadurch verständlicher, daß er seine
Schritte von dein Standpunkte der Mainzer Interessen aus erklärt; für die erste Rolle,
die Siegfried gern in Deutschland gespielt hätte, fehlte ihm freilich die politische Be-
gabung. Keine erheblichere Förderung bringt die Arbeit von O. Sellin, Barchard II.
Bischof von Halberstadt (1060—88), Münch.-Leipz. 1914. Dieser Neffe Annes von
Köln und sächsische Gegner des Königs, der während des ersten Schismas der sech-
ziger Jahre einmal eine eingreifende Rolle gespielt hatte, wird unserem Verständnis
kaum näher gebracht. P. D/el)older, Bischof Gebhard III. von Konstanz (1084—1110)
und der Investiturstreit in der Schivcix, Z. f. Schweiz. Kirchengesch. 10, 1916, behandelt
diesen bedeutenden Zähringer, Hirsauer Mönch und gemäßigten Gregorianer und seinen
Einfluß auf die Schweiz In die letzte Phase des Kampfes ^) führen die Biographien
von R. Krohn, Der päpstliche Kanzler Johannes von Oaeta (Gelasius IL 1118/19),
Diss. Marb. 1918 und von A^. Risi, S. Bruno Astense vescovo di Segni, szia vita e
sue opere (1019—1123), Prato 1918.
Über den vorläufigen Abschluß des Investiturstreites, das Wormser
Konkordat von 1122, sind in den letzten Jahrzehnten bekanntHch die
Meinungen auseinandergegangen. Hier darf man sagen, daß eine ver-
tiefte Auffassung sich daraus ergab, die jetzt wohl zu einer überwiegen-
den Übereinstimmung geführt hat und im wesentlichen auch bekräftigt
wird durch die eindringliche Untersuchung von A. Hofmeister, Das
Wormser Konkordat. Zum Streite um seine Bedeutung (Forsch, u.
Versuche z. Gesch. des MA. u. der Neuzeit, Festschr. f. D. fe'chäfer),
Jena 1915.
H. erklärt die rein persönliche, keine Dauer ausdrüciende Fassung des ganz
nach dem Wunsche Heinrichs V. ausgestellten Investiturprivilegs vom 13. April 1111
damit, daß es eine Bestätigung von Bestehendem und damit wertvoller war, als eine
aus päpstlicher Gnade abgeleitete neue Dauerverleihung, die wenigstens nach der
kurialistischen Kanonistik seit Mitte des 12. Jahrh. doch jederzeit vom Papste abänder-
bar gewesen wäre. Die Folgerungen aus dieser Auffassung für das päpstliche Privileg
des AV. K. sind angedeutet, hätten aber vielleicht noch straffer gezogen werden können.
Nachdem der Kaiser seinen Verzicht auf die Investitur mit Ring und Stab ausge-
sprochen, zog die Kurie im übrigen ihre Anfechtung des Reichsgewohnheitsrechtes,
soweit es sich in bestimmten Formen bewegte, zurück und erkannte es, mochte die
Urkunde als Kirchengesetz anerkannt oder nur geduldet werden, damit an, auch wenn
der unzweidi utige Ausdruck des Bestätigens hier nicht gebraucht wurde. Wie man
im deutschen Mittelalter überhaupt nicht nach Gesetzestexten, sondern nach dem Ge-
wohnheitsrecht lebte, so galt hinfort, auch wenn man den Wortlaut des nur an Hein-
rich persönlich erteilten Papstprivilegs gar bald vergaß, das abgewandelte Reichs-
gewohnheitsrecht weiter, wobei natürlich die iünftige Handhabung von den Macht-
verhältnissen, von der Gesinnung der Herrscher, von Druck und Gegendruck abhängig
war. Auf eine derartige, von H. nicht ganz so scharf formulierte, aber im Grunde
doch auch geteilte Auffassung wird man sich gewiß einigen können. Auch einzelne
andere Punkte, wie das von Erzbischof Adalbert von Mainz selbst zugestandene Präsenz-
recht des Königs bei den Bischofswahlen -) oder die Auslegung der Urkunde Innozenz' II.
für Kaiser Lothar vom 8. Juni 1133 erfahren wertvolle Förderung, und am Schlüsse
findet sich eine neue Textgestaltung der päpstlichen Konkordatsurkunde auf Grund
aller erreichbaren Hilfsmittel. —
1) Vgl. L. N. Berhit, Der Investiturstreit tvährend der Zeit Kaiser Heinrichs V.
(in russ. Sprache) I, Warschau 1915. — H. Hussl, Die Urkundensammlung des Codex
Udalrici, M. I. ö. G. 36, 1916, bestimmt die Herkunft der Urkunden, die namentlich
aus Bamberg und Regensburg stammen.
2) Vgl. dazu auch F. Schneiders Anal. Tose, (oben S. 54), S. 28 ff.
69
Während der salischen Epoche waren die Normannen recht
eigentlich zu ihrer Weltstellung emporgestiegen, dem Zeitenwandel, der
sich im Laufe des 12. Jahrhunderts vollzog, bereiteten sie vornehmhch
als Ötaatsverwalter und Kulturvermittler die Wege. Es mag deshalb
an dieser Stelle zu ihrer Gesamtgeschichte rückgreifend und vorschauend
einige Literatur kurz vermerkt werden.
H. Prentoid, Etüde critiquc sur Diidon de Saint - Quentin et son Jiistoire des
Premiers ducs de Normandie, Par. 1916, legt in ausführlicher Einzelkritik die legen-
dären und unzuverlässigen Züge des Chronisten hinsichtlich der Gründung und ersten
Zeiten der Normandie dar. Eine neue Ausgabe der an Dudo sich anschließenden
Chronik veranstaltete J. Marx, Oidllaume de Jumicges, Gesta Norniannorion ducuni,
Eouen 1914. Klassifizierung der 11 benutzten IIss. und Kennzeichnung der entlehn-
ten Stellen lassen zu wünschen.
Wer eine kurze Einführung in die normannische Gesamtgeschichte
in der Normandie, in England, wo noch Heinrich IL mehr Normanne,
als Angiovine oder Engländer ist, und in Sizilien bis zum Tode Rogers II.
(1154) wünscht, möge sich wenden an das aus Vorträgen erwachsene
Buch von C/i. H. Haslüns, The Normans in European history, Boston,
New York 1915. Für den gründlichen Unterbau bürgen die früheren
Forschungen des Vf. Auch sein neuestes Buch zeugt wieder davon:
Norman Institutions (Harvard bist, studies 24) 1918.
Es schildert die Verwaltung der Normandie ^) von Wilhelm dem Eroberer ') bis
zu Heinrich IL (1135—1189), zeigt namentlich die militärische und fiskalische Zen-
tralisation iu der Hand des Herzogs und legt die Entwicklung der Gerichtsformen
dar, wobei Schwurgerichte (vgl. oben S. 50) schon vor der Mitte des 12. Jahrh. nach-
gewiesen werden ^). Von J. Revels umfassender Histoire des Normands erschien
Par. 1918 der 1. Band.
über den normannisch-sizilischen Staat findet man neuer-
dings Literatur zusammengestellt in der oben S. 50 genannten Schrift
von Rieh. Schmidt S. 3 — 9 ^). Für den Zentralpunkt, den Umfang der
Königsgewalt ist das von Caspar, Niese, Clialandon Skizzierte noch
einmal in breiteren Ausführungen dargelegt worden von M. Hofmann,
Die Stellung des Königs von Sizilien nach den Assisen von Ariano
(1140), Diss. Münst. 1915.
Ganz überf lü.ssig war es wohl nicht , aus dem Hauptgesetzeswork Kogers II. *)
die politischen und verfassungsrechtlichen Folgerungen für die Königsmacht zu ziehen;
aber wie die Kritik fast durchgehends betont hat, war der Anfänger solcher Aufgabe
nicht ganz gewachsen. Manche Behauptungen erscheinen einseitig überspitzt. Daß
1) Vgl. ders., The materials for the reign of Hubert I. of Normandy, Engl. bist.
Rev. 31, 1916.
2) Vgl. R. Francis, Williani the Conqtieror, Lond. 1915 (populäre Dai-stellung).
Für Heinrich I. von England (1100—1134) sind wichtig die reichen Regesten von
W. Farrcr, An outline Itinerary of kimj Henry the First, Engl. bist. Rev. 34, 1919,
3) ./. Lesqiner hat im Bull. d. 1. ISoc. des Antiquaires d. Norm. 32, 1917, das
"Wesentlichste aus dem Buche in franz. Übers, wiedei'gegeben.
4) Vgl. auch das Literaturverzeichnis bei W. Cohn, Das Zeitalter der Normannen
in Sixilien, Bonn, Lei|)z. 1920.
5) Das schon 1912 in New York /Lond. erschienene halbpopuläre Buch von
F. Giirtiss, liof/er of Sicily and the Norninns in Lower Italy 1016—1154 beruht
stark auf den Werken von Caspar und Chalandon.
70
etwa Kaiser Friedrich II. überall auf dem von Roger gelegten Grunde weitergebaut
hat, haben die Forschungen der letzten Jahrzehnte ja genugsam erwiesen, aber seinem
durch reicheren Inhalt, durch Klarheit und Schärfe ausgezeichneten Gesetzeswerk
nun jeden "Wert gegenüber dem seines Großvaters zu bestreiten, führt doch zu neuer
Ungerechtigkeit, und der einzige Ruhmestitel, der ihm nach dem Vf. im Gegensatz
zu Roger noch verbleiben soll, nämlich derjenige eines konstitutionellen Herrschers
ist doch höchst fragwürdig.
Eine sehr gründliche Arbeit zur normannisch-siziiischen Verwal-
tungsgeschichte mag hier, obwohl kurz vor den Kriegsjahren erschienen,
wenigstens genannt werden, da sie schwerlich allgemeiner bekannt ge-
worden ist: Evelyn Jamison, The Norman administration of Äpulia
and Capua, more especially under Roger II and William I 1127 — 1166
(in Papers of the Brit. School at Rome VI) 1913 ^).
Ein besonderes gegen Osten gerichtetes Normannenunternehmen
endlich behandelt A. Jcnal, Der Kampf um Ihtrazso 1107\8 mit dem
Gedicht des Tortarius, Hist. Jahrb. 47, 1916. Die von Bohemund von
Tarent statt eines Kreuzzuges unternommene Kriegst'ahrt gegen das
griechische Durazzo (Valona) endete infolge der gutorganisierten Abwehr
mit einem demütigenden Friedensschluß, fand aber gleichwohl einen
französischen Lobredner, dessen Heldengedicht hier aus einer vatikani-
schen Hs. zuerst gedruckt ist. —
Für die auf die Salierzeit zunächst folgende Epoche des Über-
gewichts kirchlich-pietistischer Strömungen undder Aus-
breitung neuer Mönchsorden war die Forschung der Kriegszeit
wenig ergiebig. Die Literatur der letzten Jahre vorher findet man be-
sprochen von G. Schreiher, Studien zur Exemtionsgeschichte der Zister-
zienser, Z. f R. 35, k. A. 4, 1914, und, was das Hinübergleiten nach
Ostelbien betrifft, ebd. 37, k. A. 6, S. 442 ff.
Die Verxeichnisse der deutschen Zisterzienser abteien tind Pn'orate von P. Marian
Gloning, sowie der Zisterzienserinnenklöster von P. Blasiiis Huemer in Stud. u. Mitt.
z. Gesch. d. Bened.-Ord., N. F. 5 u. 6, 19 i 5/1(3 sind dem Forscher um so nützlicher,
als die Fortsetzung von Jauauscheks Origines Cistercienses nicht mehr zu erwarten ist.
H. Rose faßt die Baukunst der Zisterzienser, Münch. 1916, erst in zweiter Linie als
Gebilde des Ordensgeistes und seiner Bauregel . vielmehr in der Hauptsache als eine
Phase der burgundischen Frühgotik und entwickelt sie daraus stilistisch an der Hand
zahlreicher photographischer Aufnahmen. U. Stütz, Die Zisterzienser icider Gratians
Dekret, Z. f. R. 40. k. A. 9, 1919, erweist die spätere Haltung des Ordens zu Gratian
seit dem Generalkapitel von 1188 nicht als eine grundsätzliche Ablehnung, sondern
als eine vorläufige Zurückhaltung wegen einzelner Bedenken und der Scheu vor einer
zu starken Hingabe an das Studium des kirchlichen Rechts -).
1) i\^ Oiordano, Nuovo contributo alla determina%ione dei rapporti fra Stato e
Chiesa in Sicilia al tempo dei Normanni, Arch. stör, sie, N. S. 41, 1916, betont
das enge Verhältnis zwischen ihnen und der römischen Kirche und die Gegenseitigkeit
der Zugeständnisse.
2) Zur Geschichte des Schwesterordens kommt in Betracht: B. Woxasek, Der
hl. Norbert, Stifter des Pränionstratenserordens n. Erzbischof von Magdeburg, Wien
1914; C. J. Kirkfleet, Historij of saitit Norbert, St. Louis 1916. In den Kreis der
von Erzbischof Konrad von Salzburg begünstigten regulierten Chorherren gehört die
Vita des Propstes Lambert von Nemcerk bei Halle, die H. Brcsslau, N. A. 41, 1919,
scharfsinnig untersucht. Vgl. auch G. Wieczorek, Das Verhältnis des Papstes Innozetiz, IL
%u den Klöstern (1130—1143), Diss. Greifsw. 1914.
71
Aus der Geschichte der inneren deutschen Kämpfe-) unter Kon-
rad III. ist die nieistbehandelte Episode die von den getreuen Weibern
von Weinsberg. Die lebliatte Auseinandersetzung darüber, ob wir es
da mit einem quellenmäßig beglaubigten Ereignis oder nur mit einer
auf Wandersage beruhenden späteren Anekdote zu tun haben, hat sich
noch bis in die Kriegszeit fortgesetzt. R. Ilolkniann hat in der Hist.
Viert. 18, 1916/18, die Ansicht von W. Norden und die Einfälle von
L. Rieß, der nun wenigstens hätte schweigen und sich nicht noch einmal
ebenda eine noch schärfere Abfertigung holen sollen, auf das gründlichste
zurückgewiesen und noch einmal dargetan, daß die methodische Quellen-
kritik zugunsten dieses Einzelzuges spricht, womit ja eine gewisse Auf-
putzung des historischen Kerns in der Erzählung noch immer vereinbar
ist. Damit darf diese Erörterung wohl als geschlossen gelten ; zum
mindesten müßte der, welcher sie wieder aufnehmen wollte, erst die
Darlegungen Hs bis ins einzelne hinein umzustoßen versuchen (vgl.
auch oben S. 59).
Auch ein anderes hervorstechendes Ereignis aus Konrads III. Regie-
rung: seine Kreuznahme am 27. Dez. 1146 hat man versucht in neue
Beleuchtung zu bringen.
n. Cosack, Konrads III. Entschluß xum. Kreiaxtig , M. I. ö. G. 35, 1914, will
die Entscheidung nicht auf die Überredungskraft Bernhards von Clairvanx ^) zurück-
führen , sondern auf die Kunde davon , daß auch der Gegner Herzog Weif VI. am
Weihnachtsabend das Kreuz genommen habe. Daß der König bereits im Besitz dieser
Nachricht gewesen sei, ist keineswegs sicher, und so liegt doch wohl kein zwingender
Grund vor, die Darstellung der Vita prima Bernhardi umzustoßen ').
Die brieflichen Beziehungen Konrads III. zu der geistlichen Seherin
Hildegart von Bingen (f 1179) hat man mit zu seiner Charakteristik
verwendet-, über sie liegt ein englisches Buch vor von F. M. Sieele, TJie
life and vislons of St. Hildegarde, Lond. 1914, ein deutsches von Hehne
Riescli, Die hl it v. B., Freib. i. B. 1918, und von F. lioth, Studien
zur Lehensheschreihung der hl. H., iStud. u. Mitt. z. Gesch. d. Ben.-Ord.
39, 1918.
Quellen zur Geschichte Kaiser Friedrichs I. sind nur spärlich
behandelt worden.
1) Vgl. auch W. Hopjje, Markgraf Konrad r. Meißen, d. Ecnhsfilrst u. Gründer
d. wettin. Staates, N. Arch. f. sächs. Gesch 40, 1919 (auch gesondert).
2) Vgl. Anto7iietta, de Graxia, Un episodio del contrasto tra S. Bernardo c
Riiggero II re di Sicilia, 1137—38, Pal. 1915.
3) Die Kreuzzugsgeschichte ist bei den Forschern gegenwärtig wenig beliebt;
einer der Gründe dafür dürfte sein, daß man neuen Stoff vielleicht nur noch aus
orientalischen Quellen erhoffen kann, und da für die meisten die Sprache ein Hindernis
bietet. Einen derartigen Versuch, neues Material zu erschließen, stellt dar: 0. Ter-
Grigorinn hhanderian, Die KreiixfaJirer und ihre Bexiehungen xu den arvicnischcn
Nachbarfürsten Ins zum Untergange der Grafschaft Edessa ; nach arnicnischcn Quellen.
Diss. Lei]!/.. 1916; vgl, auch J. B. Chabot, Edesse pendant la jnrniierc Croisade,
Coniptes rend. de l'Ac. d. Inscr. et B.-Lettres, l'ar. 1918. — Die knappe Darstellung
(auf 57 S. I) von F. I). Warp, The latin Kingdom of Jerusalem, Lond. 1918, wird
kaum in Betracht kommen. Vgl. auch E. H. Biirne, Oenocsc trade icith Syria in the
12. Century. Am. hi.st. Kev. 25, 1919/20.
72
0. Dn'nkweldcr, Ist Gimther von Pairis der Verfasser des Ligurinus?, Stud. u.
Mitt. z. Gesch. d. Ben.-Ord. 35, 1914, tritt gegen Sturm wohl mit Recht wieder für
die Identität des oberelsässischen Mönches Guntlier mit dem Dichter des Heldenliedes
Ligurinus auf Barbarossa ein, wenn sich auch eine ganz sichere Entscheidung nicht
scheint gewinnen zu lassen.
Das wertvollste, auf gleichzeitigen Eintragungen beruhende Stück der kurzen
Annalen von St. Giorrjcn auf dem Schivarxwald deckt sich uuLefähr mit der Regie-
rungszeit Friedrichs L Hinterher folgen noch wechselnde Fortführungen bis ins
14. Jahrb. A. Hofmeister hat diese Quelle auf Grund neuer handschriftlicher Hilfs-
mittel in der Z. f. Gesch. d. Oberrh. , N. F. 33, U)18, verbessert herausgegeben und
sehr gründliche sachliche Erläuterungen hinzugefügt, so daß die Annalen künftig nur
nach diesem Druck zu benutzen sind, Beachtenswert ist der S. 47 geäußerte Zweifel,
ob Pierzog Friedrich von Schwaben wirklich mit Scheffer-Boichorst als ältester Sohn
Barbarossas zu betrachten sei, da ein zwischen ll(i4 und 1160 genannter älterer
Bruder Heinrichs VI. ja gestorben und sein Name Friedrich dann auf einen jüngeren
übergegangen sein könne.
E. Arndt (gefallen 1915), Die Briefsammlung des Erxbischofs Eberhard I. von
Salzburg. Diss. Berl. 1915, gibt ein nützliches Inhaltsverzeichnis dieser für die Jahre
1157—62 wertvollen Sammlung und scheidet in dem noch nicht gedruckten Teil nach
einer Untersuchung der Wiener Hs. von dem eigentlichen Briefbuche Eberhards I.
eine gesonderte AdmonterBriefsammluug. P. Oiierrini, Lhi diploma inedito di Federico
Barbarossa, Brescia 1916, veröffentlicht die Belehnungsurkunde eines Brescianers
Mazaperlino vom 20. Okt. 115S aus dem erzb. Archiv zu Brescia. A. Hofmeister,
Zur Eptstola de morte Friderici miperatoris, 'S. A. 41, 1919, verwertet für den be-
kannten Todesbericht eine etwas abweichende Überlieferung, welche die bisherige An-
nahme, daß es sich hier um den offiziösen Bericht des Bischofs Gottfried von Würz-
burg handelt, zu bestätigen geeignet ist.
Die Erörterung über den ersten Zusammenprall der kaiserlichen
und kurialen Politik auf dem Reichstage von Besangon hat zu einem
gewissen Abschluß geführt in der wertvollen Abhandlung von H. Schrörs,
Untersuchungen sum Streite Kaiser Friedrichs I. mit Papst Hadrian IV.
(1157—58)^), Bonn. Univ.-Progr. 1915.
Wichtig ist namentlich der Nachweis, daß die Kurie damals in Fortsetzung ihres ein-
greifenden Regimentes aus der Zeit Konrads III. durch ihre Legaten eine umfassende
Kirchenvisitation im Reiche vornehmen lassen wollte, wodurch sich auch die jenen mit-
gegebenen Blankomandate die umstrittenen „ paria literarum " besser erklären. Indem
Friedrich und seine Leute dagegen ihre Maßnahmen treffen, richtet sich ihre Politik
gegen die unglückselige Vergangenheit und den päpstlichen Versuch ihrer Fortsetzung.
Dieser Verwaltungskonflikt ist freilich nur die eine Seite der Sache. Es verbindet
sich damit doch die Absicht Hadrians in den schwebenden hochpolitischen Fragen
Verhandlungen anzubahnen und sich für den kommenden Romzug und die dabei zu
erwartenden Verwicklungen eine günstigere Lage zu schaffen. Die Art, wie man
die päpstlichen Oberhoheitsansprüche vorbrachte, aber so zweideutig formulierte, daß
gegebenenfalls eine Rückzugslinie gesichert blieb, darf man doch wohl einen verdeckten
Vorstoß nennen. Man wollte noch nicht den Bruch, sondern hoffte, daß bei der
zweideutigen Fas.suDg die Benefiziumsstelle kaiserlicherseits durchgehen gelassen würde,
und man so eine geeignete Basis für die in Aussicht stehenden Kämpfe gewänne.
Darin freilich, wie in der Beurteilung des deutschen Episkopats trug man dem seit
Friedrichs Regierung eingetretenen Stimmungswandel nicht genügend Rechnung ^).
1) Vgl. H. K. Mann, Nicolas Breakspear, Hadrian IV., Lond. 1914 (illustr.).
2) Vgl. L. Weibull, Den skanska kgrkans älsta historia, Hist. Tidskr. för Skäne-
land 5. 1916 (ersch. 1917), wo in dieser Kirchengeschichte von Schonen z. B. auch
die in Burgund erfolgte Gefangennahme Eskils von Lund, die den Anlaß zu dem in
Besannen überreichten päpstlichen Schreiben gab, behandelt wird. — Eine Lebensskizze
Ehe Friedrich zu dem entsprechenden Romzuge von 1158 auf-
brach, schöptte er um Ostern des Jahres gleichsam Atem in seiner
neugebauten Plalz zu Lautern. Jene Ghinztage für die Ptalzer Lande,
in denen auf den Plöhen rings die Keichsburgeu empor wuclisen und die
kaiserhchen Ministerialen eine große Rolle in der Welt zu spielen be-
gannen, stehen naturgemäß im Mittelpunkt der Darstellung von K. IJampe,
Die VfäJzer Lande in der Stauferzeit, H. Z. 115, 1915 (auch gesondert
erschienen), wo die Dinge freilich auch noch weiter geführt sind bis
zum Niedergang der Reichswaltung im lo. Jahrh.
Zu dem großen kirchenpolitischen Kampfe ist nur die kurze Ab-
handlung von K. Schamhach, Das Verhalten Rainalds von Dassel zum
Empfange der höchsten Weihen, Z. d. bist. Ver. f Niedersachs. 80, 1915,
zu verzeichnen, in der er zu der These, Rainald habe den Besitz seiner
vier Propsteien, die er als erwählter Erzbischof von Köln noch behaupten
konnte, durch die Bischofsweihe nicht preisgeben wollen, zumal das
Kölner Bischofsgut damals höchst zerrüttet war, die nähere Begründung
gibt. Man wird es danach doch für sehr wahrscheinlich halten, daß
dies Motiv mindestens stark mitgewirkt hat, selbst wenn es etwa nicht
das einzige gewesen sein sollte; ängstliche Selbstsicherung für den Fall
eines ungünstigen Ausgangs des Kirchenstreits lag Rainalds Natur sicher-
lich ganz fern. Die Urkunden des Verbündeten, den Rainald seinem
Herrn wenigstens vorübergehend gewann, König Heinrichs IL von
England, deren Veröffentlichung schon oben S. 61 verzeichnet wurde,
enthalten trotz der Beschränkung auf französische Gebiete und Angelegen-
heiten auch Stücke von allgemeinerem Interesse, z. B. solche, die Thomas
Becket betreffen. In England schreitet die Publikation der unerschöpf-
lichen Bestände des Record Office langsam vorwärts ^) Es erschien
auch eine (wohl populäre) Biographie des bedeutenden Herrschers von
L. F. Salzmann, The life of Henri II, Bost. 1914 (Lond. 1918) 2).
Die italienischen Kämpfe Barbarossas sind, so viel ich
sehe, während der Kriegsjahre kaum bearbeitet worden ••). Trotz des
von iedem Forscher auf diesem Gebiete schmerzlich empfundenen Mangels
an Urkundenedition, Regesten und Jahrbüchern ließe sich hier über die
des einen der beiden ])äpstlichen Gesandten von Besannen Bernhard, Kardinalbischofs
von Porto und S. Rufina (y 1176). findet sich in der Veröffentlichung: Bernhardi
cardinalis et Lateranensis ccclesiae jrrioris Ordo ofßciorurn ecclcsiae Lateranensis,
hr.sg. von L. Fischer (Eist. Forscli. u. Quell, hrsg. von J. Schlecht, 2. u. 3. H.),
Münch.-Freis. 1916.
1) Vgl. The Oreat Roll of the Pipe for the 32. year of tlie reign of King
Hcnnj IL 1185/80 (The Publications of the Pipe KoU Soc., Bd. 36), Lond. 1914, mit
Einleitung von J. H. Round (für festländische Verhältnisse kaum ergiebig). Für die
Beziehungen des Reiches nach Westen hin verdient etwa Berücksichtigung: E. Du-
vernoy, Cotalofiue des Actes des Dues de Lorraine de 1048 ä 1139 et de 1176 ä 1220
(das Mittelstück .schon 1904 erschienen), Nancy 1915.
2) Vgl. Susan Cunningham, The stonj of Thomas BecJcet, Lond. 1914 (populär).
3) Vgl. R. Beretia, Delta compagnia della morte e deila compagnia dcl Caroccio
alla haltaglia di^Lrfjnano, Arch. stör. lomb. 41, 1914. Vgl. auch 0. v. Beloic,
Der deutsche Staat des MA. (oben S. 43), S. 151 ff.
74
\
vielfach noch immer bestimmende politische Auffassung (oder Nichtauf-
fassung) des in der kritischen Einzelarbeit trefflichen Giesebrecht hin-
sichtlich der großen Linien von Friedrichs italienischer Territorialpolitik,
die auch auf seine Nachfolger weiter wirkte, gewiß erheblich hinaus-
kommen. Man darf da von W. Lenel und Fed. »Schneider Aufklärungen
erhoffen.
Um so reichere Ausläufer hat die schon vor dem Kriege sehr leb-
haft geführte Auseinandersetzung über den Sturz Heinrichs des
Löwen und die damit zusammenhängenden Fragen auch noch in den
Kriegsjahren erzeugt. Ich darf mich da kurz fassen, da ich auf eine
Übersicht von F. Güterhoch, Neuere Forschungen zur Geschichte Hein-
richs des Löwen, D. L. Z. 1920, 6. März, verweisen kann. Von G. ging
auch der Anstoß zu der neuerlichen Erörterung aus, in die neben anderen
namentlich J. Haller mit Energie und Scharfsinn eingriff. Diese Aus-
einandersetzung hat sich nun, nicht immer glücklich und ergebnisreich,
aber für einzelne Punkte doch förderlich, fortgesponnen. An erster
Stelle stehen da die nicht immer anmutigen, aber tief eindringenden
Studien von K. Schanibach, namentlich die umfangreiche: Noch einmal
die Geinhäuser Urkunde und der Prozeß Heinrichs d. L., Z. d. bist. Ver.
f. Niedersachs. 81 u. 83, 1916. 1919 (auch als Buch erschienen) ^'). Be-
sonders in der Klarleguug des Prozeßganges und der Bestimmung der
Termine ist hier, wenn man auch über Einzelnes streiten kann, mit
methodischer Sicherheit das erreicht, was sich bei den widerspruchsvollen
Schriftstellerangaben eben ermitteln läßt.
lu der Abhandlung von P. J. Meier, Zum Prozeß Herzog H. d. L., Jahrb. d.
Gesch.-Ver. f. d. Herz. Brauuschw. 15, 1915, verdient, während vieles andere nicht
haltbar ist, der Einfall , die Narratio der Geinhäuser Urkunde auf den Wortlaut des
Würzburger Urteils im Lehnsprozeß zurückzuführen, wohl mehr Beachtung, a's ihr
bisher zuteil geworden. Auch die Beziehung des reatus maiestatis auf Klage und
Zweikampf anerbieten des Markgrafen Dietrich von Landsberg dürfte richtig sein. Das
bleibt aber ebenso wie der Inhalt dieser Klage noch unsiclier; daß sie auf die Hilfs-
verweigerung vor der Schlacht von Legnano zielte, wie noch der leider im Kriege
1915 gefallene H. Niese wieder gemeint hatte'), ist jetzt allgemein aufgegeben. Die
Arbeiten von TT". Biercije sind nur zum geringen Teil förderlich ^). Zur Frage kommt
auch in Betracht als wichtigere Quelle Sigeberti Contimiatio Aquicinctina (= Anchin),
der P. Kath, Greifsw. Diss. , Brüssel 1914 (auch im Bull, de la Comm. Eoy. d'Hist.
de Belgique 83) nach der Arbeit von ß. Timm 1913 eine erneute sehr eingehende
Untersuchung gewidmet hat. Daß dies Werk erst zwischen 1189 und 1199, wenn
auch mit Benützung früherer Notizen oder Aufzeichnungen, niedergeschrieben ist,
ist für die Entscheidung namentlich der Chiavennafrage nicht gleichgültig.
1) Vgl. ders. Hist. Viert. 19, 1919 und H. Z. 122, 1920.
2) Zu seiner 1913 erschienenen Hauptschrift in Z. f. E. g. A. 34 brachte er H. Z.
112, 1914 noch Ergänzungen. Seine Aufstellungen sind fast sämtlich bestritten.
3) So in Einzelheiten: Die Kämpfe gegen H. d. L. i. d. J. 1177—1181, Forsch,
u. Versuche, Festschr. f. D. Schaefer, Jena, 1915; weniger die Abhandlung über Die
Wendeneinfülle 1178 — «SO u. Die Herausforderung H. d. L. durch Markgr. Dietrich
V. Landsberg, H. Z. 115, 1916; verfohlt: Contemptus et reatus maiestatis etc.,, Hist.
Viert. 18, 1916. — Frieda Goßmann, Heinrich v. Herford und die angebliche Einnahme
Hannovers durch die Gegner Heinrichs d. L. um 1180, N. A. 41, 1919, macht wahi'-
scheiulich, daß die Nachricht auf irrtümlicher Herübernahme aus den Ereignissen des
Jahres 1189 beruht.
75
Die Meinungen darüber, ob jene Zusammenkunft Barbarossas mit
Heinrich vor der iSchlacht bei Legnano 1176 als historisch oder legen-
darisch anzusehen sei, gehen noch immer auseinander. Sie ist bekannt-
lieh bei weitgehendem Mangel an gleichzeitigen Aufzeichnungen nur
von späteren, wenn auch immerhin noch zeitgenössischen Chronisten mit
einigen Widersprüchen namentlich betreffs der (jrtlichkeit und mit
wechselnden Einzelzügen überliefert. Ob man daraufhin nun annimmt,
daß die Tatsache der persönlichen Begegnung selbst aus der Luft ge-
griffen, vielleicht auch durch Verwechslung mit einer früheren entstanden
sei oder ob man nur Ausschmückungen eines historischen Faktums in
der Weitererzählung, etwa auch der Volksdichtung zugesteht, das scheint
stark von der mehr skeptischen oder mehr konservativen Stimmung
der Forscher den Quellen gegenüber abzuhängen. Gegenüber der Ver-
teidigung der TatPächlichkeit durch Haller und mich hat F. Güterbock
neuestens seine ablehnende Meinung noch einmal vorgetragen, nicht ohne
Geschick, aber schwerlich mit durchschlagender Überzeugungskraft auch
für die Andersdenkenden. Dies letzterschienene Buch G.s, Die Geln-
häuser Urhmde und der Prozeß Heinrichs d. L. (Quell, u. Darstell, z.
Gesch. Niedersachs. 32), Hildesh., Leipz. 1920, muß hier doch schon
genannt werden, weil dadurch die eingehendere Beschäftigung mit
manchen früheren Arbeiten überflüssig wird.
Der noch weiter verbesserte und gesicherte Urkundentext hat künftig in der
hier vorgetragenen Fassung als Grundlage zu dienen ; insonderheit wird die bestechende
Hallersche Emendation „trina citatione" statt „quia citatione", die die jüngste Er-
örterung weitgehend bestimmt hat, rettungslos beseitigt, wenn damit das störende
quia auch noch nicht als absolut gesichert gelten daii. Wie hier, so ist die For-
schung, die von G. in kritischer Sichtung in vielfachem Anschluß an die Auffassung
Schainbachs zusammengefaßt wird, in den Fragen der Interpretation und rechtsge-
schichtlichen Erklärung mehrfach zu älteren Auffassungen, z. B. Fickers, zurück-
gekehrt. In den Haujitpunkten dürfte sich eine Übereinstimmung herausbilden:
Stimmungswandel des Kaisers seit der Hilfsverweigerung von 1176, Eindämmung,
aber noch nicht Vernichtung der Wt'lfenmaclit sein Ziel, die sächsischen Fürsten das
treibende Element im ersten wegen Friedensbruch eröffneten landrechtlichen Prozesse,
der Juni 1179 in Magdeburg mit dem Achtspruche wegen Kontumaz endet. Fort-
gesetzte Feindseligkeiten üeiurichs gegen die sächsischen Großen, Achtungs Verletzungen
gegen den Kaiser und der in der Nebenklage Dietrichs von Landsberg durch Ab-
lehnung der Zweikami)fforderung in Magdeburg als evident erachtete Hochverrat (dies
noch umstritten), bilden die Unterlage des zweiten lehnsrechtlichen Prozesses, der
nach dreimaliger Ladung Jan. 1180 in Würzburg ebenfalls wegen Kontumaz zur Ab-
erkennung der Lehen führt; Verlust der Eigengüter erst bei Eintreten der Oberacht
in Kegensburg Juni 1 180. Außerdom kommt freilich noch eine erhebliche Zahl
politisch und rechtsgeschichtlich wichtiger Nebenpunkte in Betracht, insonderheit die
Verknüpfung der Vorgänge mit der Neuordnung des Eeichsfürsten.standes (vgl. oben
S. 45) '). Es ist aber unmöglich, hier alle diese Einzelheiten auch nur anzudeuten.
Die Wichtigkeit des Ereignisses und die außergewöhnliche Reich-
haltigkeit der gleichwohl spröden und widerspruchsvollen Überlieferung
rechtfertigten es wohl, daß immer aufs neue ernste Forscher gereizt
wurden, die von den Vorgängern noch nicht voll gelösten Probleme zu
bewältigen. Die Ergebnisse entsprechen vielleicht nicht ganz den letzten
1) Was E. Moeller über den Piozeß Heinrichs d. L. ausführt, erscheint unhaltbar.
76
Wünschen, die hier wohl nie befriedigt werden dürften; im ganzen ist
doch eine wesenthche Klärung unserer Erkenntnis mit nicht geringem
Müheaufwand eri-eicht. Für die Zukunft darf man nun aber die Forde-
rung erheben, daß nur unzweifelhafte Berichtigungen in möglichst knapper
Form vorgetragen werden möchten, und daß nicht etwa Unberufene
sich bemüßigt fühlen, den ganzen Umfang dieser schwierigen Fragen noch
einmal verwii'rend aufzustöbern. Es gibt ja genügend andre Probleme
der ma.lichen Geschichte, die bei ernstlicher Behandlung viel reicheren
Ertrag versprechen, als das hier nach allen Bemühungen noch möglich ist.
Gleich wenn man bei der Figur Heinrichs d. L. stehen bleibt, so
fehlt uns ja noch völhg ein eindrucksvolles Gesamtbild seines Wirkens^).
Was uns da die Kriegsjahre beschert haben, ist leider ganz unzulänglich.
Es war ein höchst unglücklicher Gedanke des Verlages von 0. Leiner
in Leipzig das unbefriedigende, schon 1867 erschienene Jugendwerk
von 31. Philippson mit erheblichen Mitteln noch einmal aufzulegen und
den seitdem verstorbenen greisen Gelehrten, der sich längst Aufgaben
der neueren Geschichte zugewandt hatte, zu einer Umarbeitung zu ver-
anlassen (^Heinrich d. L. Sein Lehen und seine Zeit, 2. Aufl., Leipz.
1918). Verleger sollten in solchen Fällen den Rat sachkundiger Ge-
lehrten einholen!
Es ist mit dieser Umarbeitung wenig anzufangen. Sie steht nicht auf der Höhe
moderner Kritik und Auffassung, gibt kein lesbares Gesamtbild, muß für Einzelheiten
vom Forscher wohl aufgeschlagen werden, bietet ihm aber auch da meist Steine statt
Brot. So bildet sie eigentlich nur ein Hemmnis für eine wünschenswerte Monographie,
die zu zeigen hätte, wie Heinrich an der Halbheit seiner Stellung, die ihn neben den
zukunftsvoUen AVegen des östlichen Territorialfürstentums auch die Bahnen des über-
lebten alten Stammesherzogtums wandeln ließ, scheitern mußte, und wie dabei
Schicksal und Persönlichkeit ineinander arbeiteten. — Noch weniger brauchbar ist,
bis auf die bequeme^ Bibliographie im Anfang, das Buch von Editha Grronen, Die
Machtpolitik Heinrichs d. L. und sein Gegensatz gegen das Kaisertimi , Eherings
bist. Stud. 139, Berl. 1919. Indem die gar nicht unbegabte Verfassei'in darauf ver-
zichtet, die Erkenntnis der Dinge aus den Quellen herauswachsen zu lassen, sondern
in echt frauenhafter Weise die geheimsten Motive von vornherein intuitiv weiß und
von dieser Grundlage aus in die Quellen hineinträgt, entfernt sie sich von aller histo-
rischen Methode ').
1) Neuere Arbeiten über seine Städtepolitik vgl. im sechsten Abschnitt. Da seine
Geschichte in mannigfacher Berührung zu der Dänemarks steht, sei hier auf einige
quellenkritische Untersuchungen zu dänischen Geschichtsquellen jener Zeit hingewiesen.
Im Widerstreit miteinander stehen die Studien xu Saxo Orammaticus von C. Weibull,
Hist. Tidskrift för Skaueland, Bd. 6, 1914 und Bd. 7, 1917/18 (Sonderabdruck Saxo-
forskning. En stridsskrift, Lund 1919) und Kn. Fabricius, Saxo Valdemarskroenike
og hans Danesaga, Hist. Tidsskr., 8. Reihe, Bd. 6. Für den Inhalt dieser Kontroverse
verweise ich auf die Besprechungen von A. Hofmeister, H. Z. 118, S. 292ff.,
121, S. 529, N. A. 41, S. 336 und B. Schmeidler, N. A. 41, S. 773 ff., wo auch
über M. Gl. Gertz, En ny text af Si-en Aggesoens Vaerker, Kopenh. 1915, berichtet
ist. Vgl. auch L. Weibidl, Liber censiis Daniae, Kung Valdemars Jordebok, Kopenh.
1916, mit Bemerkung von Hofmeister N. A. 41, S. 343 und M. Gl. Gertz, Scriptores
minores historiae Danicae medii acvi I, Kopenh. 1917. Hier notiere ich auch:
Kn. Gjerset, History of the Korwegian people, 2 Bde., New York 1915 (die ma.liche
Gesch. reicht über den 1. Bd. hinaus).
2) Die beigegebenen Untersuchungen zur Chiavennazusammenkunft und zum
Prozeß brauchen ebensowenig wie die von Philippson berücksichtigt zu werden.
77
Der Sturz des Weifenherzogs war das erste Glied in der Kette
der letzten großen Erfolge Barbarossas. Sofern diese dem Papsttum
gegenüber errungen sind, hielt man sich bisher ganz an die kritische
Forschung und Darstellung von SchefFer-Boichorst , die allerdings nun
schon über ein halbes Jahrhundert alt ist. Darüber hinaus haben jetzt
in einigen wichtigen Punkten die rückgreifenden Untersuchungen von
J. llaUer über Heinrich VI. und die römische Kirche, M. I. ö. G. 35,
1914, geführt.
Namentlich die territorialen Auseinandersetzungen zwischen Kaisertum und
Kurie nach dem Frieden von Venedig, dessen A'orteile für das erstere sehr scharf betont
werden, und der Kongreß von Verona 1184 werden dadurch in neue Beleuchtung
gerückt, nicht ohne daij in manchen Einzelheiten, z. B. hinsichtlich der angeblichen
territorialen Einigung in Verona, Vorbehalte am Platze wären. Das bedeutsamste und
überraschendste Ergebnis aber ist, daß die Verlobung Heinrichs VI. mit der sizilischen
Konstanze nicht hinter dem Rücken der Kurie und als ein feindseliger Akt gegen sie
zustande kam, sondern daß kein Geringerer der Vermittler dabei war, als Papst
Lucius ni. selbst. Manche werden dieser bisher vernachlässigten Angabe des Petrus
de Ebulo vielleicht auch weiterhin skeptisch gegenüberstehen *). Indessen wird man
schwerlich darüber hinwegkommen, und H. hat doch viel Tntffendes ausgeführt, um
die neue Struktur der Dinge, die sich daraus ergibt, verständlich zu machen. Lucius III.
war dann wirklich ein Papst, der im Interesse friedlichen Ausgleichs nach dem langen
Kampfe, aber auch aus persönlichen Neigungen, den kaiserlichen Wünschen erstaunlich
weit entgegengekommen ist -). Er mochte damals hoffen, daß die letzten verhängnis-
vollen Folgen dieses Schrittes der Kurie erspart bleiben würden, und H. hat solche
Hoffnung begreiflich zu machen gesucht, da ÄVilhelm IL von Sizilien seine Tante über-
leben konnte, und für ihn und seine junge englische Gemahlin die Aussicht auf Nach-
kommenschaft noch nicht ganz geschwunden zu sein brauchte. Wenn H. nun aber
darüber hinaus darzutun sucht, daß der Gedanke an ein Erbrecht Koustanzens über-
haupt bei dem Verlöbnis auf allen Seiten gar keine oder nur eine ganz untergeordnete
Rolle gespielt hätte, so ist das allerdings ein starkes Stück, das er unserer Fassungs-
kraft zumutet, zumal er selbst (allerdings wohl irrig nur für einen früheren Zeitpunkt)
anerkennt, daß der Tochter Rogers IL bereits einmal von den sizilischen Großen eine
Eventualhuldigung für den Fall eines kinderlosen Todes des regierenden Königs ge-
leistet worden sei. Es hieße doch die Energie von Friedrichs italienischer Territorial-
politik verkennen , wenn man annähme , er habe diese Zukunftsmöglichkeit bei dem
Abschluß der Verbindung nicht als einen Hauptposten mit in Rechnung gestellt. Und
auch an der Kurie kann man , wenn anders überhaupt Politiker au ihr tätig waren,
solche Erwägungen schlechterdings nicht außer Acht gelassen haben. Glaubte der
greise, kaiserfreuudliche Lucius 111. aus einer gewissen Gegenwartsmüdigkeit heraus
diese Zukunftsgefahr nicht scheuen zu soUen, so zeigte nach seinem baldigen Tode die Wahl
des feindseligen Mailänders Urban IIL, wie die Kardiualsmehrheit seine letzten Schritte
beurteilte. Das völlige Fiasko von dessen überstürzter Kampfpolitik gegen die über-
legene Machtstellung Friedrichs brachte dann freilich wieder die Friedenspartei
ans Ruder.
Die Fortsetzung dieser Studien hat Haller zu seiner eigentlichen
Aufgabe, einer Neubegründung der Geschichte Heinrichs VI., vor
allem nach der Seite seiner Beziehungen zur Kirche geführt. Seine
1) Es ist z. B. zu betonen, daß die Namen der Päpste Lucius (lux) und Cae-
lestinus (caolum) als Förderer der Verbindung Heinrichs, des Sol mundi, mit der
Constantia dem Dichter besonders gut passen, so daß er bei Lucius wohl etwas über-
treibend nachgeholfen haben könnte.
y) Bemerkenswert für das damalige Zusammenwirken ist auch der von
F. Schneider, Anal. Tose. (vgl. oben S. 54) S. 64 ff. nachgewiesene Besuch Friedrichs L
am Grabe des h. Galganus von Chiusi Anf. Aug. 1185.
78
Untersuchung über die sog. IMarbacher Annalen, deren Ergebnisse von
denen Reincke-Bloehs und Oppermanns stark abweichen, haben vor dem
Kriege eine lebhafte Erörterung hervorgerufen, die bei der Schwierigkeit
des Gegenstandes kaum je zu allseitiger Übereinstimmung führen dürfte ^).
Sie haben aber mit dazu beigetragen , die in der Kompilation ent-
haltenen Sti'aßburger Annalen, für deren Verfasser H. den Propst
Friedrich von St. Thomas in Straßburg hält, als wohlunterrichtete, gleich-
zeitige Quelle zur Geschichte Heinrichs VI. noch höher als bisher zu
bewerten. Auch sonst war quellenkritisch hier noch um so mehr zu
tun, als die von Th. Toeche- Mittler (j 1919) vor mehr als einem halben
Jahrhundert bearbeiteten Jahrbücher schon damals nicht auf der Höhe
standen und seitdem nur für einzelne Abschnitte, namentlich von Reincke-
Bloch, die notwendige Berichtigung erhalten hatten. H. hat nun das
Gleiche für das eigentUche Zentralproblem geleistet : die Beziehungen
Heinrichs zum Papsttum.
Schon die Krönnugsvorgänge von 1191 treten teilweise in neue Beleuchtung.
Vor allem wird dann die Geschichte des Erbkaiserplanes unter Ablehnung des ßein-
hardsbrunner Berichts, aber auch der von Krammer und Bloch voi'getrageneu Theorien
über den staufischen Kaisergedanken ^) auf eine gesichertere Grundlage zu stellen gesucht.
Xach schrittweisen Erfolgen bedarf Heinrich zur Überwindung des Kölner Widerstandes
der Hilfe des Papstes. Die Kreuznahme dient der Annäherung. Im Herbst 1196
finden bei Rom die entscheidenden Verhandlungen zwischen Kaiser und Papst statt.
Das Ziel Heinrichs, Coelestin IIP, dessen Bedeutung von H. höher gewertet wird,
zur Königskrönung seines Sohnes an Stelle des Kölner (und Pal erni itaner) Erzbischofs
zu bewegen und dadurch den deutschen Widerstand zu bezwingen , mag gegenüber
abweichenden früheren Deutungen richtig erkannt sein. Fragen wir indes nach dem
Gange der Verhandlungen im einzelnen und nach den Zugeständnissen, die dem
Papste für dies Opfer geboten wurden, so geraten wir bei der Dunkelheit und Ein-
silbigkeit der Quellen in ein Gestrüpp von Hypothesen und Konstruktionen, in das
wohl die wenigsten der sicherlich ja klugen, aber auch eigenwilligen Führung H.s
folgen werden. Ich kann hier nur andeuten, daß m. E. der von Giraldus Cambreusis
berichtete große Plan , die Kurie für die strittigen und an das Reich genommenen
italienischen Gebiete durch eine umfassende Bepfründung im Reiche, ja in der ganzen
abendländischen Christenheit zu entschädigen (von voller Säkularisation des Kirchen-
staats ist keine Rede), daß dieser Plan jenes letzte und höchste Angebot Heinrichs
dargestellt hat, von dem er Const. 1, 525 spricht. Es ging über die ähnlichen An-
erbietungen Barbarossas an Lucius III. hinaus einmal durch seinen Umfang, dann
auch, weil es die Abhängigkeit der Kurie von der Reichskasse vermied; es war auch
nicht unausführbar, denn es wies auf die Art voraus, wie tatsächlich später die
Finanzierung der Papstkirche großenteils erfolgt ist, und in diesem Zusammenhange
bedarf es wohl noch weiterer Untersuchung. Diese richtige Erkenntnis hat sich nun
H. verbaut durch seine kühne Deutung einer späteren Äußerung Innozenz' III. in
seiner sog. Deliberatio von Ende 1200, nach der, in H.s Auslegung, der Kaiser 1296
dem Papste als höchstes Zugeständnis die Lehensnahme des Reiches aus päpstlicher
1) Ein Nachläufer zu der Kontroverse, auf die hier nicht eingegangen werden
kann, war noch die Schrift von 0. Opper?nami, Zu den sog. Marbacher Annalen,
Hist. Viert. 18, 1917.
2) Die Kontroverse darüber und die fast durchgängig skeptischen Kritiken fallen
schon in die Zeit vor dem Kriege. U. Stutz faßt Z. f. R., g. A. b7, 1916, S. 553, das
Ergebnis dahin zusammen , daß jene Forschung ideen- und sprachgeschichtlich durch
die Einflüsse des römischen Rechts und der neubelebten (Spät)antike, sowie durch
die volkstümliche Vermischung von König- und Kaisertum nicht ohne Bedeutung,
dagegen verfassungsgeschichtlich ganz unergiebig sei.
79
Hand angeboten habon soll, um dagegeu seinen Erbkaiserplan mit Coelostins Hilfe
durchzuführen und den äußerlich triumphierenden l'apst durch die damit erreichte
Sicherung der Thronfolge schließlich doch mattzusetzen. Die Ausführungen Hs. über
diesen Punkt sind höchst interessant, und nicht leicht würde ein andrer imstande ge-
wesen sein, für eine so unwahrscheinliche Sache ein so glänzendes Plädoyer zu
halten. Daß indes der schließliche Kichterspruch der Geschichtsforschung dement-
sprechend lauten wird, glaube ich trotzdem nicht. Selbst wenn die Deutung der
fraglichen Äußerung richtig wäre, würde mau noch nicht gezwungen sein, einem Poli-
tiker wie Innozenz, der ja oft genug Worte und Sinn im Interesse der päpstlichen
Sache zurechtrückt, schlechthin zu glauben. Jedoch die Bedenken gegen Auslegung
und Verwendung jener Äußerung scheinen mir iiberwältigend zu sein, wenn sie auch
auf anderem Gebiete liegen dürften, als auf dem der sprachlichen Erklärung, auf dem
M. Tangl sie jüngst gesucht hat •). Auf das Einzelne oinzugeh(!n, ist hier unmöglich,
doch hat natürlich jeder, der sich mit der Geschichte Heinrichs VI. befaßt, die Pflicht,
sich mit diesem Problem ernstlich auseinanderzusetzen. Der völlige Abbruch der
A'"erhaudlungen , die an der Unüberbrückbarkeit der territorialen Forderungen schei-
terten, erfolgte wühl erst, als der Verdacht einer Förderung der sizilischen Ver-
schwörung den Papst traf.
Haller hat auf Grund seiner tiefeindringendeu Forschungen auch ein knappes
Bild der Politik Heinrichs entworfen in dem Vortrage Kaiser Heinrich VI., H. Z.
113, 1915 (auch gesondert), in dem über jene Studien hinaus die Gesamtbeurteiluug
am Schlüsse beachtenswert ist. Der Vorwurf eines Strebens nach schrankenloser
Weltherrschaft wird da abgelehnt. Nur eine Vorherrschaft über die Nachbarländer
in Fortführung der älteren Überlieferungen sei das Ziel gewesen. Indem freilich zu
dem kaiserlichen jetzt der normannisch -sizilische Interessenkreis hinzutrat und die
Deutschen hinauswies auf das Mittelmeer, zur Hegemonie auch im Orient, fehlte au
einer Weltherrscherstellung doch nicht gar viel. Hätte nicht die Unvernunft der
Naturgesetze dem Leben des großen Staufers vorzeitig ein Ziel gesetzt, so hätte wohl
eine dauerhafte Weltmachtschöpfung entstehen können, der die Deutschen niemals
so nahe gewesen sind wie unter Kaiser Heinrich VI. — Es wird auch da erlaubt
sein, die Kraft der Gegenwirkungen, die durch Ziele und Methoden der kaiserlichen
Politik notwendig allenthalben ausgelöst werden mußten, höher einzuschätzen und die
Möglichkeit des Bestandes einer zugleich so ausgedehnten und so schroff eingreifenden
Herrschaft entsprechend niedriger zu werten. Es soll aber noch einmal betunt werden,
daß aller Widerspruch gegen die bei H. gewohnten Üheispitzungen und die allzu
selbstsichere Art des Vortrags die bedeutende Wirkung dieser Arbeiten nicht aufhebt.
Darum habe ich ihnen hier auch mehr Raum gewidmet, als ich im Rahmen dieses
Buches vielleicht gedurft hätte.
Heinrichs Persönlichkeit hat, wie mir mehrfache Anfragen von
Frontsoldaten, die Bühnenautfüiiruno^ des Grabbeschen Dramas u. a. m.
zeigten, die Geister in den ersten Kriegsjahren, da es wieder um das
Ganze ging, lebhafter beschäftigt, als man angesichts der alle Gedanken
und »Sinne bezwingenden Gegenwartsereignisse hätte glauben sollen. Der
Absturz war diesmal nocli erschütternder als nach Heinrichs Tode. Es fehlt
bei solchem Interesse nicht an weiteren Arbeiten zu seiner Geschichte ;
doch treten sie hinter den Hallerschen Studien ganz zurück ^).
1) Vgl. M. Tamß, Die Deliheraliu InnoKenx.' HI. S.B. Berl. Akad. 1910. der
den nichtöffentlichen Charakter der für das geheime Konsistorium bestimmten Deli-
beratio m. E. richtig bestimmt und die Äußerung Innozenz' III. wohl auch mit Recht,
wenn auch nicht mit ausreichender Begründung, auf einen Vorgang bei der Krönung
von 1191 bezieht, und die Erwiderung Hallers, Hist. Viert. 20, 1920, die trotz der
vorgebrachten Gegenargumente nicht das letzte Wort in dieser Sache sein dürfte.
2) Vgl. A. Cartellieri, Heinrich VI. und der Höhepunkt der staufischeti Kaiser-
politik, Leipz. 1914, wo u. a. versucht wird, die Kreuzzugsabsicht als das Primäre
gegenüber dem Erbkaiserplan hinzustellen; H. Stindt, Zur Beurteilung Kaiser
80
In der Geschichte Friedriclis I. und Heinrichs VI. spielt be-
kanntlich das Spolienrecht des Herrschers, die Einziehung des beweg-
lichen Nachlasses der verstorbenen Prälaten, eine erhebliche Rolle, Es
ist vielleicht diejenige Epoche, in der die Bhcke der Öffentlichkeit am
meisten auf dies Recht gelenkt gewesen sind. Otto IV. hat sogar ver-
leumderisch seine Einführung erst durch Barbarossa behauptet; er selbst
und Friedrich II. haben darauf Verzicht geleistet. So setze ich den
Hinweis auf eine wertvolle Untersuchung über das Spolienrecht am besten
an diese Stelle. F. Prochnoic, Das Spolienrecht und die Testierfähigkeit
der Geistlichen im Ahendlande bis siim 13. Jahrh. (Diss. Berl. als
Teildr.), Eherings Hist. Stud. 136, 1916, hat zum erstenmal dies Recht
auf breitester Grundlage, nicht nur so weit es vom deutschen König
geübt wurde und nicht allein im Reichsgebiet, sondern auch in den
andern europäischen Ländern untersucht.
Er leitet den ganzen Streit um die Spolie aus der grundsätzlichen Verschieden-
heit des römischen und germanischen Rechts her, indem das letztere Testamente
nicht kennt und Verfügungen eines Sterbenden wegen geschwächter Dispositions-
fähigkeit verwirft, die Kirche aber Vermachungen von Fahrnis durch Testament in
ihrem Interesse begünstigt. Die Begründung des Eiuziehungsrechtes mit dem Vor-
rechte des Muutherren beim Mangel von Deszendenten fährt uns auf die Auffassung
von AVaas (oben S. 65); es hängt eben eng mit dem Eigentumsrecht zusammen. Die
geistliche Gewalt ist auch hier der angreifende Teil, der nicht die Aufhebung eines
drückenden Ausnahmezustandes, sondern unter Beseitigung eines alten Gewohnheits-
recütes die ^^chaffung eines neuen Privilegs der Geistlichen fordert, um Reichtum
und Macht der Kirche zu wahren.
Das wird wie für die westeuropäischen Staaten, so auch für das Deutsche Reich
näher ausgeführt Der Nachweis der sicheren älteren Belege aus dem 10. und
11. Jahrh. (mit Abweichung von Tangl), die Handhabung durch Friedrich I., die Preis-
gabe nur des Spolien-, nicht auch des Regalienrechtes (wie Krabho annahm) 1209 und
]'213, da die bona ecclesiarum vacantium nicht als Gefälle während der Vakanz auf-
zufassen sind, die Einschränkung der Regalie auf die wirkliche Vakanz seit 121G und
die allmähliche Durchsetzung von Testierfähigkeit der Prälaten und Intestaterbfolge
der Kirche seit Friedrichs II. Privileg von 1220, — das und manches andre verdient
da gewiß für den Erforscher der staufischen Geschichte sorgfältige Berücksichtigung.
Der Tod Heinrichs VI. ist der große Wendepunkt der deutschen
Geschicke im MA. Wohl reichen die Kämpfe des Kaisertums mit dem
Papsttum um die politische Vormacht noch weit in das folgende Jahr-
hundert hiueya. Aber das Weltbild ist doch tiefgreifend gewandelt:
Die Hegenioniesteliung des Imperiums, das in seine zentralen Unter-
nehmungen die Geschicke der Nachbarvölker mehr oder weniger hinein-
zog, ist erschüttert; über den zur Selbständigkeit und Gleichbedeutang
emporstrebenden Nationen Europas thront in neuer und eigenartiger
Weltherrscherstellung das Papsttum.
Eeinrichs VI. D. G. Bl. 15, 1914 (weitgehende Rechtfertigung); F. v. Reüxetisiein,
Deutschlands u. Englands erstes polit. Begegnen im Ziveifrontenkrieg Kaiser H. VI,
.,üer Falke'-, Nr. 2, 1916. Ferner: J. Geyer, Papst Klemens III 1187 — 91, Jen.
hist. Arb. 7, Bonn 1914. Sorgfältige Regesten der Kaiserin Konstanze bietet eine
Heidelb. Diss. von R. Ries (1914), die leider noch nicht gedruckt werden konnte.
Wenigstens der Zeit nach ist hier auch einzureihen: K. Rauch, Die Erwerbung des
Herzogtums Steiermark durch die Babenberger (1192), Z. f. R., g. A. 38, 1916, wo
die verfassungsgeschichtliche Bedeutung des Vorgangs gewürdigt wird.
Wissenschaftliche Forschun^sberichte VIT. 6
81
5. Das Jahrhundert päpstlicher Weltmacht
Als die Zeit der Hauptzäsur im abendländischen j\IA. erscheint
uns jetzt mehr und mehr schon das 12. Jahrhundert. Da haben sich
Jene geistigen, künstlerischen und wirtschaftlichen Wandlungen an-
gebahnt, die das späte gotische MA. von dem i'rüheren scheiden. Vom
franz()sischen Standpunkt betrachtet, bedeutet das 13. Jahrhundert trotz
reichster Entfaltung eher schon Erstarrung der Schöpferkraft und Ab-
stieg. Dagegen werden die vom Westen ausgehenden Anregungen in
den Ländern des Imperiums nun erst in vollem Umfang verarbeitet
und zu originalen Leistungen gesteigert. Während aber in Deutschland
diese Entwicklung durch die Zertrümmerung der politischen Macht vor-
zeitig ins Stocken kommt, zeigt Italien im Ducento eine ununter-
brochene Aufwärtsbewegung seiner Kultur. Seine wachsende materielle
und ideelle Bedeutung zieht noch stärker, als schon im ausgehenden
12. Jahrh. auch die politischen Kräfte an sich. Ein ganz italienisch
gefärbtes Kaisertum kämpft hier den letzten Entscheidungskampf, aber
indem es unterliegt, läßt es hier keine Leere, wie in Deutschland zu-
rück, sondern räumt nur den Platz dem siegreichen Papsttum, das wäh-
rend des ganzen 1 3. Jahrh. die Zeit seiner höchsten Weltgeltung er-
lebt hafi).
Derjenige Papst, der sie vor allen andern begründet hat, Innozenz III.
(1198 — 1216) ist durch die Forschungen der letzten Jahrzehnte kon-
fessionellen Einseitigkeiten zwar noch nicht gänzlich, aber doch in zu-
nehmendem Maße entrückt. Man kennt ihn aus seinen bewunderungs-
würdigen Registern inmierhin so gründlich, daß die Forschung mehr
darauf ausgeht, einzelne Auffassungen richtigzustellen-') oder gewisse
Anschauungen des Papstes übersichtlich herauszuarbeiten ''j, als daß sie
viel tatsächlich Neues über ihn vorzubringen wüßte.
Das letztere gilt, soviel ich sehe, allein von dem kurz yor dem
Kriege erschienenen Buche von F. Baetligen, Die Begentschaff Papst
Innozenz II I. im Königreich Sizilien, Heidelb. Abhandl. 44, Heid. i914.
1) 0. Hartiq, Des Onuplirius Panviniiis Sammlung von Papsthücbiisscn in der
Bibliothek Joh. Jak. Fiujrjers (Codd. lat. monac. If^f)— 160), Hist. .]ahrb. .^8, 1917,
weist darauf hin, daß diese Sammlung an Papstbildnissen, von denen schon einzelne
des 13. Jahrh. aaf gute Vorlagen zurückgehen, auch an Grabschriften von Päpsten
und Kardinälen, üntenschriften, Siegeln, Wappen usw. erheblich reicher ist, als der
darauf beruhende Druck von 15(i8, der aber erst mit Urban VI. einsetzt.
2) So ist in der Frage der Exkommunikation Phi]ipi)s von Schwaben der von Hauck
erhobene Vorwurf lügenhafter Erfindung nicht aufrechtzuerhalten. Die TJnter-
.scheidung zwischen genereller und namentlicher (für Philip)) nicht zutreffender) Ban-
nung erklärt die Widersprüche der beiderseitigen Angaben hinlänglich. Vgl. anknüpfend
an die Ausführungen von /''. Baetinjcn, M. I. ö. G. 34, 1913, die Bemerkungen von
E. EicJmiaun, Hist. Jahrb. 35, 1914.
3) Dahin gehört Erich W. Meyer, Stnafdheoricn Papst In>w.\enx,' III., Diss.
Jen. 1914, vollständ. : Jen. hist. Arb. 9, Bonn 1920. wo man eine bequeme Zusammen-
stellung einschlägiger Belege aus den Registern findet, die freilich recht fruchtbar
erst dann sein würde, wenn versucht wäre, die Weiterbildungen und Neuprägungen
gegenüber deni schon von den Vorgängern Gesagten zu scheiden.
82
Hier ist der einleitende Abschnitt von Winkelmanns Jahrbüchern der deutschen
Geschichte unter Otto IV. auf Grund der jüngeren Forschungen und ungedruckten
Materials aus der Capuaner Briefsammlung völlig neu gestaltet und auch in der Auf-
fassung vertieft. Umsicht und Maßhalten der päpstlichen. Vormundschaftsregierung,
die trotzdem vergeblich mit der Anarchie rang, treten ebenso deutlich hervor, wie
die Vorstellung, daß damit am besten auch das eigenste Inte; esse der Kurie gewahrt
werde, und ihre enge Verbindung mit dem Königreich möglichst auch für die Zukunft
gesichert werden müsse, worauf z. B. die Übertragung der wichtigen Grenzgrafschaft
Sera an einen Bruder des Papstes zielte. Unter den Beigaben ist die rechtfertigende
Beurteilung von Heinrichs VI. getreuem Helfer Markward von Annweiler , den ja
auch Haller gebührend würdigt, und der Regesten nachtrag für die Jugendzeit Fried-
richs n. 1199—1209 besonders hervorzuheben^).
Die Politik Innozenz' III. 2) umspannte die gesamte christliche Welt,
die abendländische Geschichte jener Zeit gliedert sich mühelos ein. Zu
ihr stehen die bedeutungsvollen Gedenktage Frankreichs und Englands:
die Schlacht bei Bouvines 1214 3) und der Erlaß der Magna
Carta 1215 in engster Beziehung. Über letztere ist die wertvollste
Veröffentlichung jüngster Zeit: Magna Carta. Commemoration Essays.
Witli a preface hy tlie Bt. Hon. Viscount Bryce. Ed. hy U. E. Maiden
for ihe Boyal hist. Society 1917.
G. B. Adams betont hier, daß Innozenz III. nicht als Lehnsherr Englands,
sondern als Papst die M. C. annulliert habe. Von den sonstigen Beiträgen sind na-
mentlich die ständischen und rechtsgeschichtlichen Erörterungen mehrerer Gelehrter,
darunter J. H. Round und P. Vinogradoff hervorzuheben. Der durch die jüngeren
Forschungen hervorgerufene Gesamteindruck, d e M. C sei hastig gearbeitet und un-
geschickt redigiert, wird durch diese Abhandlungen nur noch verstärkt, wenn auch ihre
Bedeutung für die Einschränkung der absoluten Königsgewalt dadurch natürlich nicht
gemindert wird*).
Zur Geschichte des Albigenserkrieges liefert A. Villemagne,
BuUaire du hien heureux Pierre de Castelnau martyr de la foi (16 fevrier
1) Hierher gehört auch, ein Teil der von Fed. Schneider. Neue Dokumente vor-
nehmlich aus Siiditalien, Qu. u. Forsch, aus ital. Arch. 16, 1914 (separ. 1913), her-
ausgegebenen Urkunden, die sich insgesamt über die Zeit vom 11. — 13. Jahrh. er-
strecken.
2) Arbeiten, die zur Erinnerung an den Tod Innozenzens vor 700 Jahren er-
schienen, dürften wissenschaftlich kaum in Betracht kommen, so C. Meda, Un gründe
assertore del papato. Nel VII centenario della morte di Inn. ZU, Rassegna naz. 38,
191*>; G Domenici, Inn. III, Rom. 1917; C. H. E. Pirie- Gordon , Innocent tke
Great. An essay on his life and times , London (Jahr?), mit streng kirchlichem
Standpunkt, Vgl. auch A. Serafini, Inn. UI e la riforma religiosa agli inixi del
sec. XHI, Rom 1917.
3) Ihre Bedeutung wurde gewürdigt von A. Cartellieri, Die Sehlacht bei Bou-
vines im Hahmen der europäischen Politik, Leipz. 1914 und von J. Gay, La bataille
de B. , Lille 1914. Vgl. F. Rötting , Quellenkritische Untersuchung der Chronique
rimee des Philippe Mousket für die Jahre 1190—1217, Jen. Diss. , Weimar 1917
(Teildruck) ; Roussel, Annales du regne de Philippe- Auguste pour 1212 et six premiers
mois de 1213, These, Paris 1916. Vgl. auch oben S. 61. Sittengeschichtlich gehört
in diese Zeit: S. Schcler (gefall. 1914), Sitten und Bildung der französischen Geist-
lichkeit nach den Briefen Stephans von Tournay (-j- 1203), Jen. Diss. , Eherings hist.
Stud. 130, Berl. 1919 (für den Säkularklerus vielfach recht ungünstig).
4) Vgl. W. S. Mackechnie, Magna Charta, a comjnentary etc., 2. umgearb.
Aufl., New York 1914; TU. D. Guthrie, M. C. and other addresses, Oxf. 1917, und die
kurze Gedenkscbrift von X. M. Butler, M. C. 1215—1915, New York 1915. Wertlos
ist J. R. Leeming, Stephen Langton, hero of M. C, Lond. 1915.
6*
88
1208), Montpellier 1917, einen, wie es scheint, nützlichen Beitrag. An
den 4. Kreuzzug, für den die wirtschaftlichen Gegenbestrebungen der
Venezianer gegen ihre genuesischen und pisanischen Mitbewerber als
ausschlaggebend, z B. auch für den Ausschluß des mit Genua zu eng
verbundenen Markgrafen Bonifaz von Montferrat vom lateinischen Kaiser-
thron, betont werden, knüpft die Studie von F. K. Futheringham, Marco
Sa7iudo Comjueror of the Archipelago, Oxf. 1915, an, durch die ältere
in der Engl. bist. Rev. erschienene Darlegungen um einige Kapitel er-
weitert werden, um zu zeigen, wie Älareo Sanudo, der Schwiegersohn
des Dogen Enrico Dandolo, sich sein Inselherzogtum schuft).
Was endlich die Politik Innozenz' III. gegenüber dem deutschen
Reiche betrifft, so eröff"nete der seitdem 1917 verstorbene F. Michael
S. J. mit dem 6. Bde. seiner bekannten Geschichte des deutschen Volkes
vom 13. Jahrh. bis zum Ätisg. d. 31 A. eine neue Sonderabteiluug: Poli-
tische Geschichte Deutschlands vom Tode Kaiser Heinrichs VI. bis zum
Ausgang des MA. 1. Buch, Freib. i. B. 1915.
Da der starke Band nur bis 1227 reicht, so wäre es, in gleicher Ausführlich-
keit fortgesetzt, ein Werk von ungeheurem Umfang geworden. Eine derart ins ein-
zelne gehende Darstellung, die großenteils doch auch oft Gesagtes wiederholt, wäre
allenfalls noch wünschenswert, wenn man hoffi'U könnte, hier das Erreichbare an ob-
jektiver Wahrheit zu finden. Daß der sehr kenntnisreiche und scharfsinnige Vf. auf
seine Weise ernstlich nach Wahrheitserkenntnis gestrebt hat, soll nicht verkannt wer-
den; aber das Ziel zu erreichen, war er nicht imstande, weil er sich grundsätzlich
von vornherein auf den Boden der päpstlichen Partei stellte und damit auf eine über
den Dingen stehende Beurteilung, die auch dem gegnerischen Stand|)uukt gerecht zu
werden versucht hätte, verzichtete. Er ist mehr Apologet, als Geschichtschreiber und
bewegt sich in einseitig konfessionellen Bahnen, die die historische AVissenschaft sonst
doch zu ihrem Vorteil mehr und mehr hinter sich gelassen hat. Ebenso veraltet
■wirkt seine durchgängig moralisierende Art, die sich so gänzlich innerhalb der einmal
gewählten engen Schranken bewegt und fast schon etwas Übriges zu tun glaubt, wenn
er einräumt, daß „der als Dichter große, als Charakter kleine'' Walther von der
Vogelweide ,, nicht von Grund aus gemein war". Behält man das alles stets im
Auge, so mag man auch aus der kritischen Arbeit dieses Buches, die besonders in
17 Exkursen niedergelegt ist, immerhin Gewinn ziehen. Als geschickter Apologet
trifft er eben mehrfach auch das richtige, wenn er etwa in Winkelmauns Jahrbüchern
Überbleibsel seiner früheren mehr ghibeilinischen Auffassung oder bei Hauck prote-
stantische Einseitigkeiten zurückweist. Weniger erfolgreich erscheint er bei Angriffen
auf wohlerwogene Urteile Fickers, und ohne sorgfältigste Nachprüfung sollte kein
Forscher irgendwelche Ergebnisse M.s übernehmen, wenn er auch die Pflicht hat,
sich mit ihnen auseinandwrzusetzen. Denn auch bei dieser kritischen Xleinarbeit ist
!M.s Geist durchaus befangen; für Unvoreingenommenere ergibt sich oftmals die
Widerlegung leicht, wie das H. Otto, Eist. Jahrb. 37, 1916 an einigen Beispielen
gezeigt hat.
Auf den sehr reichen Inhalt im. einzelnen einzugehen, ist hier un-
möglich. Er leitet uns bereits in die Geschichte Kaiser Fried-
richs II. hinüber.
1) Vgl. jetzt auch H. Krctschmayr, Gesch. von Venedig II, Gotha 1920. Über
den alten byzantinischen Kaiser Isaak II. Angelos: F. Coqnas.'io, Un impcratore
bixayitino dclla decadenxa, Rom 191;'). Auch das umfassendere Work von L. Oeeo-
nomos , La vie religieuse dans l' Empire byxaiitin au temps des Comnhies et des
Anges, Par. 1918, sei hier angemerkt.
84
"Wenn schon dessen Anfänge bis zum ersten Bruch mit dem Papsttum hier mit
unverteunbarer Abneigung dargestellt sind , wie wäre es erst bei einer Fortsetzung
des Buches für die Zeiten der großen Kämpfe geworden ! Eine Vorstellung davon erhält
man aus zwei vorbereitenden Untersuchungen Michaels für den nächsten Band: Eine
der auf fallendsten Umcahrheiten Kaiser Friedrichs IL, "L. t. kath. Theol. 40, 1916,
wo er Fickers Ansicht, die Ernennung Rainalds von Spoleto zum Statthalter der Mark
Aucona im Juni 12'28 sei nur Eventualauftrag gewesen, bekämpft, und Ist Kaiser
F. IL im Aug. und Sept. 1227 schiver krank gewesen? ebda. 41, 1917, wo der Krauk-
heitsgrund Friedrichs für seine Eückkehr von der bereits angetretenen Kreuzfahrt im
Einklang mit der Behauptung Gregors IX. wieder als unwahre Fiktion hingestellt wird.
Bei solchem durchgängigen Mißtrauen und Gegensmn hätte M uns schwerlich tiefer
in Wesen und Politik des letzten großen Staufers einführen können ^).
Durchschlagendes füi' dies Thema ist aus den Berichtsjahren auch
sonst nicht gerade zu verzeichnen ; doch war die Einzelforschung reich
genug. Von den deutschen Geschichtsquellen zu seiner ersten Regie-
rungshälfte hat die allerdings viel weiter zurückgreifende Ursperger
Chronik des Propstes Burchard (bis 1229) in den Script, rer. Germ,
durch 0. Holder-Egger (f 1911) und B. v. Simson (f 1915) eine zweite,
erheblich verbesserte Auflage erhalten, die gegenüber der vorigen nament-
lich einen reichen Kommentar voraus hat {Burcliardi praepositi ürsper-
gensis Chronicon, ed. II, Hann.-Leipz. 1916).
Als den Verfasser der Sächsischen Weltchronik hatte schon K. Zeumer
1910 mit guten Gründen wieder Eike v. Repgow, den Verfasser des
Sachsenspiegels, in Anspruch genommen, den er wegen eines Hinweises
in der Chronik gegen Ende seines Lebens ins Kloster eintreten ließ,
wie er auch in der Jugend zum Geistlichen bestimmt gewesen sei. Die
Autorschaft Eikes hat H. Ballschmiede, Die sächsische Weltchronih, Diss.
Berl. 1914, durch den Nachweis, daß einige für Eike anstößige Stellen,
so die betr. des geistlichen Standes, fremde Zusätze seien, bekräftigt;
sie ist auch gegen die Bedenken A. Hoimeisters (in der oben S. 69
angeführten Schrift) aufrechtzuhalten. W. Möllenberg, Elke v. Repgotv,
H. Z. 117, 1917, hat darauf zusammengetragen, was sich aus Werken
und Urkunden für Eikes Lebensstellung und Anschauungen etwa ge-
winnen läßt, wobei sein völliger Laiencharakter scharf betont wird. Viel-
fach ist da freilich über Vermutungen nicht hinauszukommen ; das freie
Dienstverhältnis, in dem E. nacheinander zu mehreren Fürsten gestanden
haben soll, bedarf wohl noch der Nachprüfung.
Nach allem Streit der Meinungen^) war es auch den Juristen ein
Bedürfnis, über das einzelne hinweg zu einer Zusammenfassung von
Eikes Anschauungf-n zu gelangen. H. Fehr, Die Staatsauffassung Eikes
V. Bepgau, Z. f. R., g. A. 37, 1916, hat eine Rekonstruktion des staat-
lichen Gesamtbildes nach Eikes Werken versucht, die als eine Art Gegen-
1) Vgl. G. Schiumherger , Une prise de possession chretienne de la rille de
Jerusalem en l'an 1229, Revue hebdomadaire, Jan. 19, 1918.
2) Zur Einfühi-ung in die Kontroversen vgl. etwa G. Colin, Der Kampf um den
Ssp., Festgabe der Univ. Zürich z. Ein weih. d. Neubauten 1914. Das von W. Ernst
angenommene Verhältnis der Abhängigkeit des Auetor vetus de beneficiis vom Ssp.
Lehnrecht bestätigt E. Möller, Z. f. R., g. A. 38, 1917; vgl. ebda. 37, 1916: F. Rosen-
stock, Die Verdeutschung des Ssp., Z. f R., g. A. 37, 1916.
85
stück zu V, Belows Bucli über den deutschen Staat im MA. (vgl. oben
S. 43) gelten darf, für den Anfänger leichter zu überschauen, weil es
uns das innere Keichsgelüpje zu bestimmter Zeit (1220 — 30) vorführt und
der V. Belowschen Polemiken entbehrt.
Noch war damals die Staatseinheit und wenigstens eine gewisse Leistungskraft
des Ganzen vorhanden. In dem Streben , die zertrennenden Reohtsgegensätze zur
Erhaltung der Einheit zu überwinden, sieht F., der natürlich auch zu manniufachen
Streitfragen (z. B. betr. df;r Bannleihe, vgl. oben S. 49, in konservativem Sinne)
Stellung nimmt, nicht zum wenigsten Eikes Größe.
E. Eichmann hat Die Stellung Eikes v. Repgau zu Kirche tmd
Kurie, Hist. Jahrb. 3b, 1917, noch näher ins Auge, gefaßt.
Jenen Rechtszwiespalt zeigte gerade in jenen Jahren vornehmlich auch das in
starker Wandlung begriffene Kircheurecht. Noch waren die sich anbahnenden hiero-
kraiischen Umbildungen nicht in die Praxis gedrungen; wer, wie der konservative
Eike auch hier nur das bisher geltende Recht abspiegelte und für das gleich-
berechtigte einmütige Zusammenwirken von Papsttum und Kaisertum eintrat, war
darum ebensowenig wie manche Kauouisteu jener Tage von einem kirchenfemdlichen
Zuge erfüllt. Wenn K. 0. Hugdmann mit dieser Gesamtauffassung im allgemeinen
wohl einverstanden i-st und insbesondere die Kinflüsse des maßvollen Kanonisten Jo-
hannes Teutonicus, der als Domherr Joh. Zemeke in Halberstadt ein engerer Lands-
mann des Sachseuspieglers war, auf Eike betont, so möchte er doch in einigen Punkten
dessen staufisch-nationale Gesinnung, die er freilich von der imperialistischen scheiden
zu können glaubt, erkennen. In der Abhandhing: „In den Ban mit reckte komen'',
Z. f. R. 38, k. Ä. 7, 1917, dürfte er gegen Eichmanns Auslegung (= iudiqio, im
Unterschied von der excommunicatio latae sententiae) erwiesen haben, daß der Aus-
schluß von der Wahl zum Könige den iusta causa Gebannten treffen sollte, wobei
die fürstlichen Wähler selbst die Überprüfung vorzunehmen gehabt hätten (ähnlich
.schon J. Hashngcn ebda. 37, k. A. 6, 1916). Die unt^'i-schiedliche Behandlung von Bann
und Acht im Landrecht und Lehnrecht des Ssp. deutet auf den Einfluß von Fried-
richs II. "Privileg an die geistlichen Fürsten von 1220 und rückt die Datierung des
Werkes innerhalb des Zeitraums von 1215—35 mehr in die erste Hälfte. Von H.s
winteren kanonistischen StreifKÜgen durch den Sachsenspiegel, Z. f. R. 40, k. A. 9,
1919, kommt hier namentlich der erste Abschnitt: Die Wirkungen der Kaisenveihe
nach dem Ssp. in Betracht. Im Zusaminenhange mit den Zeitanschauungen wird hier
der Stelle Ssp. Landr. III, 52, § 1 die Auslegung gegeben, die Weihe durch den Papst
verleihe lediglich den Kaisertitel, nicht die schon durch die deutsche Wahl begründete
kaiserliche Gewalt. U. Stutz hat in einem Nachwort sogleich widersprochen, und in
der Tat läßt die farblose Fassung der Stelle nicht sicher erkennen, daß Eike hier den
Standpunkt ausdrücklich habe vertreten wollen, auf den man sich in Deutschland
Später, 1252 und zur Zeit Ludwigs d. B. ,' gegenüber den päpstlichen Ansprüchen
allerdings gestellt hat. Die persönliche Haltung Eikes hat aber H. im allgemeinen
wohl richtig umschrieben *).
Eine eingehende Beschäftigung mit den Werken dieses großen
Juristen, dessen Wertschätzung nach einer Zeit hyperkritischer Gering-
1) Eine kleinere Arbeit aus A'. Zemncrs Nachlaß, Das vermeintliche Wider-
siandsrecht gegen Unrecht des Königs u. Richters im Ssp., Z. f. R., g. A. 35, 1914,
hat bei der Forschung gegenüber der älteren Meinung keine Annahme gefunden.
A. Pfalx, Die Überlieferung des Deutsche n^^picgcls, S. B. d. Wien. Ak. 191, 1919, läßt
da.s Verunglückte des Versuches, das ösp. recht in allgemeindeutsche Form umzu-
gießen, deutlich erkennen, führt aber über Fickers Aasgabe nicht eiheblich hinaus. —
H. Knapp, Das Rcchtshuch Ruprechts v. Freisiinj (Ri2S) , Leipz. 1916, macht uns
mit einer späteren , aus der Rechtspraxis hervorgewachseueu Piivatarbeit nach Art
der S])iegel des 13. Jh. bekannt, die namentlich straf-, gewerbe- und lehenrechtliohe
Bestimmungen rnHifilt
86
achtung längst wieder in steilem Aufstieg ist, bleibt für die Erkenntnis
der deutschen Zustände unter Friedrich II. unerläßlich.
Als sittengeschichtliche Quelle wird man daneben die Schriften
seines Zeitgenossen Caesarius v. Heisterbacli, der freilich ein ganz
andrer Heiliger war, nicht mißachten.
/. Oreven hat sich wiederholt mit ihnen beschäftigt [Kleinere Studien xii C. v. H.,
Ann. d. hist. Ver. f. d. Niederih. 99, 1915, und Die EnMekung der Vita Engelberti
des G. V. E., ebd. 102, 1918). Diese Vita, ursprünglich zur Aufnahme in die Bücher
der Mirakel bestimmt, dann, um den Märtyrertod des tüciitigen Reichsverwesers zu
preisen, ausführlicher nnd selbständig gestaltet, ist natürlich die Hauptquelle für
W. Kleist, Der Tod des Erzbischofs Engelbert von Köln, Diss. Berlin 1914, gedr. 1918
(auch Z. f. vaterl. Gesch. u. Alt. Westf. 75, 1917), der einigermaüen wahrscheinlich
macht, daß Gefangennahme statt Tötung von Friedrich von Ysenhurg beabsichtigt war,
und als Grund von dessen Feindschaft die Bestrebungen Engelberts ansieht, seine
lothringische Herzogsgewalt stärker zur Geltung zu bringen.
Bleiben wir zunächst bei den deutschen Verhältnissen unter
Friedrich II. stehen, so gehört hierher der wichtigste Teil der Abhand-
lung von K. Weller, Zur Organisation des EeicJisgiifes in der späteren
Stauferseit, Forsch, u. Versuche, Festschr. f. D. Schäfer, Jena 1915. In
den beiden ersten Jahrzehnten des 13. Jahrh wurde eine Neuordnung
des gesamten Reichsgutes und staufischen Hausbesitzes versucht, bei der
durch Anlage von Städten und Burgen, Verbesserung des Münzwesens
und Bau von Reichsstraßen eine vernünftigere Verwaltung und vorteil-
haftere Nutzung erstrebt wurde. Zu den damals neu eröffneten Reichs-
straßen möchte W. doch auch abweichend von der Verlegung in das
12. Jahrh. durch Karl Meyer (1911) den Gotthardpaß rechnen, dessen
Gangbarraachuag die Reichsunmittelbarkeit von Uri (1231) und Schwyz
nach sich gezogen habe.
Andrerseits weist Karl Meyer, Zum Freiheitsbrief König Heinrichs für die Ge-
meinde Uri V. 26. Mai 1231, 22. hist. Neujahrsbl. d. Ver. f. Gesch. u. Alt. v. Uri
1916, wenigstens für Uri die Initiative dazu nicht einer weitsichtigen Reichspolitik,
sondern den Urneru zu, welche die Summe zur Lösung des den Habsburgern ver-
pfändeten Tales selbst aufbrachten.
Willi) Cohn, Kaiser Friedrich II. und die deutschen Juden, Monatsschr. f. Gesch.
u. Wiss. d. Jud. 62, 1918, ordnet abweichend von der einseitigen Beurteilung durch
Graetz Friedrichs Haltung den deutschen Juden gegenübei ganz in die Gesichtspunkte
seiner großen Pohtik ein, die ihn zwang, mannigfache Rücksichten zu nehmen , ohne
daß für ihn persönlich Voreingenommenheit und Intoleranz eine Rolle gespielt hätten.
Zu den wichtigsten inneren Wandlungen der an Verfassungs-
neubildungen so reichen Epoche Friedrichs II. gehört sicherlich die sich
anbahnende Verengerung des Kreises der Königswähler, die bald nach
dem Tode des Kais' rs zum Kurfürstentum führte und Deutschland
zum reinen Wahlreich machte. Man kennt die endlose Erörterung dieses
Problems. B. Wunderlich, Die neueren Ansichten über die deutsche
Königsivahl und der Ursprung des KurfürstenkoUegizims, Eherings hist.
Stud. 114, Berlin 1913, gibt aus den beiden letzten Jahrzehnten vor
1913 den Inhalt von etwa 50 Schriften zu dieser Streitfrage. Man mag
dies Buch mit einiger Vorsicht zur ersten Einführung verwenden. Die
jüngeren Erscheinungen, die bis in das Jahr 1914 hineinreichen, sind
87
nicht durchweg erfreulich. ludem die Quellenuüterlage sich nicht mehr
erweiterte, kam man entweder zu Wiederhokingen oder zu phantasie-
vollen Konstruktionen, bei denen die Theorien über die Kaiserwalil (vgl.
oben S. 79j eine große Rolle spielten. Da diese Forschung mit Kriegs-
beginn einstweilen ins Stocken gekommen ist, so kann hier darüber
niclit im einzelnen berichtet werden. Übersichten findet man bei
M. BucJiner , Zur neuesten Literatur iiher die Entstehung des Kur-
fürstenkoUegs, Hist. Jahrb 37, 1916 und G. Bonivetsch, Neue Beiträge
zur Geschichte des Kurfürstcnlcollegiums und der deutschen Köniqsivahl,
Lit. Rundsch. 40, 1914. Auch auf die eindrucksvollen Bemerkungen
von Ernst Mayer , Z. f. R., g. A. 35, 1914, 8. 528, sei verwiesen. Das
schon oben S. 45 genannte, in seinem reichen Inhalt nicht leicht knapp
zu umschreibende Buch von E. Bosenstoch, der die Stämme als kon-
stitutive Verbände der älteren Zeit abgelöst werden läßt durch die zum
Lehnshof des Königs vereinigten Reichsfürsten mit den Erzbeamten
als gegebenen Führern, verdient auch hier zum mindesten vorsichtige
Berücksichtigung. Den soliden Boden einer nüchternen Einzelunter-
suchung betritt man mit der Schrift von K. G. Ilugelmann, Die Wahl
Konrads IV. zu Wien i. J. 1237, Weim. 1914.
Die für die erste Abspaltung eines engeren Wahlkollegiums \Aächtigen Vorgänge
sind mit aller Sorgfalt geprüft, wenn man auch über Einzelheiten verschiedener An-
sicht sein kann. Eine gewisse Unklarheit hat das Hineinspielen der Kaiserwahlidee
bereitet. Ich möchte die Erhebung Konrads jetzt doch nur insofern für imregelmäßig
halten, als der Wahl die abschließende Krönung nie gefolgt ist, und damit allerdings
einer Eigenständigkeit wie bei Heinrich (VII. ) besser vorgebeugt wurde, überdies der
lebende Vater die Rolle des Sohnes jetzt schärfer auf die eines hießen Vertreters be-
schränkte. Gewiß ist der Erbanspruch des staufischen Hauses in der Wahlurkunde
stark betont. al)er daß Konrad nach des Vaters Tode auch in dessen außerdeutschen
Eeichen sofort die volle Herrschaft (ohne den kaiserlichen Titel) anzutreten hatte,
entsprach doch nur dem geltenden Staatsrecht^).
In die vierziger Jahre iührt uns M. Stimming, Kaiser Friedrich IL
und der Abfall der deutschen Fürsten, H. Z. 120, 1919. Auf die ego-
istischen Gesichtspunkte der fürstlichen Territorialpolitik, in die der Vf.
bei seinen Mainzer Studien tiefere Einblicke getan hat, wird hier der
Hauptnachdruck für ihr Verhalten gelegt. Erstmalig verwendet ist eine
wichtige Mainzer Urkunde von 1242, die uns den Mainzer Domkustos
Friedrich als leidenschaitlichen staufischen Parteigänger zeigt.
Albert Beham, jener geschäftige Agent der Kurie bei den deutschen Fürsten,
des.sen Konzeptbuch zur Neuausgabe in den Epistolae .selectae der Alon. Germ, in
Aussicht genommen ist, wurde von G. Leidinger, Untersuclnmgen xur Passauer Ge-
schichtsschreibung des MA., S.B. d. Münch. Ak. 1915. als Verfasser eines in Bruch-
stücken erhaltenen Geschichtswerkes wahrscheinlich gemacht, das man bi.sher fälsch-
lich dem Mitte des 15. Jahrb. lebenden Domdekan Bm-khard Krebs zugeschrieben hat.
Den Hauptschauplatz der Wirksamkeit des letzten großen Staufers
bildete Italien. Für dies Gebiet ist daher die Forschung reicher, zu-
mal daran auch das Ausland beteiligt ist. Um die Hoffnung, einmal
1) Gegen von Dungerns Leugnung des Walilmomentes für das ältere Deutsche
Reich wendet sich K. G. Htigelmmiti , W(fr Deutschland eifi Wahlreich? M. I.
ö. G. 36, 1915.
88
eine wissenschaftlich wertvolle Ausgabe der sizilischen Konstitutionen
Friedrichs zu erhalten, hat uns der Krieg, der H. Niese hiuwegrafFte,
betrogen. Sie wäre auch die Grundlage gewesen, auf der sich die noch
immer fehlende Gesamtdarstellung von Verfassung und Verwaltung dieses
wunderbaren Staatswesens hätte aufbauen können. So bleiben wir vor-
derhand auf Arbeiten für einzelne Verwaltungszweige angewiesen, und
da ist die wertvollste jüngere Veröffentlichung die von E. Sthamer, Die
Verwaltung der Kastelle im Königreich Sizilien unter Kaiser Friedrich II.
und Karl I. von Änjou. (Ergänzungsbd. 1 zu dem vom preuß. bist.
Institut in Rom herausg. Werke : Die Bauten der Hohenstaufen in Unter-
italien.) Leipz. 1914.
Es war bekanntlich ein Hauptmittel zur militärischen Sicherung seines Reiches,
daß Friedrich die wichtigsten Burgen namentlich in den Grenzgebieten an sich brachte,
sie durch Neuanlagen vermehrte , und anstatt sie als Lehen auszutun , in staatliche
Verwaltung nahm. "Wie das neue Verwaltungssystem, das nahezu drittehalbhundert
Burgen umfaßte, beschaffen war und arbeitete, erfahren wir zum erstenmal aus dieser
Darstellung. Außerdem Uikundenmaterial Friedrichs, vornehmlich dem gegen Winkel-
manns Druck verbe.s.sert herausgegebenen, topographisch überaus wichtigen Statutum
de reparatione castroruvi beruht sie weitgehend auf Auszügen aus den reichen Re-
gisterbänden Karls I. von Anjou, der auch in dieser Hinsicht, so mit dem gewaltigen
Ausbau der Festung Lucera^j, die staufischen tJberlieferungen fortführte.
Die Kriegsrüstung Friedrichs II. zur See hat Willy Cohn in mehreren
Einzelaufsätzen, die trotz ihres halbpopulären Anstrichs und der etwas
entlegenen Druckstelle auf gründlicher Forschung beruhen, behandelt.
Nachdem er sich schon früher durch eine Studie über die normannisch-
sizihsche Flotte (19 10) die nötige Grundlage geschaffen hatte, schrieb
er während der Berichtsjahre die Aufsätze: Der Kampf der Flotte
Kaiser F. IL gegen Genua-); Organisation und Venvaltung der Flotte
Kaiser F. II.; Die Kreiazugsflotten Kaiser F. II, alle in der Armee-
u. Marine Zeitschr. „Überall** 1916 Jan, Febr., 1918 Okt., Nov., Dez.,
1919 Aug., Sept.; dazu eine Zusammenstellung der Lebensdaten von
Friedrichs Admiral Heinrich von Malta, Hist. Viert. 18, 1916^). Seit-
dem hat er auch die Flotte unter Konrad IV. und Manfred (Berl. 1920)
behandelt, so daß wir uns nun über diesen bisher vernachlässigten Teil
des staufisch-sizilischen Staatswesens, wenn auch etwas mühsame, so
doch hinreichende Aufklärung verschaffen können.
Friedrichs persönliche Kulturbestrebungen erfahren eine neue
Beleuchtung durch F. Wiedemami, Fragen aus dein Gebiet der Natiir-
1) Es sei hier gleich hingewiesen auf P. Egicli, La colonia Saracena di Lucera
e la sua distrtm'one, Neap. 1915, fortgesetzt im Arch. stör. nap. 39. Derselbe gab
einen Codice diplomatico dei Saraceni di Lurera, Neap. 1917, heraus. Inhaltlich
nicht bekannt ist mir die kurze Schrift von R. Napolitaiio, Federico II, Re Manfredi
e le Pugiie, Andria 1914.
2) Vgl. auch C. Imppviale di S. Atigelo, Genom e Federico II di Hohenstaufen,
Rassegna naz. 37, 1915; Th. Hirschfeld, Drei neue Kaisern rkunden ans Genua, Qu.
u. Forscli. aus it. Arch. 16, 1914, veröffentlicht zwei Urkunden Friedrichs U. , eine
Karls IV.
3) Vgl. auch ders., Das Amt des Admirals in Sizilien unter Kaiser F. II. in
Beitr. z. Sprach- u. Völkerk., Festschr. f. Alfr. Hillebrandt, Halle 1913.
89
Wissenschaften, gestellt von Friedricli II. dem Hohenstaufen , A. f.
Kult. 11, 1914.
Aus einer Schrift des ägyptischen Rechtsgelehrten Qarafi . der x.wi.-,' In-n 1283
und 1286 starb, erfahren wir, daß Friedrich zur Zeit des Sultans al Kamil (1218 — 38)
den muslimischen (jelehrten zur Prüfung Fragen vorgelegt hat, die ihn für physi-
kalisch-astronomische und physiologisch-optische Problenie lebiiaft interessiert zeigen ').
Das Bild des staufischen Kaiseis, wie es uns in der Chronik seines jüngeren
Zeitgenossen Salimbene erscheint, und der bunte Hintergrund italienischi.'U Lebens,
von dem es sich abhebt, sind jetzt weiteren Kreisen zuganglich gemacht durch die
sorgfältige Übersetzung von Ä. Dorcn, Die Chronik des Minoritcn Salimbene von
Parma, Geschichtschreiber d. deutsch. Vorzeit 9.j. 94, Bd. 1. 2, Leipz. 1914. Die
biographisch -kritische Einleitung faßt die neueren Forschungen, die ja das meiste
0. Holder-Egger verdanken, kurz zusannnen-).
Der j^roße Konflikt mit dem Papsttum entstand bekanntlich
nicht aus Unnachgiebigkeit Friedrichs gegenüber den vordringenden
kirchlichen Forderungen. Ein Punkt, an dem allenthalben die Ansprüche
von Staat und Kirche aufeinander prallten, war die erstrebte Steuer-
freiheit der Geistüchen. Im Gegensatz zu Frankreich und England kam
Friedrich, der da schon an einzelne Verfügungen seiner Vorfahren an-
knüpfen konnte, den Forderungen der Kirche, die einen uübelasteten
Klerus schon im Interesse ihrer eignen Besteuerungspiäne brauchte, er-
staunlich weit entgegen. Hat man doch sein Krönungsgesetz vom 22. Nov.
122Ü geradezu als „Magna Carta der deutschen Kirchenfreiheit" be-
zeichnet. Diejenigen Gewalten im Reiche, die sich künftighin der
steuerlichen Exemtion des Klerus — und in gerichtlicher Hinsicht lagen
die Dinge ähnlich — mit zäher Hartnäckigkeit entgegensetzten, und in
der Zukunft auch manche Erfolge nach dem Vorbilde der westeuro-
päischen Staatsgesetzgebung errangen, waren Städte und Territorien.
Für Deutschland hat dies Thema jetzt E. Mach, Die hirchliche Steuer-
freiheit in Deutschland seit der Dehretalengesetzgehiing , Stutz' kirchen-
rechtl. Abh. 88, Stuttg. 1916, vorzüglich und umfassend bearbeitet^).
Auch für Italien möchte sich wohl aus einer ähnlichen Gesamtbehand-
lung mancherlei Aufklärung ergeben.
Wie eifrig Friedrich auch in Sachen der Ketzerverfolgung der
Kirche das weltliche Schwert zur Verfügung stellte und der Einführung
der Inquisition ') Vorschub leistete, ist bekannt. Der groIJe Kampf ging
1) Vgl. auch K. Siulhoff, Ein diätetischer Brief an Kaiser F. IL von seinem
Ilofpliilosoplien Maaister Thcodorns, Arch. f. Gesch. d. Mediz. 9, 1916.
2) Vgl. E. Emerton, Fra Salimbene and tlie Francisean ideal, Harvard Theo-
logical Review, Okt. 1915; P. M. Bicilli, Salimbene, Odessa 1916.
y) In enger Berülirung mit diesem Thema steht die Abhandlung von A. Dopsch,
Jieformkirche und Landeslicrriichkeit in Österreich, Festschr. des ak. Ver. deutscher
Historiker au d. Univ. Wien 1914, wo die in dieser Hinsiciit besonders frühe Ent-
wicklung im deutschen Südosten geschildert und für die Entstehung der Landeshoheit
in Weiterfüiirung der Forschungen von H. Hirsch starkes Gewicht auf die Anlehnung
der exemtiMi Rctormklöster an das Landesfürstentum gelegt wird.
4) E. Jordan, La responsahilile de l'cglise dans la repression de l'heresie au
moyen üfjc, Par. 1915, sucht gegen Versuche einer Verteidigung der Kirche deren
Verantwoitliclikeit für die Schre(;knisse der Inquisition stark zu unterstreichen, ohne
nach Forschungen, wie denen von Hausen, Lea, Moliuier, Lauglois, gerade Neues zu
90
um die Befestigung der kaiserlichen Herrschaft in Italien, und da hing
das Letzte stets von der Behandlung Mailands und der Lombarden ab
Durch einen größereu Zeitraum hindurch zu verfolgen, wie die Haltung
Mailands durch das Zusammenwirken der Außenpolitik gegenüber Keichs-
gewalt und Nachbarstädten mit inneren Verfassungswandluugen bedingt
war, möchte wohl hier und da zu neuer Erkenntnis führen. Elisabeth
Abegg, Die PolifiJc Mailands in den ersten Jahrsehnten des 13. Jahrh.,
Beitr. z. Kult. 24, Leipz. 1918, hat sich dies Ziel gesteckt; da aber
ihre sorgtältige Darstellung zunächst nur bis 1225 reicht, so bildet sie
mehr eine Vorstudie zum Hauptthema und bringt noch keine über-
raschenden' Ergebnisse.
Nach dem Tode Ottos IV. sei Friedrich nach Ansicht der Vf. wohl in der Lage
gewesen, eine Schautelpolitilc über den lombardischeu Parteiungen wie Heinrich VI.
zu übeu, anstatt sich, vielleicht aus persönlichem Rachegefühl, gänzlich der Neben-
buhlerin Cremoua hinzugeben und dadurch Mailand mehr und mehr der Kurie in die
Arme zu treiben. Man wird dazu immerhin die Frage aufweifen, ob Friedrich bei
geminderter Macht auf die Dauer dasselbe Spiel hätte durchführen können, das doch
auch schon unter seinem Vater in wenigen Jahren eine wachsende Opposition emportrieb.
Die umfangreichen Studien von G. Marchetti- Longhi, La lec/axione -in Lom-
bardia di Gregorio da Montelongo 1238 — 51, Arch. stör. Eom. o6— 38, 1913—15,
behandeln ausführlich die bedeutende AVirksauiteit dieses päpstlichen Legaten und
Heerführers und dnicken im letzten Teile ein Legationsregister und das Itmerar
Gregors *).
In dem letzten Riesenkampfe zwischen Kaisertum und Papsttum
bildet den Haupteinschnitt das lange Konklave von 1241 — 43 -), über
das zuletzt der von mir aus der Reimser Briefsammlung in den S. B.
d. Heid. Ak. 191.3 veröffenthchte wichtige Kardinalsbrief neues Licht ver-
breitet hat. Die dort geschilderte furchtbare Behandlung des Kollegiums
durch den römischen Senator hatte dessen Zerspaltung und dadurch vor
allem die lange Verzögerung der zweiten Papstwahl bewirkt.
An diese Vorgänge knüpft sich ein Versuch Innozenz' IV., durch die Dekretale
,, Quia f requenter '■, die dann freilich auf den "Widerstand von Kardinälen stieß und
nicht zum geltenden Recht geworden ist, die sofortige Neuwahl am Sterbeorte des
letzten Papstes unter Ausschluß der abwesenden Kardinäle festzusetzen. Darüber
handelt ausführlich H. Singer, Das c. Quia frequenter, ein nie in Gdtunrf geicesenes
„Papstu-ahldekret" Innozenz' IV. Zugleich ein Beitrag zur Frage der SelbsUmhl im
Konklave (die hier auch ausgeschlossen werden sollte, woran sich aber eine wechsel-
volle Entwicklung knüpft), Z. f. E. 37, k. A. (i, 1916. '
Der Stillstand in dem großen Ringen wurde noch eine Weile fort-
geführt durch die neu einsetzenden Friedensverhandlungen, für deren
Verlauf ich hier doch auf die kurz vor dem Kriege erschienene gründ-
bringen. Vgl. auch E. Gorham, The mediaeval inquisiiion (kurze Darstellung), Lond.
1919; Ä. de Stefano, Saggio sui motz ereticali dei secoli XII e XIII, Rom 1915. _
1) Vgl. ders., II patriarcato di Aquileja; il papato e l'ivipero fmo alla prima
metä del^s. XHI, Vened. 1916 (Sonderdr. aus Nuov. Arch. Veneto). Vgl. auch
/. Kucxynski, Le bienheureux Guala de Bergamc, de l' ordre des Freres Precheurs,
evcque de Bergame, paciaire et legat pontifical (f 1244), Stäffis 1916.
2) Fed. Schneider veröffentlicht aus dem früheren Archiv des Dominikaner-
klosters in Siena Ein Schreiben der Ungarn an die Kurie aus der letzten Zeit des
Tatareneinfalles (2. Febr. 1242), M. 1. ö. G. 36, 1915, das die Kriegslage in West-
ungarn zu jener Zeit mit neuen Einzelheiten darlegt.
91
liehe Untersuchung von C. JRodenherg hinweisen möchte, da sie in der
Festgabe für ^leyer v. Knonau 1913 etwas versteckt gedruckt ist. Im
allgemeinen hält sie sich im Rahmen der durch Ficker bestimmten Auf-
lassung, wenn sie auch in einzelnen Punkten die Haltung des Papstes,
der anfangs einen Ausgleich in der Lombardenfrage noch ehrlich erhofft
habe, etwas günstiger, in dem Fall Viterbo vielleicht zu günstig, beurteilt.
Der Abbruch der Verhandlungen führte zu dem weltgeschichtlichen
Akte des Konzils von Lyon. Hier hat W. E. Lunt, The sources for
the first Cvwicil of Lyons 1245, Engl. bist. Rev. 33, 1918, der gelehrten
Welt eine merkwürdige Überraschung bereitet. Er weist uns auf eine
erstklassige Quelle zu den Konzilsverhandlungen hin, die * säriitlichen
Forschern aller Länder völlig entgangen ist, obwohl sie seit dreiviertel
Jahrhunderten im Drucke vorliegt ! Dieser führt den Titel: Documenta
illustrative of English History in the 13. and 14. centuries, selected from
the Records of the Departement of the Queens Remerabrancer of the
Exchequer, ed. Sir Henry Cole, 1844 (o. Ort),
Die dort zum Abdruck gebrachten AlteD.stücke sollten höchstwahrscheinlich
König Eduard I. in seinem Streit mit Erzbischof Peckham von Canterhury über kirch-
liche Befugnisse 1279 als Memorandum dienen, und die darin enthaltene Konzilsdar-
stellung ge'ht nahezu sicher zurück auf den von den englischen Gesandten 1245 an
Heinrich III. übersandten Bericht. Dieser vermag uns nun zwar nicht etwas grund-
legend Neues zu bieten, da wir ja schon sehr ausführliche Quellen besaßen. Immer-
hin ist es kritisch sehr wichtig, daß wir nun bei den zahlreichen Differenzen zwischen
der Brevis nota und der Darstellung von Matthäus Paris, eine ausschlaggebende dritte
Quelle besitzen, die, wie zu erwarten, regelmäßig zugunsten der Brevis nota ent-
scheidet. Im emzelnen ist z. B. zur Beurteilung der letzten Sendung des kaiser-
lichen Boten Walter v. Ocra wichtig, daß seine Anwesenheit bei der zweiten Konzils-
sitzung nunmehr belegt wird.
Eben in die Zeit des Lyoner Konzils fällt die erste scharfe Oppo-
sition Englands gegen den Druck der Papstkirche, der namentlich
durch Pfründenbesetzung und finanzielle Ausbeutung auf dem Lande
lastete. L. Bcliio, Innozenz IV. und England. Ein Beitrag zur Kirchen-
gescJäcJite des 13. Jahrh., Berl.-Leipz. 1914, führt die von Else Gütschow
für die Zeit des dritten Innozenz gezogenen Linien weiter.
Die anfangs gefährliche Koalition von Krone, Kirche und Adel wußte der Papst
durch die Gewährung eines Zehnten an den schwachen König Heinrich III. zu zer-
sprengen, und dies ])oliti.sche Bündnis zwischen Kurie und Krone fühlte nun zu noch
schrankenloserer Kirchenbeherrschung und starker Demoralisation , durch die selbst
Männer von strengster Kirchlichkeit wie Eobert Grosseteste, der Bischof von Lincoln,
abgestoßen und an die Seite der weltlichen Stände in der Richtung auf Revolution
getrieben wurden. Die aus H. Bresslaus Schule hervorgegangene Arbeit weiß sich
trotz der Fülle von Einzelheiten , die uns die reichen englischen Geschichtsquellen
jener Ejtoche^) ebenso wie die päp.stlichen Register bieten, zu einer geistigen Durch-
dringung des Stoffes zu erheben.
1) Die urkundlichen Veröffentlichungen zur Regierung Heinrichs III. (1216 — 72)
haben, nachdem die Patent Rolls 1913 zum Abschluß gekommen sind, mit anderen
Serien ihren Fortgang genommen. Von dem Calcndar of C/ose Bulls erschien Bd. 5
{1-242— 47). Lond. 191(j. Aus der Reihe der Close Rolls .sind wieder die Vollzugs-
an Weisungen, meist Geldzahlungen betreffend, als Uberaic Rolls ausgesondert, von
denen Bd. 1 (1221— 4U) Lond. 19I7 herauskam. Vgl. auch JL L. Canon, The grcat
roll of Ihr pijtr for ihc 20. ijear of the reign of IL III. 1241142 , Xew-Haven 1919;
92
Ein Gegenstück zu dieser Arbeit ist die von K. Wenck angeregte
Marburger Diss. von Werner Meyer, Ludwig IX. von Frankreich und
Innozenz IV. in den Jahren 1244 — 1247, Marb, 1915.
Ähiilicbe Gravamioa wie in England führten in Frankreich doch zu abweichenden
Ergebnissen, weil Ludwig d. Heil, bei aller Verehrung der Kirche ihr gegenüber
nicht der haltlose Schwächling war wie Heinrich III. Was hier über seine würdige
und feste Vertretung der Interessen von Staat und Kircbe Frankreichs und seine
wiederholt versuchte Friedensvermittlung zwischen Papst und Kaiser ausgeführt wird,
war im allgemeinen ja bekannt. Einen erstaunlichen Höhepunkt erreicht die Spannung
zwischen dem König als Vertreter der staatlichen und ständischen Beschwerden und
der Kurie in einer zum Juni 1247 in Lyon vorgetragenen Rede eines französischen
Gesandten. Dies von Matthäus Paris, überlieferte Schriftstück ist denn auch oftmals
und noch 1913 von L. Saltet als Fälschung verdächtigt. Verf. sucht die von Berger
und Langlois angenommene Echtheit erfolgreich zu bekräftigen, indem er den Inhalt
enger in den historischeu Zusammenhang einfügt und namentlich auf die Beeinträch-
tigung hinweist, die Ludwigs Kreuzzugsunternehmen durch die unerbittliche, ganz in
Weltlichkeit verstrickte Kriegspolitik des Papstes erlitt ■•).
Die Figur Ezzelins III. von Romano, für dessen Geschichte italienische
Editoren tätig waren -) , leitet uns aus dem Riesenkampt der vierziger
Jahre hinüber in die Zeit der letzten Hohenstaut'en. Für sie
sind hier nur kleinere Beiträge zu verzeichnen, für Deutschland eine
willkommene Bereitstellung von ÖtofF in 0. Dobeneckers nach ihrem Wert
hinlänglich bekannten Uegesta dipJomatica necnon epistolaria historiae
Thuringiae, Bd. 3, 2. Teil 1247 — 66, Jena 1915, wo auch die Schicksale
von Friedrichs II. Tochter Margarethe •') zu berücksichtigen waren ; für
ferner Calendar of Inquisitions. Miscellaneous : Chancery , Bd. 1. 2 (Heinrich III.
bis Eduard KL), Lond. 1916 ; Calendar of Inquisitions „post mortem'-'', Bd. 9 Edward III,
years 21—25, Lond. 1917. Für die Weiterführung der Darlegungen Dehios bis zum
Ende des .lahrh. hat hinsichtlich der kirchlichen Besteuerung TF. E Lant reichen
Stoff bereitgestellt in den Abhandlungen : Papal taxation in England in the reign
of Edward I. ; Colleciors' account for the clerical tenth levied in 'England by order
of Nicholas IV. (1296— 1302} ;' A papal tenth levied in the British Isles from 1274 -80,
Engl. bist. Rev. 30 — 32, 1915 — 17. Von dem großen Werke des ersten bedeutenden
juristischen Schriftstellers um die Mitte des 13. Jahrb. iu England: Bracton, De
legibus et consuetudinibus Ängliae, ed. by G. E. Woodbine erschien New-Haven 1915
4er 1. Bd. einer neuen besseren Ausgabe, welche die sechsbändige der Rolls Series
ersetzen soll. Vgl. J. H. Round, Bractoniana, Engl. bist. Rev. 31, 1916.
1) Bei der Rolle, die die Westalpen in den damaligen Beziehungen zwischen
Papst und Kaiser spielen, sei hier hingewiesen auf das größere Werk von A. Tallone,
Tomaso I. marchese di Saluxxo (1244 — 96), monograßa storica con appendice di
documenti iiiediti, Casale Monferrato 1916. Weniger dürfte in Betracht kommen
das Schriftchen von J. Orsier^ Pierre II. de Saroie le Petit- Charlemagne (1208—68)
et le droit de succession ä la couronne de Savoie du XII. au XIV. siede, Par. 1917.
2) Vgl. im neuen Muratori (Script, rer. ital.): Gerardus Maurisius, Cronica
dominonan Ecelini et Alberici fratrum de Romano (1183 — 1237) a cura di G. Soranxo,
Cittä di Castello 1914 und Chronicon marchiae Tarvisinae et Lombardlae (1207 — 70)
a cura di L. A. Botteghi, ebd. 1917. Ferner A. Tallone, EKxelino III. da Romano
nel „Memoriale di Guglielmo Ventura, Arch. Muratoriano II, fasc. 19. 20, Bologna
1917, eine Vorstudie zur neuen Ausgabe des Memoriale. Daran sei hier gleich an-
geschlossen die Ausgabe des Ferretus v. Vicenxa ( — 1318) von C. Cipolla, Bd. 2 (Fonti
p. la stör. d'It.) Rom 1914.
3) Vgl. ders., Margarethe v. Hohenstaufen , die Stammutter der Wettiner, I
(1236 — 65), Beil. z. Jahresb. d. Gymn., Jena 1915, wo vornehmlich die Festsetzung
der Wettiner in Thüringen und Pleißnerland behandelt ist.
93
Italien außer einer Arbeit von K. Goll, Die Geißler fahrten im J. 1260
u. J2Ü1 (Progr. d. Staatsrealfryntin. i. 17. Bezirke, Wien 1914) Eiogel-
heiten zu dem Icidenscliaitlichen Kampf um Sizilien, anknüpfend meist
an urkundliche Funde. So Fed. Schneider, Konrad IV. ^) in Latisana,
M. I. ö. G. 38, 1918, unter Verwertung eines Briefes des Königs an
Aldobrandin Cacciaeonti, ghibellinisclien Vertrauensmann in Siena, vom
6. — io. Dez. 1251 über die Pläne zur Fahrt ins sizilische Reich; so
Analekten von K. Harstedt und F. Kern, Zum Kampf um Sizilien
1256 u. 1258, M. I. ö. G. 35, 1914, ein weiteres Heft der von J. de Loye
und P. de Ccnival besorgten Ausgabe der Registrcs Alexandre IV., Bd. 2,
3. Pontifikatsjahr 1256/57, Par. 1916, vor allem aber zur Geschichte
I\Ianfreds zwei Veröffentlichungen, die sich aus den archivalischen
Studien des durch den Krieg in seiner Weiterarbeit gestörten Geschicht-
schreibers von Florenz li. Davidsohn ergaben.
Die eine: Wirtschaftslcrieg im MÄ., S. B. d. Müncli. Ak. 1915, behandelt den
wirtscliaftlichen Druck, den Papst Urban IV. durch Begünstigung fiorentiuischer, gegen
die 8taufer verpflichteter Bankherren seit \Hi2 auf die ghibellinischen Städte Pisa
und Siena ausübte, — ein frühes Beispiel moderner Krieg-führung mit Finanzmaß-
nahmeu! Die andere liciert „Beiträge xur Oesehichte Manjreds''\ Quell, u. Forsch,
aus it. Arch u. ßibl. 17, Rom 1914. Vor allem wird hier der wichtige Bericht des
Sieneser Notars Baldus von der Kurie an seine Vaterstadt, den Fed. Schneider mit
unhaltbarer Beweisfülu'ung zu 12(J3 setzen wollte, zwingend für das Jahr 1262 er-
wiesen und die damalige politische Lage durch nähere Ausführungen erhellt. Weiter
wird auf usurpatorische Ausübung von Eeichsrechten in Toskana durch Beamte Man-
freds luid auf einen angeblichen Plan des Königs mit seinem Gegner Karl von Anjou
durch eine Heiratsverbindung in Verwandtschaft zu treten *) hingewiesen.
Als König von Sizilien ist Karl ^) bekanntlich in die Bahnen seiner
normannischen und staufischen Vorgänger getreten. Für sein Hinüber-
greifen nach Toseana besitzen wir jetzt den ersten Teil einer Urkunden-
sammlung in den Documenti delle relazioni tra Carlo I. d'A'ngio e la
Toscuna, ed. S. Terlizzi (Doc. d. stör. patr. p. 1. Tose. XH) parte I,
Flor., Rom 1914. Ein großer Teil des meist aus dem Staatsarchiv von
Neapel stammenden Materials war schon durch die Publikationen von
del Giudice und Minieri-Kiccio bekannt und ist hier nur im Regest wieder-
holt. Hat auch die Edition nicht ungeteilte Anerkennung gefunden, so
bleibt die Zusammenfassung des urkundlichen Stoffes für den Benutzer
natürlich doch bequem. Karls östliche EroberungspoHtik auf den Spuren
Robert Guiscards, die ihn u. a. auch zum Oberherrn des Fürstentums
1) G. Ehrismanns neue Ausgabe der Konrad IV. gewidmeten Weltchronik Riddolfs
ron Ems, Berlin 1915, hat nur literarisches Interesse.
2) Betreffs einer von M. angeregten Disputation über den Zweck in der Natur
vgl. (IL Bäumcker, S.ß. d. Münch. Akad. 192U.
3) Mit dieser erst um 1380 durch den Danteiommentator Benvenuto von Imola
überlieferten Nachriclit dürfte indes doch schwerlich etwas anzufangen sein. Ich
vermute, daß die (päpstlichen) Briefe, auf die sie zurückgeführt wird, mißverstanden
sind und sich in Wirklichkeit auf die 1262 durch Aragonien vermittelte affinitas
Manfreds mit dem französischen Königshause, also auch Karl v. Anjou, bezogen, die
Urban IV. gern verhindert hätte.
4) Rhythmen und Distichen über Karls Siege hat aus der St. Galler Hs. 1008
L. Delisle, Bibl. de l'Ec. d. Ch. 77, 1916, mitgeteilt.
94
Achaja und seiner Anhängsel machte i), führte am Ende zum Zusammen-
schluß seines östlichen und westlichen Gegners, worüber R. Sternfeld,
Der Vertrag zwischen dem Paläologen Michael VIII. und Feter von
Aragon im J. 1281, Arch. f. Urk. -Forsch. 6, 1918, Aufschlüsse gegeben
hat, und im weiteren zu dem Gegenschlage der Sizilianischen Vesper 2)^
die Karls Weltstellung vernichtete ^),
Nach dem Sturze des lateinischen Kaiserreichs war diese Erhebung
des sizilischen Volkes auch für das Ansehen des Papsttums ein weiterer
Schlag, dem bald als dritter der Verlust des letzten Restes christlicher
Besitzungen in Syrien *) folgen sollte. Diese Einnahme von Akkon
hat auf Grund auch arabischer Quellen ^), die aufs neue die völlige
Zuchtiosigkeit der Lateiner als Hauptursacbe ihres Untergangs erkennen
lassen, geschildert: G. Schiumherger, Fin de la domination franque en
Syrie, aj)res les dernieres croisades. Frise de Saint- Jean-d' Acres , en
Van 1291 par Varmee du Soudan d'Egypte, Par. 1914.
Immerhin hatte die Schwächung Neapels die Kurie auch von einem
lastenden Drucke befreit. Von seiten des Imperiums aber war nach
ihrem Endsiege über das staufische Haus ernstlich für sie auch nach
Herstellung des deutschen Königtums vorderhand nichts zu befürchten.
Für die Geschichte Rudolfs von Habsburg bleibt seit Redlichs Re-
gesten und Darstellung der Forschung nicht mehr viel zu tun.
M. Vancsa hat Die Anfänge des Hauses Habsburg in Osterreich (Österreichs
Ruhmeshalle 4. Reihe Nr. 10), Leipz. 1918, populär dargestellt; A. Dopsch, Neue
Forschungen über das österreichische Landrecht, Arch. f. öst. Gesch. 106. 1918, sucht
gegenüber anderen Gelehrten zu erweisen, daß der Hauptteil des ausführlicheren
Laudrechts II. auf Ottokar IL und das J. l'iGÖ zurückzuführen sei, während das
sonst für älter gehaltene kürzere Landrecht I aus Rudolfs Zeit stamme; Tl. Heu-
berger, Graf Meinhard II. von Tirol und von Görx, Herzog von Kärnten, Ztschr. d.
Ferdiuandeunis, III. I'olge, 59. Heft, 1916, hat von diesem treuen Helfer Rudolfs,
diesem dem Vorbilde Kaiser Friedrichs IL nachstrebenden, modern gerichteten Fürsten
ein Lebensbild entworfen.
Man weiß, auf welch geringes Maß die italienischen Ansprüche des
1) Vgl. F. Cerone, La sovranitä napoletana sulla Morea e sidle isole vieine,
Arch. stör. nap. N. S. 41, 1916.
2) Vgl. E. Sieardi, Due cronache del Vespro in vulgare siciliano del see. XIU
(Rer. it. Script, fasc. 157. 158), Bol. 1917. Jiit einiger Skepsis wird man wohl dem
mir noch nicht zugänglichen Versuch desselben Verf. gegenübertreten, die Florentiner
Chronik der Brüder Malespini gegen das Verdikt Scheffer -Boichorst wiederum in
Schutz zu nehmen, zumal er sich, nach der Überschrift zu urteilen, in ein nationa-
listisches Gewand ileidet {Ch-itica tedesca e suggestione italiana, Nuova Antologia v.
16. Mai 1917).
o) Zum Zweikampfplan zwischen Karl v. Anjou und Peter v. Aragon vgl. die
Abhandlung von F. Soldevila, Pere U el Gran el desafiament amb Charles d' Anjou
(Extret dels Estudis Unirersitaris Catalans), Barcel. 1919.
4) Ein inhaltreicher Brief vom 22. April 1260 über die damaligen Ereignisse
im Orient an Karl v. Anjou ist Bibl. de l'Ec. d. eh. 78, 1917 aus den Archives
nationales in Paris abgedruckt.
5) Vgl. Moufaxxal Ihn Abil-Faxail, Histoire des sidtans mamlouks, arab. Text
mit franz Übers, v. E. Blochet, Paris (1916) in Patrologia orientalis XII, 3.
95
Reiches unter den ersten Habsburgern beschränkt wurden ^). Viel-
erörtert ist jener Plan, das Imperium überhaupt in Teile zu zerschlagen
und Italien ganz von einem deutschen Erbreiche zu trennen.
Daß er nicht, wie man allgemein angenommen, dem Dominikanergeneral Huinbert
do Roinanis zuzuschreiben ist, dessen wirkliche. 1585 als üpusculum tripartituin ge-
druckte Koformschrift ihn nicht enthält, hat Berf/in Birrlovan, Die rerniehdlidte und
wirldiclie Refnnnschrift des Dominikancrgenerals Huinbert de Ronianis, Diss. l'^reib.
i. B. lOlÜ, dargetan (wo auch die sonstige Literatur über den Plan verzeichnet ist).
Gegen das positive Ergebnis der Verfasserin indes, daß die im Sinne jenes Planes
abgeänderten Auszüge aus dieser Schrift wohl von einem Italiener für das zweite
Lvoner Konzil von 1274 angefertigt seien, hat K. Wench, H. Z. 118, S. '299. unter
Hinweis auf die von ihm selbst zu erwartende richtigere Bestimmung von Autor und
Zeit Einspruch erhoben. Die Haltung Ilunibeits gegenüber Kreuzzugsproblem, Griechen-
schisma und Kirchenreform ist ausführlich erörtert. —
An der Spitze der christlichen Völker Europas, als eine das Abend-
land beherrschende Macht war doch trotz mancher lokalen Nöte das
Papsttum an die Stelle des Imperiums getreten. Noch schien auch
diese oberste kirctiliche Leitung der Staatenwelt den herrschenden An-
schauungen -) zu entsprechen, wie sie soeben Thomas von Aquino ein-
drucksvoll und noch gemäßigt im Sinne der „potestas indirecta in
temporalibus'' zusanmiengetaljt l)atte. Zu der überaus reichen Literatur
über die Staatslehre dieses Doctur angelicus trat die tüchtige Schrift
von W. Müller, Der Staat in seinen BeaieJnmgen zur sittlichen Ord-
nung hei Thomas v. Aquin, Beitr. z. Gesch. d. Phil. d. MA. 19, Münst.
i. W. 1916, zu der man auch die ergänzenden Bemerkungen von M. Grab-
mann 3^, D. L. Z. 1918, Sp. 674 ff. beachten möge. Noch waren Geister
wie Roger Bacon, deren Forschungen letzten Endes zur Auflösung des
hierarchischen Weltsystems führen mußten, einsame und verfolgte Vor-
läufer einer künftigen Epoche. Eben über diesen hellsichtigen Ahner
war die Forschung im Anschluß an die 700. Wiederkehr seines Geburts-
tages lebhaft *).
1) Vgl. C. Manaresi, Documenti sull' attivitä dei giiidici iniperiali degli ajipelli
sul finire del see. XIII a Milaiio, Arch. stör, lomb., ser. 5. 44, 1917.
2) Vgl. L. P Karsavin, Orundxäge der ma.lichen Religiosität im 12. u. 13. Jahrh,,
besond. in Italien (in russ. Spr.), Petersb. 1915.
3) Vgl. M. 0 rahmann, Forschungen üher die lateinischen Äristotelesüber-
setxungen des 13. Jahrh., Beitr. 17, Münst. i. "W. 1916, vvo man ein Bild der Äristoteles-
rezeption in der 1. H. d. 13. Jahrh. erhält. Vgl. auch das Werk von Duhem oben
ö. 6 mit seinen bedeutsamen Ausführungen über das Weltbild im 12. u. 13. Jahrh.
4) Wichtig vor allem das vou A. G. Little herausgegebene Werk : Roger Baron.
Essays contribiited hg various ivriters etc., O.xf. 1914, mit erstklassigen Beiträgen und
einem Verzeichnis aller Hss. und Ausgaben der Werke B s. Ferner Cl. Baeumher,
Roger Bacons Naturphilosophie, ins/ies. seine Lehre ron Materie und Form, Franzisk.
Stud. 3, 1915 und L. Ihorndike, The true Roger Bacon, Amer. bist. Rev. 21, 1916,
wo die Abhängigkeit B.s von seinen Quollen stark betont wird, ohne daß dadurch die
starke, alles zusammenfassende Persönlichkeit zu verlieren brauchte. — Zur Bildungs-
geschichte des ausgehenden 13. Jahrh. sei hier noch vermerkt; ^1/. Blerbaiim. Bettel-
orden und Wcltgeistlichkeit an der Universität Paris, Texte u. Untersnehungen x.
literar. Armuts- n. Exemtionsstreit des 13. Jh. (125.5 — 72) in Fjanzisk. Stud., 2. Bei-
heft, Münst. i. W. 1919; F. Pclstcr S. J., Der Heinrich v. Oent xtigesvhriehene Cata-
logus rirorum illustrium u. sein wir/dicher Verfasser [etwa Heinrich v. Brü.ssel,
96
Von den Päpsten dieser Zeit erhielt Hadrian V. (1276) eine aus-
führliche, gut geschriebene Monographie von Natdlie ScJiöpp, Papst
Hadrian V. (Kardmnl Ottohuono Fieschi), Heidelb. Abh. 49, Heid. 1916.
Er war nur einen Monat Papst,' hat aber als Kardinal während aller Pontifikate
seit Innozenz IV., dessen Neffe er war, eine einflußreiche Rolle gespielt. Durch
sein Eingreifen als Legat in die englischen "Wirren 12GÖ-68') und den Reichtum
der damaligen englischen Chronistik, durch die Erhaltung von Resten eines Legations-
registers, durch seine genuesischen Beziehungen und anderes liegt ein verhältnismäßig
ausgiebiges, hier noch um 6 Inedita vermehrtes Quellenmaterial vor. das uns tiefere
Einblicke in Wirken und E'ersönlichkeit dieses Mannes gestattet -). Er kann uns recht
eigentlich als Typus gelten für jene stark individualistisch entwickelten Kardinäle
des 13. Jahrh. , die mit ihrer diplomatischen Gewandtheit, ihrer toleranten Weltan-
schauung, ihrer Verstrickung in weltliche Interessen, ihrem Feiiischmeckeitum in
Kunst. Wissenschaft und Lebensgenuß zu den ähnlich gerichteten Erscheinungen der
Renaissance hinüberleiten.
t?eine Geschichte bietet aber auc!i beachtenswerten Stoff lür das
Emporstreben des Kardinalats, das uns in großzügiger Übersicht
vom 11. bis zum 15. Jahrh von J. Luhes, MacJttbcstrehungen des Kar-
dinalkoJleghims yegenühey dem Papsttum, äI. 1. ö. G. 35, 1914, geschildert
worden ist. Eben im Laute de.-* 13. Jahrh. hat es neben einem weit-
reichenden Anteil am Kirchenregim.ent tiuanzielle Sicherstellung und
Witverwaitung erlangt Für die Welt, darin hat K. Wenck recht, hat
es wohl nie so viel bedeutet wie damals; denn seine Weltgeltung war
eben doch unlöslich an die des Papsttums gekettet. Als es mit dieser
in» 14. Jahrh abwärts ging, da haben die Kardinäle zuletzt in den
Zeiten des Schismas ihre Machtstellung auf" Kosten des Papsttums mit
Wahlkapitulationen und anderen Mitteln wohl noch rücksichtslos vor-
schieben können, und diesen Moment mag Lulves wohl als Höhepunkt
ihrer Selbstbewußtseinsentwicklung bezeichnen. Aber ein Schüler Wencks
E. Sehelenz hatte in seinen erst im Teildruck vorliegenden tüchtigen
Studien zur GeschicJde des Kardinalats im IS. und 14. Jahrh. bis zur
Aufstellung der ersten Wahlkapittdation im J. 1352, Marb. Diss., Berl.
1913, doch auch gezeigt, daß die Entwicklung im 14. Jahrh. für das
Kollegium zunächst wenig günstig war, da der Geschäftskreis von Sonder-
behörden und Kommissionen seine Macht beschränkte, und die Päpste
sich von ihm keineswegs so abhängig fühlten, wie in den letzten Jahr-
zehnten des 13 Jahrh.
Einige neuen Nachrichten zur Geschichte von Päpsten und Kurie
im ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrh. von Nikolaus III. bis
Jlönch in Afflighem?), Hist. Jahrb. 39, 1919,. sowie Schriften über Marco Polo:
J. Wüte. Das Buch des M. P. als Quelle für die Religionsgeschichte, Berl. 1916 und
eine kommentierte schwedische Ausgabe seines Reiseberichts von B. Thordanan,
Stockh. 1917.
1) Dazu druckt seitdem Rose Graham, Cardinal Ottoboni and tlie monastery
of Sirafford Langthurne, Engl. hist. Rev. H3, 1918, weitere Urkunden, die Auflehnung
jenes Zisterzienserklosters gegen 'seine Visitation betreffend.
2) Auf OttoboDus beziehen sich auch mehrere Stücke der von Th. Hirschfeld
gedruckten Genueser Dolcianente xur Gesch. Roms n. des Papsltiints im 13. Jli. in
Quell, u. Forsch, aus it. Arch. 17, 1914; sonst: Ratifikation des Waffenstillstandes zw.
Genua u. Venedig v. 1-283 zu Orvieto vor Papst Martin IV. u. a.
Wissenschaftliche FoischungsbericUte VII. 7
97
Johann XXII. enthält eine Orvietaner Fortsetzung der Papstchronik
des Martin von Troppau, über die L. Fumi und Ä. Cerlini, Una con-
ünuazione orvietana dclla cronaca dl Martin Pohno, Arch. Murat. 14,
Cittk di Castello 1914 gehandelt haben. Mit Einzelheiten auch zum
Attentat von Anagni 1303 leiten sie uns zur Zeit Papst Bonifaz' VIII.
Das Jahrzehnt vor dem Kriege hat da bekanntlich ganz unter dem
Eindruck der erstaunlich reichen Schätze gestanden, die von H. Finke
aus dem Kronarchiv von Barcelona zutage gefördert sind. Schon
seiüe Bücher über Bonifaz (1902) und über den Untergang des Templer-
ordens ^) (1907) beruhten darauf. Seitdem sie dann in den beiden
Bänden der Acta Aragonensia 1908 der Öffentlichkeit übergeben sind,
haben sie die Forschung dauernd befruchtet. Finke selbst hat noch
weitergesammelt und für diese Nachlese einen weiteren Band in Aus-
sicht gestellt. Seine Schüler und andere Gelehrte haben in einzelnen
Monographien und Untersuchungen den wunderbaren Stoff nach ver-
schiedenen Richtungen hin ausgebeutet. Ich kann da auf die anregende
Zusammenstellung verweisen, die K. Wende, Acta Aragonensia, Hist, Z.
122, 1920, gegeben hat.
Zu der bis dahin noch wenig erforschten inneren Geschichte Aragoniens kommen
da aus den Bericlitsjahren in Betracht: K. Schivarx, Aragonesische Hofordnwigen hn
13. und 14. Jahrli.; Studien zur Oeschichte der Ilofämter imd Zentralbehörden des
Königreichs Aragon, Abh. Freib. i. B. 54, Berl. 1914, wo aus den reichen Hoford-
nungen von etwa 127(5 — 1:-{44 wertvolles Vergleichsmaterial für das Studium der
Behördenorganisation ma.licher Staaten gesammelt ist, und L. Klüpfel, Verualtungs-
geschichte des Königreichs Aragon xu Emle des 13. Jahrh., Stuttg. 1915, wo eine
noch größere Stoffmasse aus den spanischen Archiven j:;ewonnen und in klarer, über-
sichtlicher Gestaltung der deutscheu Forschung zugeführt ist. Eine weitere Frei-
burger Dissertation von Bertha IVehling, Zur Charakteristik der diplomatischen Kor-
respondenz Jaymes IL von Aragonicn ^), Münst. i. W., schildert Wesen und Darstel-
lungsart der einzelnen aragonesischen Prokuratoren und Gesandten, wie man ähnlich
wohl auch die Verfasser der sjjäteren venezianischen Relationen charakterisiert hat,
und gewinnt auch einige Züge zu dem Bilde des bedeutenden Herrschers, dem wir
vornehmlich Reichtum und AVert der Barceloneser Urkunden.schätze für diese Epoche
verdanken. Für die im Mittelpunkt seiner Politik stehende sizilische Frage, der natür-
lich auch Arbeiten von Finkes Schülern, so von dem 1915 gefallenen H. Rohde, ge-
widmet sind, ist jetzt auch G. La Mantia, Codice diploniatieo dei re aragojiesi di
Sicilia 1282-1355, Bd. 1 (Doc. p. serv. a. stör. d. Sicilia Ser. I, Bd. 23), Pal. 1918,
zu Rate zu ziehen ^).
1) Eine recht verdienstvolle, sehr fleißige Arbeit ist die von M. Schüpferling,
Der Tempelherrenorden in Deutsehland, Diss. Freib. i. Schw., Banib. 1915. Sie ent-
hält ein V'erzeichnis der Tempelgüter in Deutschland und Ö.sterreich, Überblick über
"Wirksamkeit und Organisation des Ordens, auch über die Verdienste um die Ger-
manisatiou des O.stens, endlich die Geschichte seines in Deutschland durch keinen
inneren Verfall begründeten Untergangs 1312 und die Schicksale seiner meist Johan-
nitern und Bettelorden anfallenden Besitzungen.
2) Vgl. auch Auguste Stönnnnn, Studien xur Gesch. des Ivönigreichs Mallorka,
Abh. Freib. i. B. 66, Berl., Leipz. 1918 (nät Benutzung Finkescher Funde, z. B. für
Papst Johann XXII. und die damalige Kurie). — Briefe französischer Könige und
andrer hoher Persönlichkeiten an ihn druckt J. Miret y Sans, Moyen .Ige 28, 1915.
3) Von derselben Veröffentlichung erschien: Ser. I, Diplomatica Bd. 21, Pal.
1914; Ser. II, Bd 10 Capiloli inediti delle cittä detnaniali di Sic, Pal. 1918; Ser. IV,
Cronacho Bd. 13, Pal. 1916.
98
Aus der Freiburger Schule ging auch hervor das gründliche Werk
von L. Mohler, Die Kardinäle Jahoh und Peter Colonna, ein Beitrag
zur Geschichte des Zeitalters Bonifaz' VIII. (Quell, u. Forsch., hrsg.
V. d. Görresges., Bd. 17), Paderb. 1914.
Es ist mehr Untersuchung, als Darstellung, was hier geboten wird, iin ganzen
eine erhebliche Bereicherung unserer Kenntnis, wozu auch die ungedruckten Beilagen
beitragen. Insonderheit über die Anfänge des Zwistes mit dem Papst, die starke Be-
einflussung der französischen Kirchenpolitik *) seit dem Tode von Peter Flotte und
dem Hervortreten Nogarets, den Vorwurf der Ketzerei gegen Bonifaz, den Verf. in
sorgfältiger Prüfung ablehnen zu müssen glaubt"^), gewinnt unsere Erkenntnis, wenn
auch wie E. Jordan, Eev. hist. 122, bemerkt, in einigen Punkten abweichende Auf-
fassungen möglich bleiben.
Rieh. Neumann, Die Colonna und ihre PolitiJc von der Zeit Niko-
laus IV. bis zum Abzüge Ludivigs d. B. aus Born (1288 — 1328), Öamml.
wiss. Arb. H. 29, Langensalza 1916, bietet mehr Darstellung und er-
gänzt Mohlers Buch derart, daß er eine vollständigere Familiengeschichte
gibt , ihre Linien sondert , ihre Genealogie , ihre- Besitzungen feststellt,
auch die Schicksale der Mitglieder, die nicht Kardinäle waren, verfolgt ^).
Mit ihm nicht etwa identisch ist Bich. Neumann, Die politischen Be-
ziehungen zivischen dem deuf seilen Beiche und Aragonien in der Zeit
von Budolf V. Habsburg bis Buprecht v. d. Pfalz, Diss. Freib. i. B. 1917,
wo das hierfür nicht gerade ausgiebige Barceloneser Material die Grund-
lage bildet.
Auch für die Geschichte der der Verweltlichung des Papsttums feind-
lichen Spiritualen waren die aragonesischen Funde nicht ganz unergiebig.
Die bekannteste Persönlichkeit unter jenen, der Dichter Jacopone
von T 0 d i hat vornehmlich von der literarischen Seite her aufs neue
italienische Forscher beschäftigt *).
Was die deutsche Reichsgeschichte während dieser Zeit
betrifft, so wird man, nachdem die Münchener historische Kommission
in Fortführung der Jahrbücher der deutschen Geschichte zusammen-
fassende Darstellungen auch für die Regierungen der spätmittelalterlichen
Kaiser und Könige ins Auge gefaßt und demgemäß Adolf von Nassau
und Albrecht I. an Bearbeiter vergeben hat, deren Leistungen abzu-
warten haben. Die Zeitläufte sind solchem Unternehmen leider wenig
günstig, und methodisch sollte ja auch eigentlich die Neubearbeitung
der Regesten der Darstellung voraufgehen. Als eine Vorstudie dafür
1) Die kurze Schrift von V. Inglese d'Amico, Lotta tra Bon. VIII e Filippo il
Bella e cause determinatriei del trasporto della sede poniifieia in Ävigtione, Belluno
1914, ist schwerlich beachtenswert.
2) Dazu sei hier auch schon hingewiesen auf die Freib. Diss. von Cl. Sommer,
Die Anklage der Idolatrie gegen Papst Bonifaz VIII. und seine Porträtstatuen, 1920.
3) Vgl. C. Cipolla, Sülle tradixioni antibojiifaciane rispetta a Quido da Monte-
feltro e alla guerra dei Colomia, Atti d. r. Ac. d. scienze, Turin 1914.
4) A. d'Ancona, J. d. T., il giullare di Dio clel secolo XHI, Todi 1914; J. Pacheu,
J. d. T., frere mineur de S. Fran^ois, auteur presume du Stabat Mater (1228—1306),
Paris 1914; J. d. T. , Le satire ricostituite etc., p. cura di B. Brugnoli, Flor. 1914;
A. Amato, La teologia di fra Jacopone da Todi, Perugia 1915.
7*
99
kann gelten C. Hentse, England, Franhreich und König Adolf von
liassaii 1294 — 98, Diss. Kiel 1914.
In der von Kern im Anschluß an die Auffassung von Boutaric und Funck-
Brentano nachgewiesenen Bestechung durch Frankreich trotz des englischen Bünd-
nisses sieht der Verf., der die verwickelten Fäden dieser politischen Beziehungen zu
entwirren sucht, den Urgrund für jene Mißgriffe und Unterlassungen, die schließlich
zu Adolfs Absetzung und Vernichtung führten. Daraus ergibt sich natürlich eine
höchst ungünstige Beurteilung seiner unehrenhaften Kondottierepolitik.
In der Gescliiclite Albrechts I. bildet der Eid, den er dem Papste
1303 zu leisten hatte, nach wie vor einen umstrittenen Punkt. Während
H.Finke, Weltlniperialismus (s. oben 8.55), 8. 2C>, ihn wieder als Lehnseid
auftaut und li. Möller (oben S. 57) weniojstens die Form auf den Bischofs-
eid zurückführt, spricht E. Eichmann, Z. f. R. 37, k. A. 6, 1916 (vgl.
oben S. 57), das vielleicht befreiende Wort, daß die Eidesformel für
Vassalien, Bischöfe, Untertanen, Bundesgenossen wesentlich die gleiche
war (ähnlich schon Möller), aus ihr al.so keine zwingenden [Schlüsse zu
ziehen sind. Da Hom^ium und Investitur fehlten, so war es kein Lehns-
eid, wenn ihn auch die Kurialen bald dazu stempelten.
Alle politischen Vorgänge und geistigen Strömungen, in deren Mittel-
punkt Boniiaz VIII. als der letzte, zwar widrige, aber doch bedeutende
Vertreter des weltbeherrschenden Papsttums steht, einmal in diesem
Brennpunkt zusammenzufassen, müßte nach allen Forschungen der letzten
Jahrzehnte für einen ebenso methodisch geschulten und kenntnisreichen,
wie künstlerisch begabten Historiker, der die dem deutschen Gelehrten
besonders naheliegende Gefahr, sich an den überreichen Stoff zu ver-
lieren, vor allem anderen zu meiden hätte, eine der lohnendsten Auf-
gaben der gesamten ma.lichen Geschichte sein!
6. Strukturwandlungen, vornehmlich im
deutschen Reiche
(Städtewesen, Hanse, Kolonisation des Ostens, Territorial-
en t w i c k 1 u n g)
Früheres und späteres MA. scheiden sich — abgesehen vielleicht
von Italien — kaum in einem andern europäischen Staate so scharf wie
in Deutschland. Das ist nicht nur in dem Sturz des Imperiums be-
gründet, sondern auch in den durchgreifenden Wandlungen seines inneren
Lebens und der ungeheuren Verschiebung seiner Grenzen.
Unter jenen Wandlungen ist in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht,
ja für die gesamte Kultur die folgenreichste die Entfaltung des Städte-
wesens, die sich schon seit dem 11. Jahrh. vorbereitet und wesentlich
in den beiden folgenden vollzogen hatte. Auf den ehemals so hitzig
geführten Streit über die Entstehung der deutschen Städte braucht hier
nicht zurückgegriffen zu werden. Seit den so ungemein klärenden For-
schungen von S. Rietschel hat er zeitweilig einer Beruhigung und ge-
wissen Annäherung der Meinungen Platz gemacht. Man ist aber darum
doch nicht stillgestanden, sondern hat Rietschels im allgemeinen doch
100
zu einfaches Schema der Hauptentwicklungstypen zu berichtigen und
der Wirklichkeit der Dinge genauer anzupassen begonnen. Was der-
art in den letzten Jahren geleistet wurde, kann hier, da der Gegen-
stand ja verwickelt genug ist, nur mit knappen Ötichworten angedeutet
werden. \A'er sich über den gegenwärtigen Stand der Forschung rasch
unterrichten will, möge die Artikel „cStadt" von 0. Schlüter und nament-
lich „Stadtvertassung" von G. Seeliger in Hoops' Reailexikon, Bd. 4,
1918/19 (s. oben S. 7), vornehmen, die freilich nur den Aufstieg bis
zur Höhe des MA. behandeln, üie allgemeinen Öiedlungsbedingungen
für ein geschlossenes Gebiet hat R. Gradmann, Die städtischen Sied-
lungen des Königreichs Württemberg, Forsch, z. deutschen Landes- u.
Volkskunde 21, H. 2 (H. 1: Das ländliche Siedlungswesen), Stuttgart
1914, ausgezeichnet dargestellt und dabei doch auch den starken Ein-
schlag bewußten menschlichen Willens vielfach betont.
Die von J. Fritz und S. Rietschel so sehr in Aufnahme gebrachten
topographischen Gesichtspunkte der Grundrißbildung werden fortdauernd
weiter verfolgt ^}, von P. J. Meier nach Ansicht einiger Forscher sogar
überspannt, wenn er, wie in früheren, sonst belehrungsreichen Arbeiten,
so auch in dem Vortrage: Die Fortschritte in der Frage der Anfänge
und der Grundrißhildung der deutschen Stadt, Korr. d. Gesamtver. d.
deutschen Gesch. u. Altertumsver. 1914, das Rietschelsche Schema der regel-
mäßigen Marktansiedluügen auch in den allmählich erwachsenen alten
Römerstädten sucht und auch da gewisse Typen zu erkennen glaubt. Darin,
sowie in der örtHchen Scheidung von Markt- und Stadtansiedlung ist
ihm W. Gerlach, Zur Frage der Grundri ßhildung der deidsdien Stadt,
H. Viert. 17, 1916 und Kritische Bemerhungen zu neuen Untersuchungen
über die Anfänge der Städte im MA., ebda. 19, 1919, entgegengetreten,
während er mit ihm in der Ablehnung der Umwandlung als sicheren
Kriteriums für die Scheidung von Markt und Stadt übereinstimmt -).
Der Mahnung Ms, Münzwesen und Denkmälerkunde au den deutschen
Universitäten mehr zu pflegen und für die Stadtforschung fruchtbar zu
machen, wird man beipflichten; einstweilen dürfte es für erstere an
geeigneten Kräften i'ehlen. F. Meurer, Der ma.Hche Stadtgrundriß im
nördlichem Deidschland in seiner Enttviddung zur Reyelmäßigleit auf
dem Grunde der Marldgestaltung , Berl (1915), weist auf Rietschels
Bahnen mit Hilfe einer reichen Stadtplansammlung die wachsende Regel-
mäßigkeit der Grundrisse namentlich tür das östliche Kolonialgebiet nach.
Einen soliden und erfreulichen Fortschritt bedeutet die ebenfalls
von Rietschels Studien ausgehende erweiterte Doktorarbeit von TT^ Spieß,
Das Marlitprivileg, K. Beyerles deutschrechtl. Beitr. XI, 3, Heidelb. 1916.
1) Vgl. K. 0. Müller, Alte und 7ieue Stadtpläne der obersclucäbischen Reichs-
städte, Stuttg. 1914. Auch J. F. Tout, Mediaevcd toten planning. Manchester 1917,
gehört wohl hierher. Die lokale Untersuchuug vou C. Barchers, Villa und Civitas
Goslar, Z. der hist. Ver. f Niedersachs. 84, 1919, behandelt die Entstehung von Stadt,
Grundriß, Bevölkeningsschichten usw.
2) In desselben. Die Enfsiehnngsxeit der Stadtbefestigungen in Deidscldand, Leipz.
1913, findet man S. 12 die Literatur der bisherigen Stadtplanforschung aufgezählt.
101
Hier ist ähnlich wie etwa von E. Stengel für die Imniunitätsprivilegien,
von H. Hirsch insonderheit für die Klosterinimunität ein absichtlich beschränkter, aber
um so festerer Bodon für die Beurteilung gewonnen durch vollständige Ausbeutung
der kaiserlichen Markturkunden von 800 bis über den Zeitpunkt der vollendeten Aus-
bildung der ina. liehen Stadtverfassung weit hinaus und da ziemlich ohne Vorarbeit.
Die Entwicklung von den Wochen- und Jahrmarktsprivilegierungen der Karolingerzeit
zu den die Marktsiedlung voraussetzenden ottonischen Urkunden und weiterhin zu den
von den Marktprivilegien im engeren Sinne sich abspaltenden Freiungsurkunden des
12. Jahrli., die sich wieder im 13. nach dem Prinzip der Ummauening zu Stadt- und
Fleckenurkunden ausgestalten, wird hier sorgfältig dargelegt; daneben ergibt sich
mancherlei Neues für die Einzelheiten der Markthaltung. Daß mit dieser ausschließ-
lichen Verweitung der Kechtisformeln noch nicht das Letzte erreicht ist, daß nament-
lich wirtschaftliche Momente hinzugenommen werden müssen , ist von den Kritikern
mit ergänzenden Ausführungen betont worden ').
Einen wertvollen Beitrag zur rechtlichen und wirtschaftlichen Ent-
wicklung der städtischen Stifter, insbesondere der Domfreiheit, und ihre
Auseinandersetzung mit den einschränkenden Bestrebungen der Bürger-
schaften, liefert K. llofmann, Die engere Immunität in deutschen Bischofs-
städten, VeröfF. d. Sekt, der Görresges. f. Rechts- und Sozialwiss. H. 20),
Paderb. 1914. Ohne daß die Meinungsverschiedenheit Seeligers und
Rietschels über Wesen und Ursprung dieser engeren Immunität eindeutig
entschieden würde, ist über Lage, Bewohnerschaft, Imraunitätsgerichts-
barkeit, Besteuerung usw. ein sehr brauchbarer Stoff, namentlich für das
spätere MA. aus typischen Bischofsstädten bereitgestellt.
H. Wihel, Die ältesten deutschen Stadtprivilegien, Arch f. Urk. 6,
1918, hat vornehmlich das wichtige Diplom Heinrichs V. für Speier von
1111 gründlich untersucht und kommt unter der Voraussetzung, daß
die sonst für königliche Diplome geltenden Regeln hier nicht aus-
nahmsweise außer acht gelassen sind, zu dem Ergebnis, daß es in seiner
einstmals als Inschrift am Dom angebrachten Gestalt sehr wahrscheinlich
eine Fälschung ist, die durch Zusammenfügung eines echten Privilegs
Heinrichs V. über die Befreiung vom Buteil und einer Bischofsurkunde
entstand. Eine Verfälschung durch Einschub nimmt W. auch für
Heinrichs Wormser Privileg von 1114 an. Für die Anfänge der deut-
schen Städte als politische selbständige Körper ist diese Untersuchung
natürlich von großer Bedeutung.
Wenden wir uns von da aus zu den Anfängen der bürgerlichen
Selbstregierung, so haben die neueren Forschungen die in Rietschels
letzter Arbeit über die Städtepolitik Heinrichs d. L., H. Z. 102 aus-
geführten Ansichten hinsichtlich der Verdienste des Weifen um das Auf-
kommen der Ratsverfassung erheblich herabgestimmt. //. lieincke-
Bloch, Der Freibrief Friedrichs I. für Lübeck und der Ursprung der
Ratsverfassung in Detitschland, Z. d. Ver. f. Lüb. Gesch. u. Alt. 16, 1914,
hat die Interpolation dieser wichtigen Urkunde im Anfang des 13. Jahrh.
erwiesen.
Daraus i.st die Folgerung gezogen, nicht in den Grund ungsstädten unter Einfluß
Heinrichs d. L. sei der städtische Rat aufgekommen, sondern in den allmählich ent-
1) Vgl. F. Philippi, D.L.Z. l'»J7, Nr. 31—33, und A. Schulte, Z. f. R. g. A.
37, 1916.
102
standenen rheioischen Städten gegen Ende des 12. Jahrb. unter italienischen ^), fran-
zösischen ^) und flandrischen Einflüssen, um dann erst in der Zeit von 1212 — 1231
allgemeia sich zu verbreiten und das Edikt von Eavenna als Rückschlag gegen diese
mächtii^e Bewegung hervorzurufen. Dies Ergebnis hat F. Börig , Lübeck und der
Ursprung der Raisverfassung , ebda. 17, 1915, dahin abgewandelt, daß jene Inter-
polation nicht einem Gegensatze von Rat und Bürgerschaft entsprungen sei, sondern
vielmehr dem Bestreben, die städtischen Freiheiten gegen die Beamten des Stadtherm
zu sichern, daß aber auch vor der Erwähnung von „consules'" ein Gemeindeausschuß
bestanden habe, und daium das Verdienst des Weifenherzogs nicht wesentlich zu
mindern*), der Ursprung der bürgerlichen Selbstregierung doch in den Gründungs-
städten zu suchen sei Diese letzte Folgerung ist nicht zwingend, da Yoi'stufen der
Ratsverfassung, wie die Wahrnähme behördlicher Funktionen durch das Schöffenkolleg
am Rhein schon vor ihrem ersten nachweisbaren Auftreten 1149 vorauszusetzen sind,
wie 0. V. Below, Zur Oeschichte der deutschen Stadtverfassung , Jahrb. f. Nat.-ök. u.
Stat. 105, 1915, bemerkt. Ebenda wendet er sich gegen die von Joachim verfochtene,
auchi von Seeliger als möglich zugegebene Funktion der Kaufmannsgilden als den Rat
vorbereitender Gemeindevertretung. Deren Einfluß auf Stadtverfassung und Zunft-
bildung in dem jetzt überwundenen , durch Nitzsch bestimmten Sinne spielt aber
begreiflicherweise noch eine große Rolle in der aus dem Nachlaß herausgegebenen
Abhandlung von O. SchmoUer (f 1917), Die älteren deutschen Kaufgilden und die der
Nachbarländer, Jahrb. f. Gesetzgeb. usw. 42, 1918.
In der Frage der Entstehung des Rates schließt sich der Ansicht Reincke-Blochs
an H. H. Eberle, Beiträge %ur Oeschichte der Bestellung der städtischen Organe des
deutschen MA. I. Das Ratskollegium in den deutschen Städten bis %ur Zeit der
Zunftkämpfe, Progr. d. Friedr. Gymn. , Freib. i. ß. , 1915; die Arbeit bringt vor-
nehmlich Beiträge zur Geschichte des Patriziats*). Aus norddeutschem Material ge-
1) Ich stelle hier einige neuere Schriften zur italienischen Städtegesch lohte zu-
sammen. Q. MengoxKi, La cittä italiana neW alto medio evo. II periodo lango-
hardo-franco, Rom 1914. vermag die allerdings notwendige Erneuerung von K. Hegels
Städteverfassung von Italien für den behandelten frühen Abschnitt nicht zu bieten
und ist nur mit Vorsicht zu benutzen. ./. Luchaire, Les democraties italiennes, Par.
1915, wird als knappe, auch für ein weiteres Publikum bestimmte Dar.^tiUung der
verfassungsgeschichtlichen Entwicklung bis ins 16. Jahrh. gelobt. Vgl. ferner:
D. Bixxarri, Ricerche sul diritto di cittadinanKa nella costituxione coinunaJe, Turin
1916; A. Solmi, Le -leggi piii anticlie del Comiine di Piacenza, Arch. stör. it. 73 II,
1915; G. Pardi, Disegno della storia demografica di Firenxe, ebda 741, 1916 (Ver-
such einer Bevölkerungsstatistik durch das ganze MA. bis zur Gegenwart"). Von Städte-
geschichten seien nur genannt: T. Rossi u. F. Gabotto (f 1918), Storia di Torino,
Bd. 1 (bis 128U), Tur. 1914, und menrere Darstellungen der Geschichte Venedigs:
H. Kretschmayr, Geschichte von Venedig, Bd. 2 (vom 13. bis z. l.ö. Jahrh.), Gotha
3920; E. Musatti, Storia di V., neue Ausg., Mail. 1914/15; Gh. Diehl, Une republique
patricienne, Venise, Par. 1915 (guter, knapper Überblick); W. G. Haxlitt, The Vene-
tian republic, New York 1915; O. Bistort (f), La Repubblica di Vencxia dalle tras-
onigraxioni neue lagune ßno alla caduta di Gostantinopoli (1453), Ven. 1916.
2) Vgl. Gh. Bemont, Les institutions, municipales de Bordeaux au mögen äge,
Rev. bist. 123, 1916.
3) Daß davon aber betr. der freiheitlichen Stadtverfassung erhebliche Abstriche
zu machen sind, wenn auch eine großzügige Begüustigung der städtischen Entwicklung
aus wohlbeiechnetem Eigeninteresse bestehen bleibt, darin herrscht jetzt doch wohl
Übereinstimmung. Vgl. etwa G. v. Below. M. I. ö. G. 35, 1914, S. 381 ff.
4) Mehr ins Lokale gehen die gleichwohl auch für das Allgemeine zu berück-
sichtigenden Arbeiten von B. Schranil, Stadtverfassung nach Magdeburger Recht.
Magdeburg und Halle, Gierkes Unters. 125, Brosl 1915. wo u. a das Burding in
der Stadt behandelt ist; P. Ostwald, Zur Stadtrerfassung im Lande des Deutschen
Ordens, D.G.Bl. 15, 1914 (Begünstigung des Magdeb. StaJtrechts durch den Orden
zur Erleichterung der Kontrolle durch möglichste Einheitlichkeit): K. Frölieh, Zur
Rats Verfassung von Goslar im MA., Hans. Gesch. -Bl. 21 , 1915 und F. Frensdorff,
103
schöpft sind die Arbeitoii von .4. Uruts , Die Oebäude für hnmnnnuile Zwecke in den
ma.lifhen Stäflfctt Deufsr/t/ands, Diss Freib. i. H. 1914, und F. Tec/ien, Ent/inus und
Kanfliaiis im nUrdlicIicn Denfsc/iland, Viert f. Soz. u Wirtsch. 14, IÜ18, wonach das
ßathaus das ältere von beiden ist, als konnnunalos Gebäude aber auch z. B. das
Gewandhaus zu gelten hat.
^^'ie sich nun der f^anze städtisc he Orfijanismus gliederte, und
wia er arbeitete, dafür ist uns ein u^figeahnt reiclier neuer Stoff zu-
gänglich gemacht und geistig durchdrungen in den Veröffentlichungen
von K. Bücher, die sich natürlich weit über die örtliche Bedeutung
erheben.
In der Abhandlung: Die Berufe der Stadt Frankfurt a. M. im MÄ., Abh. d.
Sachs. Ges. d AV. '60, Nr. 3, Leipz. 1914, ist für das au.sj;ehende MA. ein ungeheures
Material, namentlich aus den Bedebüchern erarbeitet, das eine über das bisher z. B.
für Nürnberg Bekannte noch hinausgehende Berufsteilung, bei der freilich die wech-
selnden Benennungen zu beachten sind, zeigt (nur bei den Wollvvebern aus der Natur
ihres Gewerbes heraus die moderne Aibeitszerlegung), die Stärke der einzelnen Beiuf.s-
zweige möglichst zu eimitteln sucht, die Bedeutung des Kleinhandels, den Anteil der
Frauen z. B. an den Keparatui-gewerben und noch manchen andein kulturhistoiisch
schätzbai'en Stoff ins Licht stellt. Das Werk: FranL-furter AiidMirkunden (Veröff.
der bist. Komm. d. Stadt K. VI), Frankf. 1915, führt uns an der Hand der Urkuudeu
die weitverzweigte Madtverwaltung mit den oberen Ehreubeamten und zahlreichen
Uuteibeamten auf das grundlichste vor, und der Vortrag: Das .ftädlische Beamten-
Uwi im MA., Vortr. d. Gehe.stift. VIT, Leipz. 1915, kann als eine vorzügliche Einfüh-
rung in diese durch die Frankfurter Verötfentlicnung großenteils ueuerschlosseuen
Verhälti^isse dienen *).
¥An besonderes Kapitel der inneren Machtausdehnung des Rates
als Vertreter der Gemeinde behandelt Alfr. Schultze, Stadtgemeinde und
Kirche im MA., Festschr. f. li. Öühm , Münch Leipz. 1914. Wie die
Stadt sich in den kirchlichen Herr.^chdttsverband der Pfarrgemeinde vor-
drängt und bei Pl'ründenbesetzung, kirchlicher Vermögensverwaltung und
Kirchenzucht wertvolle Hechte erwirbt, ist da eindrucksvoll geschildert.
Nach außen hin unterstand der städtischen Fürsoige u. a. auch das
Geleitwesen, über das eine Göttinger Diss. von A. Ilaverlach, Das Ge-
leitivescn der deutschen Städte im MA., Hans. Gesch. -Bl. 20, 1914, für
das späte MA. und ungetahr den Umkreis des heutigen lieiciies unter-
richtet. Für die gleiche Zeit hat P. Rehne -) unsre Erkenntnis des
Stadthiichivesens, für das er neben K. Beyerle in erster Linie tätig ist,
in mehreren Studien weiter gefördert.
Wenden wir uns der ma. liehen Stadt als W irtsc ha ftsorgan Is-
mus^) zu, so glaubt J. G. van Dillen, TIet economisch Jcarakfer der
Daft Sladtrecld von Wishy , ebda. 22, 191G. In der von mir nicht berücksichtigten
Lokallitei'atur dürfte sich noch Ähnliches der .\rt find(.m
1) Vgl. IL Müta(f , Zur Struktur des Hauslialts der Stadt Hambitrg im MA.,
Diss. Kiel 1914.
2) St adllni eh Studien, Z. f. R. , g. A. 37, 1916, ausgeliend von vier Städten des
Magdeburg('_r Jv"chtskreises und dem hier schon früh (TiG^^) einsetzenden Braun-
schweig; ("her die Kieler Stadllnlclier de.-^ MA., ebda. 88, i:.'I7. Sonstig!^ Studien über
Stadtbüclier einz(;lner Städte sind von mir hier nicht verzeichnet. (JrolJenteils hierher
gehöii auch F. Käcli . Quellen x. lieehhqesch. der Stadt Marburg, Veröff. d bist.
Komm, f Hess. u. ^VaId. XIII, Bd. 1, Marb. 1918.
3) Vgl. die umfangreiche Publikation: Quell. ,v. Eeehls- u. Wirhcl/aff.'<r/e.-^elt. der
104
middeleeuioschen stad. I. De theorle der gcsloten stad-huisliouding, Amst.
1914. Biichers Theorie der geschlossenen k^tadtwirtschafr, an der Wirk-
lichkeit namentlich der niederländischen JStädte mit entwickelten Handels-
beziehungen gemessen, doch einigermaßen abmildern zu sollen, was an
dem Typus, dem sich nur nicht alle Einzelheiten einfügen, natürlich
niclits ändert. Wie selir dieser durch Abgeschlossenheit und militärischen
Charakter bestimmt war, und wie ähnliche Bedingungen durch Blockade
und Krieg im jüngsten Deutschland wieder ähnliche Ersclieinungen
gezeitigt haben, hat G. v. Beloiü , Ma.liche Stadtwirischaft und gegen-
tvärtige Kriegstvirtschaft, Kriegswiss. Zeitfrag., hrsg. v. Eulenburg, H. lU,
1917, anschaulich geschildert.
Was die Entstehung der Zünfte betrifft, so hat (/erseZie zuletzt in
dem Autsatz Handicerh u. Hofrecht, Viert, f. iSoz, u. Wirtsch. 1 1, 1H14, mit
der hotrechtlichen Theorie sich auseinandergesetzt, die B,. Eherstadt, Der
Ursprung des Zunftivesens und die älteren Handivefherverhände des MA.,
2. umgearb. Auii., Münch. 1915 ^J gegen seine Kritik erneut zu ver-
teidigen sucht -). Daß auch Keutgens bekanntes Buch in seinem posi-
tiven Teil, der die Entstehung aus den Amtern herleitet, nicht voll
befriedigend, und das Hauptgewicht doch auf die Einungen zu gewerb-
lichen Zwecken zu legen sei, hat v. Behw a. a O. 13, 1916, Ö. 230,
betont ^). Die (^nicht zum wenigsten aucli aus seiner Schule hervor-
gegangenen) Aibeiten über wirtschaftliche Verhältnisse einzelner deutscher
Städte müssen hier, obschon ihr Endzweck ja keineswegs ein lokal-
geschichtlicher ist, übergangen werden *).
Die Dissertatiou vou Mercedes S/ocvcn, Der Geicandsclinitt in den deutschen Städten
des MA., Abli. Freib. i. Br H. 59, Beil. 1915, hat F. Pküippi, D L. Z. 1916, Nr. 52,;iÖ,
Gelegenheit zu ergänzeudeu Bemerkungea gegeben, in denen er u. a. ausfii.rt, daß
der den Webern unterssagte, nur den Gewandscbneidern gestattete Klein verkauf sich
auf frühe Zeit zurückführe, in der noch keine liidu.strie vorhanden und der Klein-
handel mit Tuch ein Privileg der zum Patriziat gehörigen Gevfandschneider war, das
sie später gegen die vordringenden Weber zäh festzuhalten suchten *).
Von allgemeineren Werken zur Handels- und Verkehrsgeschichte
der deutschen Städte ist zunächst hinzuweisen auf das Buch von
rhein. Städte. Kurtrierische Städte (1) Trier, hrsg. v. F. Rudolph, m. Einl. v. (?.
Kentcnich (Publ d. Ges. f. rhein. Gesch. 2itj, Bonn 1915; des letzteren Gesch. d. Stadt
Trier erschien Trier 1915.
1) Daraus der Ab.schnitt: Das Aufsteigen des Ho.ndu-erkerstandcs im MA. ge-
sondert gedruckt im Jahrb. f. Gesetzg. usw. 39, li»15
2) Vgl. die ablehnende Besprechung von H. Fchr, Z. f. R., g. A. 37, 1916, S. 64Gff.
3) Vgl. A. V. Dirke, Die Bechtsnrhältnisse der Haiuhccrkslehrlinge und Ge-
sellen nach den deutschen Stadtrechten tt. Zun/tstatuten des MA., Diss Jena 1914.
4) \gL J. Lindlar, Die Lebensinittclpolitik der Stadt Köln im MA. (Veröff. d.
Köln. Gesch.- Ver. H. 2), Köln 1S)14; //. Keußen, Köln im MA., Bonn 1918. Vgl.
auch A'. Rubel, Gesch. der Grafsch. u. d. freien Reielisstadt Dortmund, 1 (bis 14UU),
Dortm. 1917.
5) Vgl. Ad. Kaiser, Geschichte der Wollweberei in Schn-aben bis xur Wende
des 15. Jahrb. (auf Grund der Quellen von 5 schwäb. Städten ; auch über Zunft-
organisation) in Z. d. Ges. f. Bef. d. Gesch.kunde usw. v. Freiburg i. B. 30. 31, 1915/16.
Ferner: Oertr. Wagner, Das Gewerbe der Bader mul Barbiere im deutschen MA.,
Diss. Freiburg i. B. 1918.
105
W. Schmidt - Tiimpler , GescJdchte des Kommissionsgeschäfts in Deufsch-
Jand, I. Die Zeit his xiim Ende des 16. Jahrh., Halle a. S. 1915 ^),
ein Beitrag mehr zur Geschichte des Handelsrechts, als des Handels
selbst, aber natürlich auch für den Historiker lehrreich. J. Strieder,
Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisationsformen: Kartelle,
Monopole und AJctiengesellschaften im MA. und zu Beginn der Neuzeit,
Münch.-Leipz. 1914, kommt nur noch für den Ausgang des MA. in
Betraciit und hat seinen Schwerpunkt im 16. Jahrh.-). Die für inter-
nationalen Austausch und Abrechnung so wichtigen Champagner Messen
behandelt die These von C. Alengrij, Les faires de Cliampagne, Etüde
dliistoire economique, Par. 1915.
Auf einem beinahe noch jungfräulichen Gebiete erhielten wir mit
einem Schlage wenigstens für das MA. eine vorzüghche Gesamt-
darstellung in dem 1. Teil des auf 3 Bände berechneten Werkes von
W. Vogel, Geschichte der deutschen Seeschiffahrt I: Von der Urzeit his
Ende des 15. Jahrh., Berl. 1915 ^j.
Die vorsichtig kritisclie Art des Verf. ist für die quelienarmeii älteren Zeiten
besonders am Platze; auch weiterhin bedeutet das Buch, das auf den historischen
Teil einen systematischen über Reederei, Bau und Ausrüstung der Schiffe usw. folgen
läßt, eine erfreuliche Bereicherung und Veriebendigung unserer handelsgeschichtlichen
Kenntnis. Denn ganz läßt sich aus der Haudelsgeschichte die Seeschiffahrt natürlich
nicht herausheben. Namentlich in der Hansezeit ist beides eng miteinander verbunden,
so daß das Buch da auch als Beitrag zur hansischen Geschichte zu betrachten ist.
Doch hat Vogel außerdem auch eine für weitere Kreise bestimmte
Kurze Geschichte der deutschen Hanse, Pfingstbl. d. hans. Gesch.- Ver. 11,
Münch.-Leipz. 1915, geschrieben.
Verf. steht da in Auffassung und Einzelforschung auf den Schultern seines
Lehrers D. öchäfer, weiß aber die vielseitigen neueren Studien geschickt zu ver-
arbeiten, so daß seine Darstellung überall den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse
1) Vgl. das Referat von U. Stutz, Z. f. R., g. A. 36, 1915.
2) Vgl. J. Apfelbauyn, Basler Ilandclsgellscliaften im 15. Jahrh. mit bes. Berück-
sichtigung ihrer Formen, Bas. Diss., Beitr. z. Schweiz. Wirtschaftsk. 5, Bern 1915
(namentlich aus Basler Gerichtsurkunden geschöpft, aber über das lokale Interesse
hinausgehend); K. Schleese, Die HandeUbexiehungen Obcrdeutschlands, insb. Nürn-
bergs XU Posen im Ausgang des MA., Diss. Groifsw. 1915 (= Z. d. bist. Ges. f. d.
Prov. Pos. 1915).
3) Vgl. die ausführliche Besprechung von A. Bugge, Z. f. Lüb. Gesch. 18, 1916.
Ergänzend die Abhandlung Vogels, Zur Größe der europ. Handelsflotte im 15., 16.
u. 17. .Jahrh. in Forsch, und Versuche f. D. Schäfer, Jena 1915; für das 15. Jahrh.
sind wir noch auf Schätzungen angewiesen. Erst während des Druckes ist nur be-
kannt geworden das Buch von Co7ir. Müller, Altgermanisehe Mecresherrschaft, Gotha
1914. Es ist nicht im eigentlichen Sinne eine historische Leistung, denn der Verf.
ging ursprünglich von der Ab.sicht aus, eine Sammlung der gesamten deutschen See-
poesie aufzu.stellen und dadurch dem nationalen Gedanken zu dienen. Er hat sich
dann aber für die älteste Epoche aus gut gewäliltor Literatur einen für weitere Kreise
dargestellten geschichtlichen Unterbau gescluif fen , der die Abschnitte: „Urzeit, See-
mythische Niederschläge, Geschichtliche Anfänge, Völkerwanderung zur S^e, Ost- und
Nordsee im Frühmittelalter, die AVikingerzeit, Seeheldentum in der Dichtung" um-
faßt und in dieser Vereinigung, sowie durch die weitgehende Berücksichtigung des
Nordischen auch für den Historiker mancherlei Anregendes bietet. Vgl. auch die
umfassendere populäre Darstellung von B. Schmeidler , Vom Wikingerschijf zum
Handclstauchboot in AVi.ss. u. Bild. 151, Leipz. 1919.
106
aufzeigt Ich halte es für einen besonderen Vorzug der Schrift, daß sie die hansische
Geschichte nicht nach den verschiedenen Handelsgebieten auseinanderfallen läßt,
sondern in einheitlichem chronologischen Gange als eine Gesamtheit behandelt. Erst
so erhält man die richtige Vorstellung von den vielen sich kreuzenden Interessen und
der zielbewußten, mit sehr feiner Diplomatie betriebenen Wirtschaftspolitik der Hansen,
von der auch die deutsche Gegenwart noch lernen könnte. Dem Zweckverbande ohne
Rückhalt an einer starken Reichsmacht gegenüber den erstarkenden Nationalstaaten
des Nordens noch länger die Führung zu sichern, ging über Menschenkraft ^).
Derjenige Forscher, der die hansische Geschichte in den letzten
Jahrzehnten wie kaum ein andrer unermüdlich gefördert hat, Walter
Stein, ist der Wissenschaft leider im Okt. 1920 durch den Tod ent-
rissen. Noch aus den Kriegsjahren sind wertvolle Leistungen von ihm
zu verzeichnen. Er hat den 11. Band des Hansischen ürkundenhuches
(1486— löOÜ), Münch.-Leipz , 1916 bearbeitete^, damit bietet diese be-
deutende Quellenpublikation nur noch für die Jahre 1436 — 50 eine Lücke,
die hoffentÜch bald geschlossen werden wird. Welche Verdienste sich
Stein durch die umsichtige und aufopfernde Leitung der Hansischen
Geschichtshlätter erworben hat, ist bekannt. In ihnen wird sich ja jeder,
der sich über neuere Literatur zur Geschichte der Hanse unterrichten
möchte, zunächst Rat holen. Hier können daher aus den letzten Jahr-
gängen nur die bedeutenderen Beiträge verzeichnet werden. Stein selbst
hat dort eine umfassende Untersuchung: Die Hansestädte, Hans. Gesch.-
Bl. 19 — 21, 1913 — 15, veröffentlicht, in der er die einzelnen Gruppen
der Städte abgrenzt, ihre Eigenart kennzeichnet und insonderheit die
genauere Zahl der Bundesmitglieder für jeden der Kreise zu bestimmen
sucht, was freilich für die kleineren nur annähernd möglich ist. Die
Gesamtzahl erreichte erst zwischen 1430 und 1470 ihren Höhepunkt ^).
Endlich hat Stein noch in weiteren Aufsätzen westliche und östliche
Beziehungen der Hanse ins Auge gefaßt; er handelt über den Umfang
des späfmittelalterlichen Handels der Hanse in Flandern und den Nieder-
landen, ebda. 23, 1917, wozu ebenda L. Lahaine, Die Hanse und Hol-
land von 1474: bis 1525 eine Ergänzung mehr von der handelspolitischen
Seite bietet. Nach dem Osten weisen die Aufsätze: Vom deutschen
Kontor in Koivno, ebda. 22, 1916 (erst aus dem Jahre 1445 stammt
die älteste Nachricht über die Organisation dieses Kontors, von 1532
die letzte Kunde) und Somnierfahrt und Winterfahrt nach Nowgorod,
ebda. 24, 1918 ^).
Die früher etwas vernachlässigten Handelsbeziehungen zum noch
ferneren Osten haben neuerdings mehr Beachtung gefunden. Den
1) Vgl. J. V. Oierke, Die deutsche Hanse, Stuttg. 1918.
2) Von ähnlichen Publikationen zur deutschen Handelsgeschichte ist zu nennen:
Quellen xur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im MA., hrsg. v. B. Kuske,
Bd. 2 (vor dem 1. erschienen, der auch eine ausführliche Einleitung bringen soll),
1450—1500 (Publ. d. Ges f. rhein. Gesch.), Bonn 1918.
3) Versuche wirtschaftlicher Organisation im Bunde behandelt 0. Held, Hansische
Einheitsbestrebungen im Maß- und Qeioicldsicesen bis x. J. 1500, Hans. Gesch.-Bl.
24, 1918.
4) Vgl. auch P. Werner, Stellung und Politik der preußischen Hansestädte unter
der Herrschaft des Ordens bis %u ihrem Übertritt xur Krone Polens, Diss. Königsb. 1915.
107
ältesten Handelszug durch Rußland nordwärts mit der Beteiliojung von
Normannen, Wenden, Arabern und den Hauptmittelpunkten Kiew und
N(.»w^orod schildert für die Zeit vom JS. bis 12. Jahrii. als sehr lebendig
B. Ucnniii , Zur Verlehrsfjeschiclüe Ost- und Nordeuropas, H. Z. 115,
191Ö ^). Für den Düna- und Nowgorodhandel der deutschen Kaufleute,
der darauf einsetzte, hat L K Götz, Deutschrussische Handelsverträge des
MA., Abb. d. liamb. Kolonialinst. 87, 1917, neues Quellenmateriai vor-
nehmlich russischer Herkuntt, das bis Ende des 15. Jahrb. reicht, ver-
öffentlicht und selbst in einem kurzen Aufsatz Die Anfänge des deutsch-
russischen Handels, Preuß. Jahrb. 167, 1917, dargestellt. H. G.
V. Schroeder, Der Handel auf der Düna im MA., Hans. Gesch.-ßl. 23,
1917, hat sein Thema vom 12. Jahrb. bis zum Ausgang des MA. ein-
gehend und gründlich behandelt. Für die Schicksale des hansischen
Peterhofes in Groß Nowgorod ist eine sichere Grundlage erst gewonnen
durch die mustergültige Veröffentlichung von W. Schlüter, Die Now-
goroder Schra in 7 Fassungen vom 13. — 17. Jahrh., Dorpat 1914. Zu
dem schon 1911 herausgegebenen textlichen Teil sind da sehr umfassende
und lehrreiche Register gefügt. Das Werk ist wichtig für den ganzen
hansisch-russischen Verkehr -).
Das bewunderungswürdige koloniale Vordringen der Deut-
schen gegen Osten, das mit dieser Handelsentwicklung parallel ging,
wäre namentlich die Ostseeküste entlang nicht möglich gewesen ohne
die neue Meeresbeherrschung, die zum Hansebunde führte. iSie gab
Flankendeckung und Verkehrsvermittlung. Beide Bewegungen arbeiteten
sich hinfort in die Hände. H. Witte, Besiedlung des Ostens und Hanse,
Pfingstbl. d. bans. Gösch -Ver. 10, Münch.-Leipz. 1914, hat über das
Thema aus seiner reichen und eindringenden Kenntnis heraus wertvolle
Bemerkungen gemacht, die freilich nicht eigentliche Darstellung sein
wollen. Während des Weltkrieges hat man dieser größten Kraftleistung des
deutschen V^olkes, die eine ungeheure Ausweitung des Reichsgebietes
zur Folge hatte, begreiflicherweise lebhatte Aufmerksamkeit zugewandt'').
VV^as in mühsamer Forschung vorher erarbeitet war, wurde nun mehr-
fach in kurzen Aufsätzen oder Vorträgen zusammengefaßt. Ich darf liier
1) Den verschwuudoiien Üstseei)latz Jumue (Viueta nur Verle.sung iu einer
Ilelnioldhs. statt Jumncta) sucht IL wühl mit Recht auf der früliereu Nordwestspitze
von U.sedom an der Mündung der Peeue. Vgl. zu dieser Frage auch die von der
Kritik als nicht befriedigend bezeichneten Arbeiten von G. Xiebuhr, Die Xachricliten
von der Stadt Junme, Hans. Gesch.-Bl. 2.^, 1917 und J. F. Leutx - Sputa , Neues
Material xur Vinetafraije, in d. Zeitschr. Mannas 8, 1917. Zur Geschichte der Ost-
seefisclierei vgl. K. Ja^jow, Die Heringsfischcrei an den deutschen Ostseeküsten im MA.,
Arch. f. Fischereigesch. IL 5, Berl. Ii)l5. Die Vorstellungen von der großen Bedeutung
des Heringsfang.s im MA. sind danacii herabzumindern. Für den Fernhandel kam nur
der Fang in den Gewässern nördl. von Rügen in Betracht. Daß der Hering von da
im KL .Jahrh. nach •Schonen verzogen sei, beruht auf Irrtum.
2) Vgl. Tlie chrovirte of Noi-cjorod lOlß—1471 , tränst, from tlie Russin n bij
R. Mifhrll and NerUl For/jes , Camden 3. series vol. 2.^, Lond. 1914 und die kurze
Darstellung von KL Lu/fler, Grofi-Xougorod und sein Pderhof, I). G.-Bl. 19, 191Ö.
'6) Von einem Vortrage J. Ilallcrs, Deutselic Mac/it und Kultur an der Ostsee,
ist nur ein Zritnng.^refcrat gedruckt in "Wi^s Vorträge gehalten in AVarschau 191(3/17.
108
wohl auf mein Büchlein Der Zug nach dem Osten. Die liolonisatorische
Großtat des deutschen Volkes im MA. (Aus Natur und Geisteswelt
Nr. 731), Leipz.-Berl. 192 i, voraui^verweisen , weil ich dort am Schluß
die neuere Literatur zusammengestellt hal)e. Hier sei nur einzelnes
hervorgehoben.
Eine knapj^e, markige Zusammenfassung des Stoffes gab D. Schäfer,
Das deiäsche Volk und der Osten, Vortr. d. Gehestift, i. Dresd. 7, 19 i5,
der auch sonst wiederholt das Interesse weiterer Kreise auf diese Dinge
lenkte ^). Auf Grund seiner ebenso weitausgedehnten, wie ins Kleine
hinabdringenden Studien, namentlich seiner dreibändigen Geschichte der
Deutschen in den KarjKithenl ändern (1907 — 10), ist auch B. F. Kaindl
unermüdlich bestrebt gewesen, seine gelehrten Kenntnisse m kleinere
IMünze umzusetzen, so in den Schriften: Die Deutschen in Osteuropa
(Bibl. des Ostens 1), Leipz. 1916; Die Deutschen in Gcdisien und der
Bukowina, Frankfurt a. M. 1916; ,, Polen" und „Böhmen" (Aus Nat.
u. Geistesw. 547 und 701), L-ipz.-Berl. 1916, 1919; Die Ansiedlimg
der Deutschen in den Karpathenländern (Aus Ost. Vergang.) , Leipz.,
Prag, Wien 1917; Zur Geschichte des deutschen Rechtes im Osten,
Z. f. R., g. A. 4 0, 1919. Ders., Zur älteren Geschichte der Deutschen in
den Sudetenländern, Hist. Viert. 19, 1919, hat in dem Streite über Zeit
und Art der deutschen Besiedlung Böhmens eine zwar der Annahme
früherer Kolonisation, wie sie B. Bretholz vertrat, zuneigende, aber
immerhin mehr vermittelnde Haltung eingenommen.
Sicher war es verdienstlich von Bretholz, in Böhmen und Mähren anf Hof. Adel,
Priilaten und namentlich Klöster mit ihrem bäuerlichen Anhang die schon seit der
Salierzeit immer stärkeren deutschen Einflüsse zu betonen, die ja auch im Gegensatz
zu Polen durch Einfügung in die kirchliche Organisation Deutschlands gefördert
wurden. Daß aber die eigentliche große Kolonisationsbeweguug hier nicht schon wie die
bayrisch -österreichische in sehr früher Zeit, wohl gar .seit den Tagen Karls d. 'rr.,
einsetzte, sondern im engen Zusammenhang mit der nördlicheren, obersäohsisch-schle-
sischen erst seit dem Ende des 12. .Jahrh. in größerem Umfange begann , dafür hat
doch B.s Hauptgegner A. Zifcha, Vber den Ursprung der Städte in Bohnen vnd die
Städtepolitik der Prxemysliden, Mitt. d. V^er. f. Gesch. d. Deutsch, i. Bölim. ba 54, auch
im Sonderdruck Pi'ag 1914 und Eine neue Theorie über die Herkunft der Deutschen
in Böhmen, ebda. 54, 1915, eindrucksvolle Gründe vorgebracht. Brethoh hat sich in der
Z. d. deutsch. Ver. f. d. Gesch. Mähr. u. Schles. 18, 1914, auch M. I. ö. G. 38, 1918,
verteidigt. Darin stimmen beide Forscher wesentlich überein, daß neben den bisher
überschätzten fürstlichen Xeugründungen von Städten andre aus schon bestehenden
döiflichen Ansiedlungen sich al'mäblich entwickelt haben, bis sie schließlich mit Stadt-
recht begabt wurden. Hinsichtlich der bäuerlichen Kolonisation fehlt es hier noch an
grundlegenden Untersuchungen.
Den gleichfalls heißumstrittenen Beginn der deutschen Kolonisation
in Schlesien ist Kaindl ebenfalls geneigt bis gegen die Mitte des 12. Jahrh.
zurückzuschieben. //. Beutter , Das Siedlungsivesen der Deutschen in
3Iähren und Schlesien bis zum 14. Jahrh. (Aus Ost. Vergang. Nr. 14),
Leipz., Prag, Wien 1918, gab da eine populäre Darstellung. Hier wie
anderwärts wird die früher übertriebene Bedeutung der flämischen
1) Vgl. auch die populären Darstellungen von F. Nagel, Die Ostlandwanderung
der Deutschen, Berl. 1918, und TT'. Classen, Wie der deutsche Osten entstanden ist,
Hamb (1919).
109
Kolonisten jetzt leicht unterschätzt. Eine sehr lebensvolle Schilderung ihrer
Wirksamkeit in einem der alten Reichsgrenze nähergelegenen Gebiet
gab L. Naumann, Veranlassung, Umfang und Bedeutung der flämischen
Siedlungen in der Vrovinz Sachsen. Neujahrsbl. d. bist. Kom. f. d, Prov.
Sachs, u. Anh., Nr. 40, Halle a. S. 1916 0-
Es ist hier nicht der Platz, zur deutschen Ostkolonisation alle die
kleineren Aufsätze in mehr populären Zeitschriften, oft eingereiht in
größere Zusammenhänge, aufzuzählen, zumal sie zur Erweiterung unsrer
Kenntnis kaum etwas beigetragen haben dürften. Doch möchte ich den
anregenden Vortrag von G. Dehio, Livland und Elsaß, Berl. 191H,
hervorheben.
Die neuen östlichen Kolonialgebiete sind auch dadurch für die weitere
Entwicklung des Deutschen Reiches von tiefgreifendem Einfluß gewesen,
daß dort die kräftigsten und selbständigsten Territorien emporwuchsen
und am frühesten die Einrichtung des modernen Staatswesens ausbauten.
Für die beiden bedeutendsten findet man neuere Zusammenfassungen in
größerem Rahmen bei 0. Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk, Berl.
1915 und bei A. Luschin v. Ehengreuth, Handbuch der österreichischeil
Beichsgeschichte I, 2. Aufl, Bamb. 1914 (mit Verzeichnis der bis dahin
erschienenen fepezialliteratur) , sowie in desselben, Grundriß der öster-
reichischen Beichsgeschichte, 2. Aufl., Bamb. 1918 ^). Die Forschung zur
Entstehung und Verfassungsentwicklung der deutschen Territorien
steht noch auf der Stufe, daß durch Untersuchung einzelner Gebiete
der Stoff bereitgestellt wird, aus dem später eine allgemeinere Darstellung
zu erwachsen hat. Nur das erstere Thema der Territorialentstehung
gehört noch voll ins MA. Der Rahmen, den hier schon 1909 für die
geistlichen Territorien grundlegend A. Hauck entworfen hat, ist seitdem
durch Monographien mit besonderem Inhalt gefüllt worden. Dahin ge-
hört jetzt auch die wertvolle Untersuchung von M. Stimniing, Die Ent-
stehung des weltlichen Territoriums des Erzbistums Mainz, Quell, u.
Forsch, z. hess. Gesch. 3, Darmst. 1915.
Bei der engen Beziehung des Erzbistums zur Reichspolitik kommt der Arbeit
von vornherein ein über das provinzielle hinausgehendes Interesse zu. Der werdende
Territorialstaat beruht hier nicht wie andre auf der Grafengerichtsbarkeit, sondern in
erster Linie auf gruudherrschaftiichen Rechten. Der besonders weitverzweijite und
zersplitterte Besitz wurde noch durch die Politik Friedrichs I. auf das äußerste be-
droht, bis Konrad von Witteisbach den Bestand sicherte. Und erst im 13. Jahrh.
begann die zielbewußte Ausdehnung, die Abrundung geschlossener Gebiete, die Ver-
wandlung von Lehnshoheiten in direkte Herrschaftsrechte, die vom Erzbischof und seinen
Beamten wahrgenommen wurden. Zu Beginn des 14. Jahrh. war die Hauptmasse
des Territoriums vorhanden, dessen Entwicklung seitdem nur folgerichtig fortzu-
schreiten brauchte.
Weniger ergiebig ist W. Schmidt-Ewald, Die Entstehung des welt-
lichen Territoriums des Bistums Halberstadt, Abh. Freib. i. B. 60, Berl.
1) Vgl. ./. W. Thompson, Diäch andFlemish colonixation in mediaeval Oermany,
Amer. Journ. of Sociology, Sept. 1918.
2) Von dem geplanten Werke: Württem bergische Regesten v. 1301 — 1500, das
alle Urkunden und Akten des Stuttgarter Staatsarchivs für diese Zeit kurz verzeichnen
soll, erschien der Anfang: I AUwürttemberg, 1. Teil, Stuttg. 1916.
110
1916, wo der Entwicklungsprozeß dieses geschlossenen Territoriums nörd-
lich vom Harz bis zur Mitte des 14. Jahrh. doch vorwiegend lokal-
geschichtliches Interesse hat ^).
Das andre Hauptthema der Territorialforschung, die verfassungs-
mäßige Entwicklung, bei der die Ausgestaltung zum dualistischen
Ständestaat im Vordergrunde steht, spielt nur noch mit der Vorgeschichte
im MA, F. Machfahl, Waren die Landstände eine Landesvertrehing ?,
Schmollers Jahrb. f. Gesetzg. 40, 1916, der gegen einen Angriff von
Schiefer den Vertretungscharakter der Landstände verteidigt, hat dort
S. 1142 Anm. 1, neuere Arbeiten zur Geschichte der Landstände ein-
zelner Territorien verzeichnet. Der Zusammenhang mit dem 16. und
17. Jahrb., dem „klassischen Zeitalter des dualistischen Ständestaats",
ist aber, da die Dinge nur im Hinblick darauf ihre rechte Bedeutung
gewinnen, für derartige Forschungen so selbstverständlich, daß dieser
Hinweis genügen mag, und das Einzelne besser der neuzeitlichen Bericht-
erstattung vorbehalten bleibt.
7. Ausgehendes Mittelalter
Nicht mehr die beiden universalen Mächte bestimmten hinfort letzten
Endes die Geschicke Europas, sondern die aufstrebenden Nationen. Je-
doch dauerte die Auseinandersetzung von Papsttum und Kaiser-
tum noch eine gute Weile fort, und gerade im Niedergange erstanden
beiden erst die entschlossensten und folgerichtigsten Verteidiger. Auf
der einen Seite die Bulle „Unam sanctam*' und jene Kanonisten, welche
die universalen Ansprüche der Kurie ebenso nachdrücklich verfochten,
wie sie die des Kaisertums bestritten. E. Will, Die Gutachten des
Oldradus de Fönte zum Frozeß Heinrichs VIL gegen Robert von Neapel,
Abh. Freib. i. B, 65, Berl. 1917, lenkt die Aufmerksamkeit in höchst
dankenswerter Weise auf die Denkschriften des päpstlichen Juristen,
der die aus dem Bunde Heinrichs VIL mit der italienischen Rechts-
wissenschaft neuerstandenen imperialen Ansprüche auf das schärfste zu-
rückwies und mit einer bis dahin unerhörten Entschiedenheit aussprach,
in der in Nationen zerteilten Welt sei für die kaiserliche Universal-
monarchie die Zeit endgültig vorbei -). Auf der andern Seite die er-
habene Erscheinung Dantes. Es ist hier nicht der Ort, die geradezu
unerschöpfliche, verhältnismäßig doch nur herzlich wenig neue und ge-
sicherte Ergebnisse zutage fördernde Danteliteratur zu verzeichnen, die
mit jedem Schritt näher an die Säkularfeier des Jahres 1921 heran,
immer mächtiger angeschwollen ist ^). Hier kann es sich nur um Dantes
Stellung in seiner Zeit und um seine politischen Ideale handeln.
1) Vgl. auch L. Cavelti, Die Entwicklung der Laiideshoheit der Abtei St. Oallen in
der alten Landschaft, Gossau 1914, wo die neuesten allgemeineren Forschungen auf ein
kleineres Gebiet fördernd angewandt werden.
2) Ilildeg. Hörnicke, Die Besetxung der deutschen Bistümer währ. d. Pontifikats
Klemens' V., Diss. Berl. 1919, untersucht "W'ahlen mit und ohne päpstliche Mitwirkung
und Provisionen.
3) Von allgemeineren "Würdigungen seien hier aus den Kriegsjahren nur ver-
111
Die von J. dcl Liincjo so erfolgreich in ihrer Echtheit veiteidigte Chrouik des
Dino Onnpaijni ist in der von jenem besorgten Ausgabe der neuen SS. rer. Ital.
Cittä di Gast, lölo vollständig erschienen M. Ihre Schicksale und den ganzen Dino-
streit hat ders. sehr ausführlich dargestellt in dem zweibändigen \\'erke Storla
esfenia, viccnde, avi-enture d'un piccol lihro de' tenipi di Dante, Mail., Rom, Neap.
1918 ■). Mit Dantes iiolitischen Anschauungen befassen sich Abhandlungen von
F. Ercole, L'iniitä politica della naxioue ilaliana e l'Iinpero nel pensiero di Dante,
Arch. stör. it. 75 1, 1917 und E. Falk, Dantes uppfattniny av stat och kyrka, Stockh.
1917 (?). Über die Abfassungszeit von Dantes Schrift .,De Monarchia"^) gehen die
An.Mchten nach wie vor weit auseinander. K. Burdach hat sie 1013 in seinem Rienzo-
bande (vgl. dben S. Ifi) verzeichnet. Daß die von Giuliani und Scheffer- Boichor.at
philologisch-kritisch, von Voiiler auch aus dem Ideengehalt gut begründete Ansetzung
in Dantes letzte Lebensjahre irgendwie ernstlich erschüttert wäre, habe ich bisher
nicht gefunden ; mit ihr hätte sich daher jeder Forscher zunächst gründlich aus-
einanderzusetzen, ehe er eine andre Meinung verficht, was jedoch kaum recht ge-
schieht. Ist jener Ansatz richtig, so führt er uns schon in die Zeit des Thronstreites
Ludwigs d. B. mit seinem habsburgischen Gegner und der ersten päpstlichen Gegen-
wirkungen gegen die Keichsherrschaft in Italien.
Die problerareiche Geschichte Ludwigs d. B. stellt der Forsciiuug
noch dauernd lohnende Aufgaben, Zunächst ist hier die Quellengrund-
lage gesichert und erweitert.
Die drei bayrischen Chroniken für diesen Zeitraum, die weitet zurückreichende
Chronica de gestis prineipum, die Chronica Ludovici IV^. und die Chronica de ducibus
Bavariae muHte man bisher in den recht mäßigen Ausgaben in HöhiUHis Fontes be-
nutzen. Jetzt liegen sie in vorzüglicher Edition zu einem handlichen Bande vereinigt
vor in den Scriptores rerum Germanicarum unter dem Titel Chronicae Bnvaricae
saec. XIV., hrsg. von O. Leidinger*), Hann.-Leipz. 1918. V'on den Constitutioncs
der Mon Germ, bist, LL. sect. IV, erschien Bd. VI, 1. 2. (1329/.;üj, liaun.-Leipz. 1914.
Mit ihm erreichte die Herausgobertätigkeit von J. Schwalm, dem die Forschung eine
besou'iere Fülle bisher ungedruckten wertvollen Materials verdankt, ihren Ab.schluß.
Die Fortsetzung der Constitutioncs Ludwigs d. ß. kam seitdem während des Kri<^ges
zeichnet: A. IWlonand-Joyaii, Dante, sa rie et snn (ruvre (E.xtr. de la Rev. positi-
viste Internat), Par. 1915; ./. B. Fletchrr, Dante, Lond. 1916, und die Neubearbeitung
des mit künstlerischem Nachfühlen für einen weiteren Leserkreis geschriebenen
Buches von K. Federn, Dante und seine Zeit, 2. Aufl. 191(3, das zur historischeu
Einführung weit geeigneter ist, als etwa die wesentlich die Kotnödie referierenden
Yorträge von F. Kern, Dante, Tüb. 1914. Das Dantebuch von B. Oroce erschien
später.
1) Die bisher nur in Lamis Deliciae Eruditorum VI ungenügend g'^druckte
Cronichetta de' Crrclii aus dem 14. Jalirh. ist von F. Magrjini, Arch. stör, it 76 I,
1918, besser herausgegeben.
2) Vgl. von dems. die kleine Schrift: Dante in patria c neU'esüio errabondo,
Flor. 1914 (?).
3) F. Moore, Dante De Mnnarcliia. The Oxford text with an introduction on
the political theorij nf Dante b. W. Reade, Oxf. 1916, ist ohne besondere Bedeutung,
der Text ohne Anmerkungen; sehr anerkennen.swert dagegen die in Textgestaltung
und Quellennachweisen verbesserte Ausgabe von L. Bertalot, Daniis Alagherii De
monarchia lihri HI, Friedrichsdorf a. Taunus, ^;elbstverlag, 1918.
4) Ders., Brrnardtis Xoricus, Untersuchungen ■xu den Geschichtsqiiellen von
Krcmsinünstcr u. Tegernsee, S. B. d. Müneh. Ak. 1917, weist nach, daß jener an-
gebliche Histoiiker als auf Irrtum beruliend aus den Kremsmünsterer Ge.schichts-
quellen ganz zu tilgen ist. Ders. hat mit der ebenfalls vortrefflichen Au.sgabe von
Veit Ampecks Säintlichen Chroniken (Qu. u. p]rört. z. bayr. u. di'utsch. Gesch , N. F.,
Bd. 3, 191ü), die für die bayrische und ö.sterreichische Geschichte des ausgehenden
lö. Jahrh. wertvoll .^ind, die Veiöffentlichung der wichtig.sten bayrischen Laudes-
chroniken des 15. Jahrh. zum Abschluß gebracht.
112
einstweilen ins Stocken. Als eine willkommene Bereitstellung von historischem Stoff
führt auch von den Regesten der Erxbischöfe von Köln im MA. Bd. 4 (1304 — 1332),
bearb. v. W. Kisky, Bonn 1915, in Ludwigs Regierungszeit hinein ^).
Über die Gattin des Gegenkönigs hatten Finkes Funde in Barce-
lona mancherlei Neues gebracht; es bildet die Grundlage einer Bio-
graphie von Johanna Sclirader , Isabella von Aragonien, Gemahlin
Friedrichs des Schönen von Österreich, Abh. Freib. i. B 58, Berl. 1915.
Auf den Höhepunkt des kriegerischen Kampfes zwischen den beiden
Thronbewerbern führt uns W. Erben, Die Berichte der erzählenden
Quellen über die Schlacht bei Mühldorf, Arch. f. öst. Gesch. 105, 1917.
Die kritische Prüfung zeigt, daß starkes Mißtrauen gegen solche
Schiachtenberichte damaliger Zeit gerechtfertigt ist.
Mit dem deutscheu Thronstreit verflocht sich der Freiheitskampf
der Schweizer Eidgenossen 2). Der 600. Jahrestag der Schlacht
am Morgarten hat die Erinnerung daran neu belebt'^). Die beste neuere
Einführung bietet hier B. Durrer, Die ersten Freiheitskämpfe der Ur-
schweiz in der im Auftrage des Generalstabschefs bearbeiteten Schweizer
Kriegsgeschichte, 1. u. 3. H. 1915. Ders., Neue Beiträge zur Aus-
tmd Fortbildung der Befreiungssage, Anz f. Schweiz. Gesch. 46. 47,
1915/16, hat auch sonst den Anfängen der Schweizer Bünde seine Auf-
merksamkeit zugewandt. Die Paßpolitik wird da als treibender Faktor
immer allgemeiner anerkannt; von weltentlegenen Hirtengemeinden wäre
niemals eine so bedeutsame Entwicklung ausgegangen. Karl Meyer,
Der Schwurverband als Grundlage der Eidgenossenschaft, ebda. 50, 1919,
sucht dementsprechend sogar nachzuweisen, daß nicht die lokalen Tal-
genossenschaften, die altgermanischen Mark- und Gerichtsgemeinden die
Grundlage des Bundes gewesen seien *) , sondern eine freie Schwur-
vereinigung gegen die Einherrschaft nach dem Vorbilde der städtischen
coniurationes in Italien, Nordfrankreich, Flandern und Deutschland.
Erst die Beziehungen Ludwigs d. B. zu Reichsitalien haben
bekanntlich zum offenen Bruch mit der römischen Kurie geführt.
In die Verhältnisse Oberitaliens gewinnen wir auf Grund neuen Quellen-
stoffes manche Einblicke durch R. Davidsohns Beiträge zur Oeschichte des Reichs
und Oberitaliens aus den %-ur Zeit noch im Münchener Reichsarchiv beßndlic/ien
Tiroler Rechmmgsbiichern der Jahre 1311/12—1341, M. I. ö. G. 37, 1917. Herzog
Heinrich von Kärnten - Tirol , seine Beziehungen zu den Königshäusern, seine durch
das Generalvikariat von Padua und der Mark Treviso begründete und bis 1329 schwach
behauptete oberitalische Schutzherrschaft, ein Vorspiel zu Ludwigs Eingreifen und der
1) /. Loserth, Aus den Annales difßniciones des Oeneralkapitels der Zister-
xienser in d. J. 1290 — 1330, N. A. 41, 1919, druckt aus einer Grazer Hs. Auszüge
aus den Beschlüssen des Generalkapitels ab, die sich auf Zisterzienserklöster Deutsch-
lands, Böhmens usw. beziehen und für Ordens- und Sittengeschichte der Zeit man-
cherlei Stoff bieten.
2) Zur populären Einführung vgl. E. Oagliardi, Geschichte der schweixerischen
Eidgenossenschaft bis 1516 (Voigtländers Quellenb. 67), Leipz. 1914.
3) Vgl. M. Styger, Die Gedächtnisse der Schlacht am Margarten v. 15. Wiyiter-
monat 1315, Schwyz 1916 und weitere kleine Gedenkschriften.
4) Vgl. A. Rosa Benx, Der Landatnmann in den urschweixerischen Demokratien,
Zur. 1918.
Wissenscbaftüclie Forschungsberichte VII. 8
113
luxemburgischen Signorie, steht hier im Mittelpunkt. Auch kulturhistorischer Stoff
und Gesichtspunkte zur Kritik der unwahrhaftigen Chronik der Cortusi bieten sich dar.
Das Verhältnis Ludwigs zum Papsttum bis zum Höhepunkt
des Frankfurter Reichstages von 1338 ist in dem oben 8. bl genannten
Buche von B. Moellcr, dessen Beilagen größtenteils auch als Rostocker
Dissertation 1914 erschienen, mit hervorstechender Begabung vielfach in
neuem Lichte hingestellt worden.
Noch entschiedener als Hauck lehnt M. die ungünstige Beurteilung des Politikers
Ludwig durch Kiezler und K. Müller, aber auch die Auffassung Pregers von dem
gerissenen, hinterhältigen Diplomaten ab und zeigt, wie der AV'ittelsbacher ehrlich und
unentwegt von 1314 — 13;:58 auf staufischen Bahnen für das eine Ziel gekämpft hat,
die kaiserliche Herrschaft gegen den Approbatiousanspruch des Papstes, dem mit der
Krönung nur die Titelerteilung zustehe, zu verteidigen. Mit Ausnahme der unklugen
Komzugsepisode, bei der er unter fremden Einfluß geriet, ist er auch stets für ^'chei-
dung des Kirchlichen und Weltlichen eingetreten. Nur für Verfehlungen auf ersterem
Gebiete war er bereit, Genugtuung zu leisten. In Eense und Frankfurt war er selbst
und nicht etwa der von Ilöhlbaum und andern ganz zu Unrecht als Fuhrer hingestellte
opportunistische Territorialpolitiker Balduin von Trier das treibende Element, und das
Ganze war durchaus eine politische Aktion des alten kaiserlichen Einheitsgedankens,
darum auch ein Abschluß des Vergangenen, nicht eine Stufe zum Zukünftigen. Die
Verwischung der Benennung als Kaiser und König in dem Frankfurter Keichsgesetz
„Licet iui'is" wird auf eine kanonistische Glosse des Johannes Teutouicus zurück-
geführt. Aus dem reichen Inhalt des Buches können hier nur diese Hauptgedani<en
herausgehoben werden , die im wesentlichen einleuchten , teilweise übrigens zu der
alten Fickerschen Auffassung zurücklenken. Das letzte Wort ist hier natürlich noch
nicht gesprochen. Die Einzeluntersuchungen bedürfen genauer Nachprüfung; ge-
legentlich hat man doch den Eindruck, daß die Dinge etwas zu klar herausdestilliert
sind, wenn auch die konstruktive Neigung des Verf. hier weniger störend hervortritt,
als in der oben S. 46 genannten Abhandlung. Auch das Operieren mit der „Kaiser-
wahltheorie" bewegt sich hier auf festerem Grunde als im 13. Jahrh. Nicht ganz ohne
Gefahr ist es jedoch, von den wirren Gängen der luxemburgischen, wittelsbachischen,
habsburgischen Hausmachtbestrebungen, ja auch der französischen und englischen
Politik so gut wie ganz abzusehen und das Verhältnis Ludwigs zur Kurie so isoliert
zu betracbten. Nicht jeder wird beispielsweise überzeugt sein , daß Beilage 4 über
Ludwigs sog. Verzicht auf das Reich von löo3, den M. als eine Ordnung der Thron-
folge mit approbationsfeindlicher Tendenz auffaßt und nur durch Fälschungen des
Böhmen und Niedeibayern entstellt sein läßt, wirklich auf den Grund der Wahrheit
kommt. Aber die gebotene Anregung bleibt auf jeden Fall reich.
Möller äußert sich auch über das gegenseitige Verhältnis von Lud-
wigs Appellationen, über die wir ja erst in jüngerer Zeit durch die
Forschungen von Schwalm und Zeuraer schrittweise Aufklärung erhalten
haben. Über diese hinaus führt jetzt J. Hofer, Zur Geschichte der
Appellntionen König Ludwigs d. B., Hist. Jahrb. 38, 1917.
Daß der Appell an ein Konzil in der Frankfurter k\)\). gegenüber der Nürn-
berger keine Verschärfung bedeute, mag man bezweifeln; wichtig aber ist die Heraus-
arbeitung der streitverschärfenden Einflüsse von Ludwigs Protonotar Ulrich Wild.
Durch ilin, nicht unter miuoritischer Einwirkung, ist in der Nürnb. App. der Vorwurf
der Ketzerbegünstigung dem Papste zurückgegeben und in die Sachsenhäuser App. der
Armutsexkurs ungeschickt eingefügt, der wahrscheinlich in den Kreisen lombardischer
Spiritualen entstanden war und hier die Bannung Ludwigs mit der Anklage auf Ab-
setzung des ketzerischen Papstes beantworten sollte, — alles das nach dem Vorbilde
Philipps des Schönen. Beidemal bean.standete Ludwig den Übergriff auf das kirchliche
Gebiet, hatte aber nicht g'-nug Sachkenntnis und Überblick, um das Bekanntwerden
der Nürnb. Fassung und die eigenmächtige Versendung gleichwohl des ersten Ent-
wurfes der Sachsenh. App. durch Ulrich zu verhindern. Diese Ausführungen sind auch
zur Gesamtbeurteilung des Bayern beachtenswert, I
114
So verhängoisvoll diesem seine Verbindung mit den papstfeindlichen
Minoriten und radikalen Gelehrten auch geworden ist, so beruht doch
gerade auf dem Bunde mit der aufstrebenden ungebundeneren Wissen-
schaft nicht zum wenigsten seine welthistorische Bedeutung. Der
Publizistik jener Tage hat sich daher auch nach längerer Pause seit
ßieziers Werk die Forschung mit erneutem Eifer zugewandt. Die größten
Verdienste erwarb sich darum R. Sdiolz, der sein 1911 begonennes
Werk: UnheJcannte Idrchenpolitische Streitschriften aus der Zeit Lud-
wigs d. B. 1327—54, Rom 1914; mit dem 2. Bde. (Bibl. d. preuß. bist.
Inst. i. Rom, Bd. 10) abschloß.
Die meisten der hier größtenteils im Auszug dargebotenen Texte waren un-
gedruckt. Darunter sind Traktate des mehr und mehr auf die päpstliche Seite
tretenden Konrad von Megenberg, über den auch Herrn. Meyer, Lacrimae ecclesiae,
N. A. 39, 1914, gearbeitet hat ; weiter solche von Wilhelm v. Occam, insbesondere aus
seiner letzten Zeit der unvollständige: „De imperatorum et pontificum potestate",
der noch einmal die schärfsten Angriffe gegen das kurialistische System zusammen-
faßt; endlich wieder andre von Augustinus Triumphus, Alvarus Pelagius, Landulfus
Colonna usw., — im ganzen also eine sehr wichtige Bereitstellung neuer Quellen,
eine reiche Fundgrube für die Ideengeschichte dieser Zeit!
Ders. R. Scholz hat auch für Übungszwecke des llarsilius von
Padtia Defensor pacis (Quellensamml. z. deutsch. Gesch.), Lcipz. 1914,
natürlich in starker Verkürzung (nach anderem Drucke als A. CarteUieri
das 1. Buch 1913) herausgegeben. Für die Forschung ist freilich, um
nicht falsche Eindrücke zu wecken, eine Ausgabe des ungekürzten Werkes
mit allem ma.lichen Ballast nach den Hss, unerläßlich. Scholz bereitet
sie für die Oktavserie „Fontes iuris Germanici antiqui" der Mon. Germ,
vor, ebenso wie Herm. Meyer die des Lupoid von Bebenburg. D. Stieglitz,
Die Staatstheorie des Marsilius von Padtia, Beitr. z. Kult. 19, Leipz.-
Berl. 1914, versucht den Defensor pacis mit der älteren Publizistik und
Scholastik in Beziehung zu setzen und das Verhältnis zwischen demo-
kratischer Theorie und Wirklichkeit zu verfolgen, ohne erhebliche Auf-
klärung zu bringen.
An die publizistische Bewegung unter Ludwig d. B. darf man
wohl die der deutschen Mystik anschließen. Ihre Anfänge reichen
freilich schon um ein Jahrhundert zurück. P. D. Stöckerl, Rruder
David V. Augsburg. Ein deutscher Mystiker ans dem Franziskaner-
orden (Veröflf. aus d. kirchenhist. Sem., Münch. IV, 4), Münch. 1914,
gibt das Wenige, was über Davids Leben (f 1272) bekannt ist, charak-
terisiert ihn als Schi-iftsteller und bespricht unter Benutzung Münchener
Hss. seine zahlreichen Traktate, deren er 32 mit Sicherheit neben einigen
unsicheren nachweist ^). Die „ Offenbarungen " der Dominikanerin Mar-
1) /. Greven, an dessen Buch über die Anfänge der Beginen sich eine Kontro-
verse mit G. Kurth und A. Hauck geknüpft hat, da er eine Gründung durch den
Lütticher Prediger Lambert le Begue {f 1177) bestreitet und jene Frauengemein-
schaften zu Beginn des 13. Jahih. unter Förderung des sich gegen den übermäßigen
weiblichen Andrang schließenden Zisterzienserordens ohne besondere Einzelgründung
emporwachsen läßt , ergreift mit der Abhandlung Der Ursprung des Beginemvesens,
Eist. Jahrb. 35, 1914, zu der Frage noch einmal das "Wort.
8*
115
garetha Ebner aber fallen recht eif!;entlich in die Regierungszeit Ludwigs,
zu dem sie mit schwärmerischer Verehrung aufblickte. L. Zoepf, Die
Mystiherin 3Iargaretha Ebner (c. 1291—1351), Beitr. z. Kult. 16, Leipz.-
Berl. 1914, hat ihr Wesen, ihre durch Hysterie beeinflußten Träume und
Visionen etwas breit, aber mit einfühlendem Verständnis dargestellt, in-
dem er zwischen der legendär katholischen Autfassung und der alles auf
das Sexuelle zurückführenden Erklärung der Freudschen Schule die
Mitte zu halten sucht.
Wenden wir uns zur Geschichte der päpstlichen Gegner Lud-
wigs, so ist da wieder stärker die internationale, und hier, wo es sich
um die avignonesische Zeit handelt, naturgemäß die französische For-
schung beteiligt. Wegen der sehr vollständigen Bibliographie sei da
zunächst verwiesen auf das ältere Buch von G. Mollat, Les papes
cTÄvignon 1305 — 78, Par. 1912. Ders. hat die neue nach den Hss.
veranstaltete Ausgabe von Si. Balimus\ Vitae paparum Avenionensium,
Bd. 1, Par. 1916, besorgt und in einer Etüde critique sur les Vitae
paparum Avenionensium d'iltienne Baluze, Par. 1917, Untersuchungen
veröffentlicht über Verfasser, Quellen, Abfassungszeit und Wert der
einzelnen Viten.
Die zweite Vita Benedikts XII. und die dritte Klemens' VI. ist danach mit an-
nähernder Sicherheit dem bekannten Johannes Porta de Annoniaco, dem wir die Schrift
über Karls IV. Romfalirt verdanken, zuzuweisen, die fünfte Vita Johanns XXII. ist
von Heinrich von Diessenhoven. Für jeden Benutzer der Viten ist künftig unerläß-
lich, daß er sich über ihren Wert bei Mollat unterrichtet \).
Ders. setzte die Ausgabe der Lettres communes Johanns XXII.
(1316 — 34) in der avignonesischen Registerserie mit Bd. 7, H. 17, Par.
1919, fort , ebenso wie J. M. Vidal die der Lettres clo.^es et patentes
interessant les 2^ays autres que la France Benedikts XII. (1334—42)
mit H. 2, Par. 1919 2).
Noch wichtiger als diese Registerpublikationen ist der gründliche
Einblick, den uns deutsche Forschung in die Finanzverwaltuug
der avignonesischen Päpste eröflfnet hat in den von der Görres-
gesellschaft herausgegebenen Vatikanischen Quellen zur Geschichte der
päpstlichen Hof- und Finanzverivaltung 1316 — 1376. Darin hat K. H.
Schäfer dem 1911 erschienenen 2. Bde. (Ausgaben Johanns XXII.) ^),
Bd. 3: Die Ausgaben der apostolischen Kammer unter Benedikt XII,
Klemens VI. und Innozenz VI., Päd. 1914, folgen lassen, während
E. Göller den 4. Bd.: Die Einnahmen der apostolischen Kammer unter
Benedikt XII., Päd. 1920, herausgebracht hat.
Nicht eine vollständige Geschichte Johanns XXII. wollte N. Valois
(f 1915) mit seinem umfangreichen Artikel Jacques Duese, pape sous
le nom de Jeati XXII. für die Hist. lit^r. de la France, Bd. 34, Par.
1) Vgl. M. Prou, Les vies des papes d' Avigno7i, Journ. d. Sav., Par. 1918.
2) Vgl. auch die auf Belgien bezüglichen Auszüge von A. Fiercns, Suppliques
d'Urbain V. (13(52 -1370), Rom 1914.
3) Der Nützlichkeit halber sei hier auf die daraus im Sonderdruck erschienene
Darlegung: Der Geldkurs im 13. u. 14. Jahrh., Päd. 1911, noch einmal hingewiesen.
116
1914, liefern, sondern nur unter dogmatischen, moralischen, wissenschaft-
lichen und literarischen Gesichtspunkten die Persönlichkeit dieses merk-
würdigen Papstes betrachten; gerade da aber konnte er aus seiner
reichen Kenntnis viel Neues geben. — In Johanns letzter Zeit hat be-
kanntlich der dogmatische Streit über die Gottesschau der Seelen der
beati, in den er verwickelt war, weitgreifende Wirkungen geübt; so
gehört in diesen Zusammenhang die Schrift von G. Hoffmann, Der Streit
um die selige Schau Gottes (1331 — 38 J, Leipz. 1917 ^).
Für die ersten Jahre Karls IV. haben wir eine sichere Grund-
lage erhalten in den Constitutiones der Mon. Germ, bist., Bd. VIII, 1. 2,
bearbeitet von K. Zeumer und R. Salomon, Hann.-Leipz. 1919, der die
Jahre 1346—48 umfaßt 2). An sein Gesetzeswerk der Goldenen Bulle
von 1356 knüpfen einige kleinere Arbeiten an.
Zu der dort erfolgenden Regelung des Laienkurrechts gibt M. Krammer , Die
Frage des Latenkurrechts vom Interregnum bis zur Goldenen Bulle, N. A. 39, 1914,
die Vorgeschichte, indem er im Rahmen des Bekannten im einzelnen sorgfältig dar-
legt, wie die Anschauung von der Kur als einem gemeinsamen Eigen der Familie sich
seit dem Interregnum in dem pfälzischen , brandenburgischen und sächsischen Hause
geltend machte und was dagegen geschah. Daß diese Regelung gleichwohl in Branden-
burg über die Dispositio Achillea hinaus noch zwei Jahrhunderte mißachtet wurde,
ersieht man aus dem Aufsatz des im Kriege 1915 gefallenen H. v. Caemmerer, Die
Testamente der Kurfürsten von Brandenburg tmd der beiden ersten Könige von
Preußen, Veröff. d. Ver. f. Gesch. d. Mark Brand. 1915. Ä. Werminghoff, Zum fünften
Kapitel der O. B. v. 1356, Z. f. R., g. A. 36, 1915, behandelt die AVahrnahme der
Patronatsrechte des Reiches während der Vakanz des Königtums durch die beiden
Reichsstatthalter, eine Anordnung, die auch im kleinen die Fürsorge Karls zur Er-
haltung der Reichsrechte verrät.
Wegen ihres verwandten Charakters füge ich hier an die Heidelb. Diss von
El. Bauer, Das Recht der ersten Bitte bei den deutschen Königen bis auf Karl IV.,
Kirchenrechtl. Abb. 94, b^tuttg. 1919, die für die Entstehung der Rechtsvorstellung zwar
weit zurückgreift, aber ihren Schwerpunkt doch in der Zeit der regelmäßigen Aus-
übung dieses Rechtes der Pfründenbesetzung von Rudolf von Habsburg bis Karl IV.
hat. Päpstliche Provisionen und die dem königlichen nachgebildeten Precesrechte der
Fürsten begannen auch da bald beeinträchtigend zu wirken.
Für die Beziehungen Karls IV. zur Kurie und Cola di Rienzo
bedarf es hier nur eines kurzen Hinweises auf die oben S. 16 schon
vorweggenommenen Forschungen K. Burdachs ^). H. Breßlaii, Briefe
aus der Zeit des 2. Bömersuges Kaiser Karls IV., N. A. 41, 1917, fand
durch den Krieg Gelegenheit, die uugedruckten Briefe im Cod. 450 der
Laoner Stadtbibliothek , auf die ich früher hingewiesen hatte , zu ver-
öffentlichen; unter ihnen verdient namentlich der Bericht der Prioren
und des Gonfaloniere von Arezzo an den Kaiser über das Gefecht kaiser-
1) E. Ströbele, Nikolaus v. Prato, Kardinalbischof v. Ostia (1803—21), Diss.
Freib. i. B., ist eine Parallelarbeit zu der gleichnamigen Marb. Diss. von F. Theile, 1913.
2) Vgl. K. Zwierzina, Gedichte des Lupoid Eornburg von Rothenburg 0. T.
(mit Beziehungen auf die Jahre 1347/48) in Festschr. d. Erzh. Rainer Realgymn.,
Wien 1914. Die kurze Schrift von P. Vidal, Lettres patentes de l'empereur Charles IV,
(15 Mars 1354)., Par. 1914, ist ohne allen neuen Ertrag.
3) Zur Wiederherstellung des Kirchenstaats vgl. M. Antonelli, II cardinale
Albomox e il governo di Roma tiel 1354, Arch. stör. Rom. 39, 1916.
117
lieber und päpstlicher Söldner ^) gegen die Scharen des Condottiere John
de Hawkwoüd vom 15. Juni 1369 Beaciitung '-).
Eine Gesaratgeschichte Karls 1 V^., wie sie F. Vigener für die Münchener
Historische Kommission übernommen hat, ist, wenn man die Kratt hat,
nicht in den Einzelheiten zu versinken, eine der lohnendsten Aufgaben
der spätmittelalterlichen Geschichte ■'). Aber selbst unter diesem be-
deutenden Herrscher konnte das Reich entfernt nicht mehr die be-
stimmende Rolle wie in früheren Zeiten spielen. Westeuropa hat während
des ganzen 14. Jahrh. den stärksten Einfluß geübt und hätte ihn noch
mächtiger zur Geltung bringen können, wenn sich seine Kräfte nicht
bald durch den englisch-französischen Gegensatz zum großen Teil auf-
gehoben hätten.
Für diese westeuropäische Geschichte muß ich mich mit
kurzen Hinweisen begnügen, da die während des Krieges dort er-
schienenen Werke mit wenigen Ausnahmen in Deutschland noch kaum
erhältlich sind.
Die Übergangsregierung Eduards H. von England (1307 — 27) ist
von T. F. Tout schon früher im dritten Bande der Political history of
England dargestellt worden. Jetzt hat er in dem Buche The place of
the reiyn of Eduard II*) in English history, Manch. 1914, ihre Be-
deutung noch stark unterstrichen. Gerade daß der absolutistische Zug
Eduards I. unter seinem schwächeren Sohne durch neues Emporsteigen
und endgültige Festigung des Parlaments abgelöst wurde, verhalf
moderneren Bildungen in Verfassung, Verwaltung und ständischer Schich-
tung zum Durchbruch. Eine Anzahl von Schülern Touts, deren Arbeiten
man Rev. bist. 117, 1914, aufgezählt findet, ist am Werke, diese Ge-
samtauffassung ihres Lehrers in Einzeluntersuchungen zu begründen.
Ders. versucht in den Chapters in the administrative history of mediaeval
England: The Wardrobe, the, Chamber and the Small Seals, 2. Bde.,
Manch. 1919, eine Grundlegung zur Geschichte der Behördenorganisation
Englan is zu geben.
1) Vgl. B. Rathgen u. K. R. Schäfer, Feuer- u. Fernwaffen beim päpstlichen
Heere im 14. Jahrh., Z. f. bist, ^yaffenk. 7, 1916 (auf Grund der Angaben päpstlicher
Rechnungsbücher).
■ 2) Vgl. für die italienischen Verhältnisse dieser Zeit die Neuausgabe des Chro-
nicon Matinense des Johannes de Bdx^ano (bis ISti-i) durch T. Casini in Rer. it.
Script. 15.^, Bol. 1917; auch vom Repertorio diphmatico vlsconteo (Soc. stör, lomb.):
Bd. 2 (1363 -1385, Urkundenregesten), xMaü. 1918.
3) Vgl. K. Wenck, König Ludwig I. v. Ungarn, Kaiser Karl IV. und die
rak Brandenburg i. J. 1371, Schrift, d. V. f. Gesch. Berl. 50, 1915; 0. Stolx, Ein
venetianisch- böhmisch -belgisches Verkehrsprojekt Kaiser K. IV., Mitt. d. V. f. Gesch.
d. Deutsch, i. Böhm. 52, 1914, zeigt auf (irund einer aus dem venezianischen Staats-
archiv mitgeteilten Gesandteninstraktion des Dogen Lorenzo Celsi, wie Karl schon
um die Mitte der sechziger Jahre die Anregung gegeben hatte, einen Teil des vene-
zianisch-flandrischen Transitverkehrs über Moldau und Elbe zu lenken, wofür er
Sicherheit, Erleichterungen und die Errichtung eines venezianischen Fondaco in
Prag anbot.
4) Vgl. Yearbook:^ of Edward 77, ed. W. C. Bolland, Bd. 11 (1311/12), Lond.
1916. Vgl. J. C. Daries, The Baronial Opposition to Edward II its cJiaractcr and
olicy, a study in adininistrative history, Cambr. 1919.
118
Zur Geschichte Eduards III. (1327 — 77) hat die wichtige Samm-
lung des Calendar of Close Rolls mit Bd. 14 (1374 — 77), Lond. 1914,
ihren Abschhiß gefunden; von andern Reihen erschienen: Calendar of
the Fine Rolls, Bd. 5 (1337 — 47), Lond. 1915; Calendar of the Charter
Rolls, Bd. 5 (1341—1417), Lond. 1916^) Die wichtigsten Stücke aller
dieser Veröffentlichungen sind natürlich in der Regel schon in Rymers
Foedera gedruckt. Für den hundertjährigen Krieg mit Frankreich, der
unter diesem Herrscher begann, war ein entscheidender, bisher nicht
genügend gewürdigter Faktor die Geldbeschaffung. Eben daß sie den
Engländern zunächst durch starke Anspannung der Finanzen besser
gelang als ihren Gegnern, war nicht zum wenigsten die Grundlage ihrer
Siege in Frankreich. Das hat aus englischen Quellen S. B. Terry,
The financing of the Hundred Years' War 1337 — 60, Lond. 1914, dar-
getan. Auch das von G. Unwin herausgegebene Buch Finance and
trade imder Edward TU by members of the History School, Manch.
1918, ist in diesem Zusammenhang zu nennen ■^).
Auf französischer Seite folgte auf die mäßigen ersten Valois •^)
endlich mit Karl V. (1364 — 80) ein ebenbürtiger Gegner, der bald eine
Wendung der Dinge hervorrief Ihm ist die gediegene Forschung von
R. Delachenal gewidmet, der die Chroniques des regnes de Jean II et
de Charles V für die Soc. de l'hist. de France, Bd. 2 (13 64 — 80), Par.
1916, vorzüglich herausgab und von seiner zu den besten neueren Ge-
schichtswerken Frankreichs gerechneten, von der Akademie preisgekrönten
Histoire de Charles V, Bd. 3 (1364 — 68), Par. 1916, veröffentlichte.
Der schwache Richard II., der in England an die Stelle seines
zuletzt stark verfallenen Großvaters Eduard III. trat, war am wenigsten
geeignet, die britische Sache wieder herzustellen ^). Für seine Regierung
liegen einige Quellenpublikationen vor ">). Mit ihr aber sind wir bereits
eingetreten in die Zeit der großen Kirchenspaltung, die Europa noch
ganz anders als der englisch französische Streit in Atem hielt.
Von den beiden im Beginn des Schismas einander gegenüber-
1) \"gl. G. Lapsley , ArchbisJiop Sfratford and ihe Parliamentary Cn'sis of
1341, Engl. hist. Rev. 30, 1915. Die Chronica Johannis de Beading et Anonymi
Cantuariensis 1346 — 67, ed, by J. Tait, Manch. 1914, haben weniger originalen als
quelleukritischen Wert wej^en ihrer Beziehungen zu anderen Chroniken.
2) Vgl. Dorothy Hughes, A stitdy of social and constitutional tendencies in the
early years of Edward III., Lond. 1915.
3) Vgl. J. Miret y Sans, Leftres closes des prcmiers Valois (13'28 — 1414), Moyen
äge 29, 1917/18; J. Viard, La Cour au commencement du XIV siede, Bibl. de l'Ec.
des Ch. 77, 1916. behandelt die Umwandlung des Ivönigshofes, namentlich unter den
ersten Valois; vgl. ebd. 79, 1918. Hierher gehört auch H. Cochin, Petrarque et les
rois de France, Annuaiie bull, de la Soc. de l'hist de France, auuee 1917, Par. 1918.
Mit dem Jahre 1345 beginnt das vollständige Verzeichnis der Pariser Parlaments-
mitglieder in E. Maugis, Histoire du Parlcment de Paris. Bd. 3, Par. 1916.
4) Vgl. L. Mirot, Une tenfative d'invasion en Angleierre pendant la guerre de
Cent ans (13S5/S6), Par. 1915.
5) Caletidar of Close Rolls: Rieh. II., Bd. 1 (1377—87), Lond. 1914: G. F.
Deiser, Year books of Richard II (1377 — 99), Cambr. Harv. Univ. 1914; Raphael
Holinslied, Chronicles : Richard II 1398—1400 and Henry V, ed. by R. S. Wallace
and Alma Hamen, Oxf. 1917.
119
stehenden Kurien befaßt sich mit der römischen eine von Tangl an-
geregte sehr gründliche Berl. Diss. von Th. Graf, Papst Urhan VI.;
Uni ersuch ungen über die römische Kurie ivührend seines Ponlifikates
(1378—89), Berl. 1918, von der aber erst der Teildruck der drei ersten
Kapitel über Beamtenersatz, Kanzleiwesen und Finanzgebarung nebst
einem vollständigen Namensverzeichnis der Kurialen erschienen ist. Mit
dem Pontifikat seines avignonesischen Gegners Klemens VII. beginnt in
seiner neuen Form das Pepertorium Germanicum, Verzeichnis der in
den päpstlichen Pcgistern und Kameralakten vorkommenden Personen,
Kirchen u. Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen u. Territoriert
V. Beginn des Schismas his z. Reformation, hrsg. v. Preuß. bist. Inst, in
Rom, Bd. 1 : Klemens VII. v. Ävignon 1378—94, bearb. v. E. Göllcr,
Berl. 1916. Da die politische Ausbeute dieser spätmittelalterlichen
Register nicht der Rede wert ist, so hat man mit Recht die ausführliche
Regestierung des früheren Versuchs, mit der nicht aus der Stelle zu
kommen war, aufgegeben und sich auf sorgfältige Namenverzeichnisse
beschränkt, in denen die Interessenten für ihre lokalgeschichtlichen, topo-
graphischen oder genealogischen Zwecke die nötigen Hinweise für weitere
Erkundigung finden. Die eindringende Einleitung GöUers: Klemens VII.
und das ScJiisma in Deutschland liefert aber außer für Organisation
und Verwaltung der Kurie auch Ertrag für die politische Geschichte,
während ein zweiter Abschnitt: Die Grundlagen des päpstlichen Bene-
fiziahvesens und der Praxis der Stellenhesetzung zur Zeit des großen
Scltismas darstellt. Gerade für diese Zeit der Spaltung ist es natürlich
besonders lehrreich zu sehen, welche Bewerber sich an die avignonesische
Obödienz hielten. Ob die gestellte Riesenaufgabe, die nach Verzicht der
Görresgesellschaft auch für die 2. Hälfte des 15. Jahrb. ganz dem preuß.
hist. Institut zufiele, selbst in dieser beschränkten Form noch Aussicht
auf Verwirklichung hat, und ob das verarmte Deutschland vorerst nicht
noch nötige! e Arbeit zu schaffen hätte, dürite trotz der vorzüglichen
Leistung dieses ersten Bandes die Frage sein.
An die Kurie von Avignon führt uns auch //. Bresslau, Aus der
ersten Zeit des großen abendländischen Schismas, Abb. d. Berl. Ak. 1919.
Wichtige Avignoncser Akten sind durcli Auflösung zusammengoleimter Buch-
deckel von französischen Hss. wiedergewonnen. Aus ihnen veröffentlicht Br. hier
acht wertvolle Stücke, darunter von ganz einzigartiger Bedeutung eine eigenhändige
Aufzeichnung Papst Klemens' VII. vom Mai 138Ü für eine Antwort auf Vorschläge
zur Beseitigung des Schi.smas, die König Johann von Kastilicn durch Gesandte hatte
machen lassen, Erwägungen, die eine Alt Gegenstück zu der berühmten Deliberatio-
Innozenz' III. von 1201 bilden.
In Vorgeschichte und Anfängen des Schismas gewann einen Augen-
blick welthistorische Bedeutung die reizvolle Figur der hl. Katharina
von Siena (1847 — 80), die in jüngster Zeit so allgemeine Teilnahme und
literarische Behandlung erfahren hat, daß sie darin fiist in Wettbewerb
mit dem hl. Franz und der Jungfrau von Orleans getreten ist.
Die italienische Prosa ihrer Briefe *) macht sie den Italienern noch besonders
1) Neue Ausgabe ihror Lcltere von L. Fcrrctti, Bd. 1, Siena 1918; eine andere
Mail. li;17.
120
wert. Einen Versuch zu deren Datierung unternimmt E. Freiin v. Seekcndorff , Die
kirchenpolitische Tätigkeit der h. K. v. S. unter Papst Gregor XL (1371 — 78), Abh.
Freib. i. B. 64, Berl. 1917, ohne aber iibpr die Heilige selbst neue Aufschlüsse zu
geben. Nach den Titeln ist es sonst nicht ganz leicht wissenschaftlich fördernde
Schriften von bloßen Wiederholungen oder Legenden zu scheiden; die Darstellungen
häufen sich in übertriebener Weise. Annehmbare Zusammenfassungen scheinen zu
geben P. Gauihiex, S. Catherine de Siemie, Paris 1916, und etwa C. M. Antoui/,
S. Catherine of Siena, her life a7id times, Lond. 1916. Inedita bietet R. Fawtier,
Catheriniana , Mel. d'arch. et d'hist. 34, 1914. Einzelne Beziehungen fassen ins
Auge E. Laxxareschi, S. C. d. S. ed i Lucchesi und 8. C. d. S. in Val d'Orcia, Flor.
1912 u. 15, sowie N. Zucchelli ed E. Laxxareschi S. C. d. S. ed i Pisani, Flor. 1917.
Die übrigen Schriften dürften mehr legendarischen Charakter haben ^).
Aus dem kirchlich und bald auch politisch gespaltenen Deutsch-
land konnte keine Lösung der schismatischen Irrung hervorgehen. Wie
das Reich davon in Mitleidenschaft gezogen wurde, darüber wird man
sich heute zunächst in dem letzten Teil von A. Haucks Kirche^i geschickte
Deutschlands V, 2, Leipz. 1 920, unterrichten, auf den hier deshalb kurz
vorausgewiesen werden muß. Die Darstellung ist da über das Kon-
stanzer Konzil bis zum Erliegen des Hussitentums geführt. Das große
Werk wenigstens bis zu dem tiefen Einschnitt der Reformation zu voll-
enden, hat der Tod (7. Apr. 1918) dem unermüdlichen Gelehrten versagt.
Wenzels von Lindner nur einleitungsweise behandelte hoffnungs-
vollere Anfänge, die P. Kluckhiüm, Wenzels Jugendjahre bis zum Antritt
seiner Regierung 1378 im Rahmen der Politik seines Vaters Kaiser
Karls IV., Diss. Hall, 1914, mit solider Feststellung des Tatsächlichen,
auch zwei Regestenanhängen behandelt hat, wichen bald schwerer Ent-
täuschung. Daß der König nach dem Vorbilde seines Vaters auf das
Zustandebringen zahlreicher Landfrieden im Reiche immerhin noch viel
Mühe verwandte, wie E. Asche, Die Landfrieden in Deutschland unter
König Wenzel, Diss. Greifs w. 1914, zeigt, konnte den wachsenden Un-
frieden doch nicht hintanhalten; mit der Entfernung von seinen Haus-
machtgebieten nahm auch hier sein Einfluß ab und an manchen Sonder-
landfrieden war Wenzel überhaupt nicht mehr beteiligt. Merkwürdiger-
weise ist gerade aus seinen Jahren (um 1396) noch eine Aufzeichnung
auf uns gekommen, die im florentiniscben, lucchesischen, volterranischen
und sienesischen Gebiet die Ländereien und Burgen aufzählt, die vom
Imperium abhingen, — also eine Zusammenfassung alter Reichsrechte
zu einer Zeit, in der solche Ansprüche nur noch ein leerer Name waren.
Darüber handelt mit Edition des Stückes A. Sorhelli, La „Notitia status
Hetruriae" ed il tempo della sua comiwsizione , Mem. d. R. Accad. d.
Scienze d. Ist. d. Bologna. Sez. stor.-fil., Serie II, Bd. 1, Bol. 1917.
Seinem Gegenkönige Ruprecht v. d. Pfalz fehlten von vorn-
herein die Mittel für eine großzügigere Politik. Eben zu seinen Finanzen,
dem schwächsten Punkt seiner Herrschaft, wie sehr er sich auch um
deren Gesundung bemühte, liefert einen Beitrag W. Sehring, Die finan-
1) Bemerkenswert vielleicht noch St. Maconi, S. C. d. S. d'apres u)i ms. italien
du XV. siede, Par. 1919. Sonst notierte ich Lebensbilder von Bertha Pelikan, Innsbr.
1914; O. Salatiello, Pal. 1915; /. Joergetzsen, Kopenh. 1915; Helene Riesch, 2., 3. Aufl.
Freib. i. B. 1916; V. Messeri, Flor. 1916.
121
ziellen Leistungen der Reichsstädte unter Ruprecht v. d. Pf ah, Diss.
Greifsw. (= ISaraml. wiss. Arb. 3G), Langensalza 1916. Die regel-
mäßigen iSteuern der Reichsstädte waren unzulänglich; außerordentliche
Leistungen aber von ihnen einzutreiben, wie Karl IV. und nachher
Sigmund verniuchten, dazu fehlte Ruprecht der Druck der Macht.
Zur Vorgeschichte des Pisaner Konzils von 1 409, das bei allem
guten A\'illen am Ende die Verwirrung durch Erhebung eines dritten
Papstes nur steigerte, erhalten wir eine dankenswerte VerötFentlichung
ungedruckten Quellenstoffes von 0. Günther, Zur Vorgeschichte des Konzils
von Pisa; unheJcannfe Schriftstüche aus einer Danzigcr Hs., N. A. 41,
1919. Aus einer umfangreichen tSammlung von Schriftstücken werden
da offizielle Schreiben, eine Schmähschrift gegen den Kurialen Rother
Balhorn, der Traktat des Antonius de Butrio in vollständigerer Fassung,
eine Gesandteninstruktion usw., alles aus d. J. 1 408, mitgeteilt ^).
Wie sich die englische Politik Heinrichs IV. allmählich von der
römischen Obödienz her den Unionsbestrebungen zuwandte und dadurch
mit der französischen vorübergehend auf dieselbe Linie geriet, schildert
H. Jimghanns, Zur Geschichte der englischen KirchcvpoUtik 1899 — 1413,
Diss. Freib. i. B. 1915, in solider, etwas am Einzelnen haftender Dai'-
stellung. Aber auch den inneren kirchlichen Verhältnissen Englands,
die durch ihre sichere nationale Geschlossenheit dem Staate erlaubten,
den schismatischen Wirren, nur wenig berührt, eine Weile zuzusehen,
wendet er seine Aufmerksamkeit zu. Man erntete damals die Früchte,
die in den letzten Jahrzehnten im Zusammenwirken des Hauses der
Gemeinen mit der Reformbewegung Wiclifs herangereift waren.
Von den Werken Wiclifs liegen jetzt 40 gedruckte Bände vor,
deren Stoff namentlich von der englischen Geschichtsforschung noch
wenig ausgebeutet ist-). B. L. Mannings iSchriit: The people's faith in
ihe time of Wyclif, Cambr. 1917, bietet für sein Thema eine gute, aber
populäre Zusammenfassung, in der er die zeitgenössischen Quellen viel-
fach selbst zu Worte kommen läßt. Wissenschaftlich sucht J. Loserth
in immer neuen Abhandlungen die Erkenntnis Wiclifs, seiner Schriften
und seiner Zeit zu fördern ^).
Wie gänzlich von dem englischen Reformator Johann Huß ab-
hängig ist, war längst bekannt und wird noch durch immer weitere
1) Vgl. Änt. dcllo Schiavo, II diario romano dal 19. ottobre 1404 al 25. seit.
1417, hr.sg. V. Fr. Isoldi (Rer. it. Script. 158/4), Bol. 1917.
2) Besprechung seiner kiicheiipolitiscben Schriftea durcli Maihilde Uhlirx, M.
I. ö. G. 3Ü. ;{7, 1915. 1917.
3 So: Zur Kritik der Wiclifhss. und Neuere Erscheinungen der Wiclif- und
Hiißliteratur in Z. d. deutsch. V. f. d. Gesch. Mähr. u. Öchles. 2(i, 191G; Joh. r. Wicl.
u. Ouilelinus Pcraldus, Studien %. Oesch. der Entstehung ron W.s Summa Theologiae,
S. B. d. Wien. Ak. 180, 1916; Die kirchenpol. Schriften W.s u. der englische Bauern-
außtand v ViSl, M. 1. ö. G. 38, 1919. Vgl. aucii F. Pijper, Joh. Wiclif, Nederl. Arch.
f. Kerkge.sch., N. S. 12, 1914. Von der Königsb. Diss. von P. Ocxipica, Die literari.schcn
Widersurher Wiclifs u. der Lollarden in England, 1915. erschien nur Inhaltsangabe
und Bibliographie; die Arbeit selbst wurde vor dem Druck durch den Kusseneinfall
vernichtet.
!22
Entlehnungen erhärtet. Der Jahrhunderttag seines Glaubenstodes konnte
nicht vorübergehen, ohne zahlreiche Schritten hervorzurufen. Soweit sie
populären Charakter tragen, werden sie für die Forschung kaum in
Betracht kommen ^). Gründliche Forschung und Unvoreingenommenheit
zeichnen aus das in tschechischer Sprache geschriebene Buch von J. Sedldk,
Mag. Jan Hus, 1915 mit ungedruckten Texten im Anhang -). Fr. Mat-
thaesms, Der Auszug der deutschen Studenten aus Prag 1409, Mitt. d.
V. f. Gesch. d. Deutsch, i. Böhm. 52. 53, 1914. 15, behandelt eingehend
diesen mit Huß' Leben eng verknüpften Vorgang. Nicht durch das
Gedenkjahr, sondern durch die Vorarbeit für seine Kirchengeschichte
Deutschlands veranlaßt sind A. Hauchs bedeutsame Studien zu Johann
Huß, Univ. -Progr. Leipz. 1916, welche die in der Kirchengeschichte
daraufhin vorgetragene Auffassung begründen.
Sie bestimmen den Grad seiner Abhängigkeit von Wiclif und schildern den böh-
mischen Magister selbst als asketisch gerichteten Katholiken, der nur im Angriff auf
Ablaß und Papsttum über die gebotenea Grenzen hinausging, als Ketzer wider Willen
imd Bewußtsein, als Opponenten und Kritiker, nicht positiven Reformator von eignen
Ideen, als selbstbewußten nationaltschechischen Agitator voll Kraft und Mut, aber ohne
Wahrhaftigkeit, ohne sittlich hochstehenden Charakter und jene Größe, die das eigne
Ich in der verfochtenen Sache aufgehen läßt. Wohlwollend ist diese stark subjektive
Beurteilung, soweit das Persönliche in Betracht kommt, zum mindesten nicht; ob sie
das Wahre trifft, muß sich erweisen. Zunächst kann man sich des Eindrucks nicht
ganz erwehren, daß ein gut Teil dieser gelehrten Bemängelungen federleicht wiegt
gegenüber dem Heroismus des Märtyrertodes für die unbeugsame Überzeugung. Und
wenn Hauck aus H.s Wesen herleitet, daß er gewirkt habe, „wie ein düsterer Feuer-
brand, der befleckt, indem er zerstört", so mischen sich wenigstens für die Folge-
wirkungen mit diesem Brande seines Innern die Flammen seines Scheiterhaufens.
iT. S'iegl, Briefe und Urkunden zur Geschichte der Hussitenkriege,
7i. d. deutsch. V. f. d. Gesch. Mähr. u. Schles. 22, 1918, vereinigt zer-
streut gedruckte Aktenstücke mit unveröffentlichten zu einer nützlichen
Sammlung. Die Hussitennot war es, die 1427 in Deutschland den Ver-
such zeitigte, das ßeichskriegswesen auf die festere Grundlage bestimmter
Geldsteuern zu stellen. Das ist im einzelnen dargetan von A. Werming-
hoff, Die deutschen Beichskriegssteuergesetze von 1422 und 1427 und
die, deutsche Kirche, Beiträge zur Geschichte des deutschen Staatskirchen-
rechts, Z. f. R. 36, k. A. 5, 1915 (stark erweiterter Abdruck Weim. 1916).
Für das J. 1422 ist W. allerdings dadurch irregetührt worden, daß
Kerler und seine Nachfolger später aufgestellte Listen und Anschläge
für ein ßeichskriegssteuergesetz von 1422 hielten. Daß es ein solches
niemals, nicht einmal im Entwürfe gegeben hat, dafür hat H. Herre
(f 1921), Das Beichskriegssteuergesetz von 1422, Bist. Viert. 19, 1919
den schlagenden Nachweis geführt, dem auch Werminghoff, H. Z. 121,
S- 167, zugestimmt hat.
1) So deutsche Darstellungen von jV. Eatcri und 0. v. Schaching; ich nenne
weiter die englische von W. N. Seliwarxe, Hus the martyr of Bohemia, Lond. 1915;
die amerikanische von D. S. Schaff, Bus, his life, teachwgs and death, Lond. 1915;
vgl. auch ders. , A spurious aecount of Hus' journey to Constance , trial and death,
Amer. Journ. f. Theol. 1915; die holländische von F. Pijper, Hus, Ned. Arch. f.
Kerkgesch. 13, 1915; die italienische von M. Rossi, Giov. Huss, Turin 1915.
2) Vgl. das Urteil von J. Loserth, M. I. ö. G. 37, 1917.
123
Das große Kon Stanzer Konzil, von dem der hussitische Brand
seinen Ausgang genommen hatte, ist auch während der letzten Jahre
nach wie vor im Mittelpunkte lebhafter Forschung gestanden. H. Fhiice
ist zwar an der Wiederaufnahme der Aktenherausgabe durch die Fortfüh-
rung seiner Aragoneser Studien noch behindert gewesen, hat aber über
den Stand des gesamten vorhandenen Quellenmaterials dafür in der Z. f.
Gesch. d. Oberrh., N. F. 31, 1916, einen wertvollen Überblick gegeben
und in dem Aufsatze: Das hadisehe Land und das Konstanzer Konzil,
Festg. der bad. bist. Komm. z. 9. Juli (60. Geburtst. Großh. Fried. II.) 1917,
seine frühere Darstellung vielfach vertieft. J. Riegel veröffentlichte eine
Vorarbeit für die Ausgabe der Teilnehmerverzeiclmisse, 7i. d. Ges. f. Beförd.
d. Geschichtsk. v. Freib. usw. 31, 1916. A. Lenne, Der erste literarische
Kampf azif dem Konstanzer Konzil im Nov. u. Dez. 1414, Rom. Quar-
talschr. 28, 1914, untersuchte die frühen Aktenstücke über die Stellung
zum Pisaner Konzil und die Superioritätsfrage und konnte da die Tätig-
keit des Kardinals P. d'Ailly in neue» Beleuchtung zeigen ^).
Die in Konstanz 1415 vorgenommene Belehnung des Hohenzollern
Friedrich I. mit der Mark Brandenburg hat neben Erinnerungsfeiern
auch zahlreiche Schriften hervorgerufen, die aber den Vorgang nur in
größeren Zusammenhang einreihen, ohne zu neuer Erkenntnis beizutragen.
Von wissenschaftlichem Werte ist nur die Arbeit von J. v. PßugJc-
Harttung , Die Eriverbung der 3Iark Brandenburg durch das Haus
Hohenzollern, Forsch, z. brand. u. pr. Gesch. 29 u. 31, 1916 u. 1918, wa
insbesondere die Huldigung in der Mark quellenkritisch untersucht wird.
Auch die östlichen Verhältnisse jenseits der Oder spielten auf dem
Konstanzer Konzil eine Rolle. Der erste Thorner Friede von 1411
hatte nicht einen Austrag in den Streitigkeiten zwischen dem Deutsch-
orden und Polen gebracht, sondern sie zum Dauerzustand gemacht.
H. Bellee, Polen und die römische Kurie in den Jahren 1414 — 24,
Osteurop. Forsch. 2, Berl. J914, schildert die schiedsrichterlichen Schlich-
tungsversuche, die vom Konzil, vom Papst und Kaiser immer vergeblich
angestrebt wurden, und die politischen Interessen, die sich dabei kreuzten ^j
Für dea Orden war in den entscheidungsvollen Jahren 1403—19 Peter von
"Wonndith Generalprokurator beim päpstlichen Stuhl und führte als solcher auf dem
Konstanzer Konzil die preußische Sache. P. Nieborowski, Peter von Wormdith. Ein Bei-
trag %ur Gesch. des Deutschordens, Bresl. 191.5 (außen 191G) hat ungedrucktes Wiener
und Königsberger Material verarbeitet, worunter die Königsberger Frokuratorenbriefe
auch für die Konzilsgeschichte wertvoll sind. Der ßegestenaiihang ist daher nützlich.
Nur hat der Verf. hier, in den Beilagen und der Darstellung seinen reichen Stoff
nicht mit wissenschaftlicher Methode und Genauigkeit zu behandeln verstanden ").
1) Vgl. P. B. Katterbach, Der zweite literarische Kampf auf de?n Konstanxer
Konxil im .Jan. u. Febr. 1415, Fulda 1919; ferner G. Zonta. Francesco Zaburella
1360-1417, Päd. 1915.
2) Vgl. A. Bexxenberger, Der Werdegang des litauischen Volkes, Viert, f. Soz. u.
Wirtsch. 13, 191(i, wo die Beziehungen zu Polen und dem Deutschorden im 14. u.
15. Jh. eine erhebliche Rolle spielen.
3) Das Mariaibnrger Jbnterbuch, hrsg. v. W. Ziescmcr, Danz. 1916, .schließt
sich als dankenswerte Quellenpublikation den ähnlichen früheren Veröffentlichungen
des Herausgebers an. In die fiühere Geschichte des Deutschordens greift ein die
]24
Eine auf dem Konzil erledigte Aufgabe des Ostens war die Gründung eines Bistums
in Samaiten, das dem Orden 1411 verloren gegangen war und nun christianisiert
werden sollte, um den Deutschherren jeden weiteren Vorwand zum Eingreifen zu
nehmen. Die Gründungsurkunde v. 24. Okt. 1417, die über die in Konstanz geführten
Verhandlungen Auskunft gibt, wurde von deutschen Soldaten unter den verwahrlosten
Beständen des Diözesanarchivs in Kowno aufgefunden. W. Holtxmann, Die Gründung
des Bistums Sainaiten, Z. f. Gesch. d. Oberrh., N. F. 32, 1917, hat sie mit Erläute-
rungen veröffentlicht.
Wie stark die politischen Interessen der westeuropäischen
Staatenwelt den Gang der Konzilsverhandlungen bestimmt haben, ist
hinlänglich bekannt ^). Ganz unter dem Einfluß jener großen Spaltung,
die damals auch die französische Nation in zwei Lager zerriß, stand
der auf Antrag Gersons vor der Gluubenskoramission sich abspielende
Prozeß über die von Johann Petit vertretene Lehre vom Tyrannenmord 2)^
die 1413 durch ein Pariser Glaubensgericht verurteilt war. Burgund
und Orleans rangen hier miteinander. Diesen Prozeß hat B. Beß, Die
Lehre vom Tyrannenmord auf dem Konstanzer Konzil, Z. f. Kirchengesch.
36, 1915/16, eingehend und sorgfältig verfolgt.
Wenn schließlich das Pariser Urteil aufgehoben wurde, die Appellation von der
Kommission an das Gesamtkonzil aber nicht mehr zur Entscheidung kam, so waren
kirchenpolitische Gesichtspunkte dafür in erster Linie maßgebend. Insbesondere aber
war die anfangs vorherrschende orleanistische Partei ^) in eine Minderheitsopposition
gedrängt, seitdem König Sigmund auf seiner denkwürdigen Reise im Westen seine
Schwenkung zu England und Burgund vollzogen hatte.
Das von C. L. Kingsford, An historical collection of the 15. Century,
Engl. bist. Rev. 29, 1914, mitgeteilte Stück einer bisher ungedruckten
englischen Chronik bis 1418 aus der Bibhothek des Marq. von SaUsbury
in Hatfield ist für uns besonders wegen des neuen Berichts von Sig-
munds Besuch und Verabschiedung in England beachtenswert. Nicht
mehr an diese Vorgänge heran reicht J. H. Wylie, The reign of Henry V.,
ausführliche Arbeit von W. Orünberg, Der Ausgang der pommerellisehen Selbständig-
keit, Eberings Hist. Stud. 1'28, Berl. 1915, wo die Geschicke dieses Landstrichs vom
ersten Versuche der brandenburgischen Markgrafen, sich dort festzusetzen (1269) bis
zur Eroberung durch den Deutschorden und den letzten polnischen Versuchen zur
Rückerlangung in dem großen Prozesse von 1320/21 dargestellt sind. Im 2n. Bande
der Z. f. ermländ. Gesch. 1919 beginnt der Abdruck der Köuigsb. Diss. v. H. Schmauch,
Die Besetxmig der Bistümer im Deutschordensstaate bis %. J. 1410. Vgl. auch A. Wer-
minghoff. Die Urkunden lAidicigs d. B. für den Hochmeister des Deutsehen Ordens
«;. J. 1337, Arch. f. Urk. 5, 1914.
1 ) Vgl. K. Dieterle, Die Stellung Neapels und der großen italienischen Kommunen
xum Konstanter Konzil, Rom. Quartalschr. 29, 1915. Hier notiere ich auch: 0. dalla
Santa, Uomini e fatti deW ultimo trecento et del primo quattrocenio , da lettere a
Oiovanni Contarini, patrizio venexiano, studente a Oxford e Parigi , poi patriarca
di Cotistantiitopoli, Vened. 1916.
2) 0. Cartellieri, Beiträge zur Geschichte der Herzoge von Burgund V: Frag-
mente aus der zweiten „ lustifieation du duc de Bourgogne " des Magisters Johann
Petit, S. B. d. Heid. Ak. 1914, druckt einen größeren Teil dieser gegen den Abt
Thomas von Cerisi gerichteten Entgegnung Petits, auf die Coville hingewiesen hat,
mit eingehenden Erläuterungen ab.
3) Vgl. A. Coville, Valentine Visconti et Charles d' Orleans, Joum. d. Sav.,
N. S. 12, 1914. Zu den orleanistisch-burgundischen Auseinandersetzungen: L. Mirot,
Auiour de la paix d'An-as (1414 — 15), Bibl. de TEc. d. Ch. 75, 1914 (einige unge-
druckte Ergänzungen zu der Arbeit von 0. Cartellieri 1913).
125
Bd. 1: 1413 — 15, Cambr. 1914. Der durch sein vierbändiges Werk über
Heinrich IV. rühmlich bekannte Verf. hat hier in gleich gründlicher
Weise die Regierung seines Nachfolgers, für dessen Jugendentwicklung
es die duich Shakespeare weltbekannte Auffassung im wesentlichen be-
stätigt, zu behandeln begonnen, aber der Tod hat die Vollendung unter-
bunden. R. B. Moivat, Henry V., Lond. 1919, andrerseits hat eine lesbare
und im ganzen brauchbare Gesamtdarstellung geliefert, die aber die
Forschung nicht erheblich weiterführt.
Verfolgen wir von hier aus die französisch -englische Geschichte
durch das Jahrhundert weiter ^), so stoßen wir alsbald auf die immer
üppiger ins Kraut schießende Literatur über Jean ne d'Arc, die Jung-
frau von Orleans. Soweit sie durch die römische Kanonisation der einst
als Hexe verbrannten angeregt wurde, kommt sie wissenschaftlich wenig
in Betracht 2).
Deutscherseits hat 11. Priäx dem Gegenstände die beiden Abhandlungen: Die
Briefe Jeanne d'Arcs, Müncli. 1914. und Neue Studien xur Geschichte der Jungfrau
von Orleans, Müncli. 191(5 (S. B. d. Münch. Ak.) gewidmet. Von französischen Forschern
versuchen etwa J. Fahre, Les bourrcaux de J. d'A. et sa fete nationale (Notizen über
die bei dem Prozeß mitwirkenden Persönlichkeiten), Par. 1915, und J. E. Choussy,
J. d'A. Fai/sse lettre, tJraie mission, Moulins 1915 (Anzweiflung des Briefes vom
22. März 14-29 an den englischen König und seine Truppenführer als Fälschung) ein-
zelne Punkte zu fördern, — alles das anscheinend ohne Erheblichkeit. Ein umfang-
reicheres Werk ist E. J. B. Jansen, Gesehiedsvervalsching 1 Jeanne d'Arc, Leiden 1919.
Die Oberhand über den englischen Feind gewann Frankreich recht
eigentlich doch erst, als es gelang, dessen mächtigen burgundischen
Bundesgenossen durch große Zugeständnisse zum Sonderfrieden zu be-
wegen. Darüber hat Friedr. Schneider, Der europäische Friedenskongreß
von Ärras (]435) und die Friedenspolitik Fapst Eugens 1 V. und des
Basler Konzils, Greiz 1919, eine eindringliche, die Bedeutung des Kon-
gresses in das rechte Licht setzende Monographie mit reichen Akten-
beigaben veröffentHcht. Die furchtbaren Zustände, die nach all den
verheerenden Feldzügen gegen die Mitte des Jahrhunderts in Frank-
reich herrschten, malt in eindrucksvollen Farben Jah. Burckhardfs Habi-
litationsvoriesung von 1844: Über die Lage Franlireichs zur Zeit des
Armagnakenzuges IdM, die erst jetzt in seinen Vorträgen, Bas. 1918,
gedruckt ist. Aber auch England hatte den unglückHchen Abschluß
des französischen Krieges mit schweren inneren Wirren zu büßen '^).
R. B. Mowat, The Wars of the Roses 1377— 1471, Lond. 1914, gibt
1) Zur Regienang Karls VI. vgl. L. Mirot, Lctfres closes de Charles VI. (1883
bis 1422), Moyen age 29. 30, 1917/18, 1919.
2) Dahin dürften gehören die Darstellungen von E. M. Wilmot - Biixtoyi , Lond.
1914; P. Girattdet, Lyon, Par. 1915; M. Jepsen, Kopenh. 1915; Anna Linck, Kopenh.
1915; C. Wallis, Stockh. 1917; P. Esiailleur - Chanteraine , Par. 1919; D. Lgnch,
New York 1919; auch wohl L. Bloy, Jeanne d'Arc et V Allemagne, Par. 1915. Nicht
recht hinbringen kann ich nach dem Titel : 0. de Girry, La snrvirance et le niariage
de J. d'A., Par. 1914. Eine Materialzusammenstellung scheint J. Dupont, J. d'A.
d'aprhs scs propres dcelarations. Les depositions juridiques de tanoins de sa -ne.
Les ecrits de ses contemporains, Par. 1916.
3) Vfil. für diese Zeit auch Calendar of Entrics in the Papal Registers relating
to Oreat Britain aml Ireland : Papal Letters X 1117—1455 ed J. A. Twcnilotc.
12(3
darüber eine verständige, meist kompilatorische Darstellung, soweit die
militärisch-politischen Aktionen in Betracht kommen ^). Die Begründung
der neuen starken Monarchie beginnt er schon mit Eduard IV. Ä. F. Pol-
lard, The reiyn of Henry VII. front contemporary sources, Bd. 3, Lond.
1914, bringt den Beschluß dieses als sichere Grundlegung aus den
Quellen geschätzten Werkes '^), während Gl. Temperley , llie life of
Henry VII, Boston 1914 (Lond. 1918), eine knappere populäre Zu-
sammenfassung desselben Themas in einem Bande vorlegt.
Die langewährende innere Zerklüftung der Weststaaten auf der
einen Seite und die Lähmung des deutschen Reiches auf der anderen
waren die Vorbedingungen für den kurzen, aber glänzenden Aufstieg
des neuburgundischen Reiches. Eine knappe Übersicht über
seine Geschichte von der Begründung durch Philipp den Kühnen bis
zum Tode Kaiser Karls V. findet man in dem Aufsatze von 0. CarteUieri,
Wie das Heutsclie Eeicli die Niederlande verlor, Grenzboten 74, .1915 ^).
Zu seiner Hochblüte gelangte der Zwischenstaat unter Philipp d. Guten.
J. I). Hintuen, I)e Kruistochtplannen van Fhilips den Goede, Leydener
These, Rotterd. 1918, behandelt die für einen Augenblick stark in den
Vordergrund tretenden Absichten einer großen Gegenaktion gegen die
Türken'^). Die Einnahme von Konstautinopel, die dazu den Anstoß
gab, ist von G. Schluniberger, Le siege, la prise et le sac de Constan-
tinople par les Turcs en 1453, Paris 1914, auf das genaueste nach den
Quellen dargestellt worden. Viel ungedrucktes, allerdings nicht ohne
zahlreiche Fehler wiedergegebenes Material über die weiteren antitürki-
schen Kreuzzugspläne findet man bei N. Jorga, Notes et extraits pour
servir ä Vliistoire des croisades au XV. siech, 4. serie (1453 — 76) u.
5 ser. (1476 — 150U), Bukarest 1915. Schwierigkeiten von französischer
1) Vgl. die kurze Darstellung von M. E. James, Heiiry the Sixflt, Cambr. 1919.
2) Vgl. Calendar of patent rolls Henry VII., Bd. 1, 1485—94, Lond. 1914.
3) Vgl. auch diese Dinge in noch weiterem Zusammenhang betrachtet bei K. Ilampe,
Belgiens Vergangenheit n. Gegenicart, 2. Aufl., Leipz.-Beil. 1916.
4) Über deren Emporkommen und Vordringen in Europa sei hier einige Literatur
vermerkt. H. A. Gibbons, The foundation of the Ottoman Empire; a history of the
Osmanlis zip to the death of Bayexid I. (i;300— 1403), Lond, 1916 (mit reicher Bibüo-
graphie) wird, obwohl vielfach ungenau und unkritisch, im ganzen als wertvoll gelobt.
Der 1918 verstorbene C. Jiricek konnte von seiner auf der Höhe der Forschung
stehenden Geschichte der Serben noch die erste Hälfte des 2. Bandes, Gotha 1918,
vollenden, die natürlich auch zur Geschichte des Osmanenreiches wesentlich in Betracht
kommt. Stark auf Jiriceks Studien beruht die knapp gefaßte, aber auch neue For-
schungen verwertende Geschichte der Bulgaren von ]V. X. Slatarski und A. Staneff,
2 Bde.. Leipz. 1917/18, von denen der 1. Bd. bis lb96 reicht, der 2. Bd. nur kurz die
folgende Türkenherrschaft streift. Vgl. auch L. Thallöcxy, Studien x-. Geschichte
Bosniens und Serbiens im MA., deutsche Übersetz., Münch. 1914; nur erst die frühe
Zeit behandelt F. i\ Sisic , Geschicide der Kroaten, Agram 1917. Von den Acta et
diplomata res Albaniae mediae aetatis iUustrantia erschien Bd. 2, Wien 1918.
G. Schluniberger, Un empereur de Byxance ä Paris et ä Londres, Par. 1916, betrifft
die Reise des Kaisers Manuel Paläologus ins Abendland 1399—1403. In die Türken-
kämpfe der Ungarn versetzt uns II. Schönbaum, Das Zeitalter der Ilunyadi in poli-
tischer und kulturgeschichtlicher Bedeutung, Bonn 1919 (von der Kritik als eine recht
mäliige Leistung beurteilt). Vgl. auch W. Miller, The Genoese in Chios 1346— 15B6,
Engl. hist. ßev. 30, 1915.
127
Seite haben für Philipp den Guten die persönliche Ausführung des
Zuges, den er nach Hintzen ursprünglich ernstlich beabsichtigte, ver-
hindert.
Unter seinem Sohne Karl d. Kühnen traf eine starke Überspannung
der Herrschaftsziele im Innern und nach außen zusammen mit dem
Schwinden der bisher für Burgund so günstigen Konjunktur auf beiden
Seiten. Hier die Gegenwirkungen des erstarkenden Frankreichs unter
Ludwig XL, die von A. C. P. Haggard, Louis XI. and Charles the
Sold, New York 1916, dargestellt sind. Dort die werdende habsburgisch-
spanische Weltmacht. Wohl nahm Burgund an deren Entstehen selbst
fördernden Anteil, und E. Dürr hat unter Benützung namentlich neuer
Funde im Mailänder Staatsarchiv ^) in der Abhandlung: Ludwig XL,
die aragonesisch-kasl manische Heirat und Karl d. Kühne, M. 1. ö. G.
35, 1914, gezeigt, wie der französische König mit allen Mitteln, aber ver-
geblich, gegen die Einigung Spaniens ankämpfte und dann nicht einmal
dessen Verbindung mit Burgund hindern konnte -). Jedoch der Unter-
gang Burgunds als eines selbständigen Zwischenstaates war durch seinen
Anschluß an die Weltmacht, der die nächste Zukunft gehörte, gleich-
wohl besiegelt.
Kehren wir von dieser vorgreifenden Ausschau über den Westen
Europas zu ihrem Ausgangspunkte, dem Konstanzer Konzil zurück und
fragen nach dem Schicksal der Kirchenreform an Haupt und Gliedern,
die dort doch vornehmlich zur Erörterung gestanden hatte, so gewinnen
wir tiefe Einblicke in dem ausgezeichneten Werke des leider verstorbenen
W. V. Hofmann, Forschungen zur Geschichte der hurialen Behörden vom
Schisma bis zur Reformation, das aus einer von Tangl angeregten Ber-
liner Dissertation erwachsen und in d. Bibl. d. preuß. bist. Inst. i. Rom
Bd. 12 (Darstellung) u. 13 (Texte), Rom 1914, erschienen ist.
Erst die Unordnungen und Anforderungen des Schismas haben die Mißstände
der kirchlichen Verwaltung teils neu geschaffen, teils so gewaltig gesteigert, daß der
Ruf nach Reform zu einem Haupthebel der konziliaren Bewegung wurde und seitdem
nicht wieder verstummte. In diesem auf gründlichsten archivalischen Studien be-
ruhenden Buche wird nun der Versuch gemacht, ,.an der Geschichte eines der großen
Behördenzweige, der päpstlichen Kanzlei, unter Heranziehung paralleler Erscheinungen
in den übrigen Behörden ") die inneren Gründe aufzudecken, weswegen es trotz aller
Reformversuche nicht gelang dem Auflösungsprozeß Einhalt zu tun". Es wird so
eine sichere Grundlage für die Beurteilung geschaffen, die sich jeder konfessionellen
Einseitigkeit entzieht. "Wir erkennen, dal? selbst gutgemeinte Ansätze, wie gleich
unter Martin V. ■•), aber auch weiterhin, es bestenfalls zu einer vorübergehenden Erholung,
nicht zu einer Gesundung des kranken Riesenkörpers bringen konnten, weil, ganz
abgesehen von den tausend und abertausend wohlerworbenen Rechten, die sich dawider
setzten und nicht so leicht abgefunden werden konnten, z. B. der Ämterkauf, die
Hauptwurzel des Übels, nicht zu beseitigen war, ohne das gesamte Finanzsystem zu
1) Vgl. Depeches des ambassadeurs milanais en France sous Louis XT. et
Fran^ois Sforza publ. p. B. de Mmidrot, Bd. 1 (1461—63), Par. 1916.
2) Vgl. ders., Karl d. Kühne und der Ursprung des habsburgisch- spanischen
Imperiums, H. Z. 113, 1914.
3) Vgl. Ego7i Schneider, Die römische Rata I: Die Verfassung der Rata, Päd. 1914.
4) Vgl. N. Mengoxxi, Papa Martino V. ed il co?icilio ecumenico di Siena,
Siena 191Ö.
128
erschüttern, und weil der neu erwachsende Absolutismus des Papsttums sich neben
den alten Behörden , in denen wenigstens die überlieferte feste Ordnung leicht zu
überwachen gewesen wäre, neue Organe schuf, in denen geflissentlich der Willkür
Raum gelassen wurde, um dem päpstlichen Willen eine schrankenlose Bahn offen zu
halten. Wieviel Erkenntnis innerhalb dieses Rahmens das Buch im einzelnen ver-
mittelt, kann hier nicht weiter dargelegt werden.
In die Sphäre des Baseler Konzils führen uns einige Arbeiten,
die als schätzbare Beiträge anzusehen sind, ohne gerade erheblich Neues
zu bieten. Gertrud Weber, Die selbständige Vermittlungspolitik der Kur-
fürsten im Konflikt zwischen Papst und Konzil 1437 — 38, Eherings
Hist. Stud. 127, Berl. 1915, stellt die in den Grundfragen unklare und
darum notwendig ergebnislos verlaufende Kurfürstenaktion jener Jahre
dar^); die beiden Nürnberger Reichstage des Jahres 1438 sind in den.
Deutschen Reichstagsakten 13, 2: König Albrecht IL, 1. Abt., hrsg. v.
G. Beckmann, Gotha 1916, behandelt; R. Scholz veröffentlicht Eine
humanistische Schilderung der Kurie aus dem Jahre 1438, Qu. u. Forsch,
aus it. Arch. 16, 1914, die in lebendiger Dialogform von dem Humanisten
Lapo verfaßt ist ^) ; P. Haas, Das Salvatorium Papst Eugens IV.
(1431—47) vom 5. Febr. 1447, Z. f R. 37, k. A. 6, 1916, bespricht die
Bulle „Decet Romani pontificis", durch die der mönchisch gesinnte
Papst, von der Notwendigkeit der päpstlichen Alleinherrschaft überzeugt,
kurz vor seinem Tode die damals abgeschlossenen deutschen Fürsten-
konkordate mit den auf Grund des Mainzer Akzeptationsinstrumentes
gemachten Zugeständnissen insgeheim wieder aufhob, obwohl auch jene
Konkordate schon mehrdeutig formuliert waren, und charakterisiert diese
geheimen Schachzüge der dadurch nicht zum wenigsten siegreichen
kurialen Politik. An die vom Konstanzer und Baseler Konzil angestrebte
Ordensreform knüpft auch J. Zihermayr, Die Legation des Kardinals
Nikolaus Cusanus und die Ordensreform in der Kirchenprovinz Salz-
burg, Reformationsgesch. Stud. u. Texte 27, Münst. i. W. 1914, an. Be-
nediktiner, Augustiner Chorherren und Zisterzienser sind da besonders
berücksichtigt. Während der große Gelehrte hier in seiner praktischen
Wirksamkeit vor uns hintritt, beschäftigt sich E. Molitor, Nikolaus von
Cues und die Rechtsgeschichte, Z. f. R., g. A. 40, 1919, mit dessen rechts-
historischen Studien ^).
In der Geschichte der römischen Kurie zwischen den großen
Konzilien und der Reformation ist wohl das bedeutendste Moment der
Kampf des neu erstarkenden päpstlichen Absolutismus mit der
ohgarchischen Kardinalsopposition (vgl. oben S. 97). Von einer
1) Vgl. E. Gerber, Drei Jahre reiehsstädtischer, hauptsächlich Frankfurter Politik
im Rahmen der Reichsgeschichte unter Sigismund u. Albrecht 11. 1437-39, Diss.
Marb. 1914; P. Meyer, Studien über die teuerungsepoche von 1433—38, insbes. die
Hungersnot von 1437—38, Diss. Erl. 1914.
2) Vgl. E. Vacandard, The attempt at union between Greeks and Latins at the
Council of Ferrara-Florence 1438J39, Construct. Quarterly Jun. 1917.
8) Schon an der Grenze der Neuzeit bewegt sich der Aufsatz von E. Gothein,
Ulrich Zasius und das badische Fürstenrecht, der an die Landesordnung des Mark-
grafen Christoph von 1495 anknüpft (Festgabe der bad. hist. Komm. z. 9. Juli 1917,
60. Geburtstag v. Großh. Friedr. II.), Karlsr. 1917.
Wissenschaftliche Forschungsberichte VIT. 9
129
umfassenderen Arbeit von B. Arie, Beiträge zur Geschichte des Kardinal-
hoUegiums in der Zeit vom Konstanzer bis zum Tridentiner Konzil,
1. Hälfte 1417 — 84, Diss. Bonn 1914, sind leider nur geringe Bruch-
stücke gedruckt, die zunächst nützliche tabellarische Zusammenstellungen
über Zahl, Nationalität, Rangverteilung usw. und dann lür die Kardinals-
kreationen von 1419 — 30 brauchbare Personalnotizen im Anschluß an
Anlage und Reihenfolge von K. Euhels Uierarchia catholica medii aevi
bringen. W. Schürmeyer, Das KardinalsJcollegium unter Pius IL (1458
bis 64), Eherings bist. Stud. 122, Berl. 1914, schildert nach gedruckten
Quellen, namentlich den Komraentarien des Papstes ^), ohne wesentlich
Neues zu bringen, die damalige Tätigkeit, Stellung, Lebensweise und
Einkünfte der Kardinäle -'). Zu den bisher bekannten Wahlkapitulationen,
auf die sich die damaligen Päpste dem Kollegium gegenüber verpflichteten,
ohne sich nachher daran gebunden zu erachten, fügt U. Mannucci, Le
capitolazioni del Conclave di Sisto IV. (1471), Rom. Quartalschr. 29, 1915,
eine ungedruckte hinzu aus einem Codex mit Konklaveberichten des
15. u. 16. Jahrb., der sich im Archiv der unterdrückten Congregazione
Lauretana im römischen Palazzo della Dataria fand. Zur Geschichte
der letzten Päpste vor der Reformation sind nur kleinere Beiträge zu
verzeichnen •').
Das andere Moment von höchstem Interesse in der damahgen Ent-
wicklung der römischen Kurie ist ihre wachsende Durchdringung
mit dem Geiste der Renaissance. Hier mag uns der Brief-
wechsel des JEnea Silvio Piccolomini, des späteren Papstes Pius H., von
dessen 3. Abteilung Bd. 1 : Briefe als Bischof von Siena 1450 — 54,
hrsg. V. R. Wolkan (Font. rer. Austr. 68), Wien 1918 (mit 102 Inedita)
erschien, hinüberleiten zum italienischen Humanismus.
In einer Besprechung über neuere Literatur zu diesem Thema be-
klagt //. ÄnJcivicz-Kleehoven, M. I. ö. G. 38, 1919, daß eine eigentlich gene-
tische Geschichte des Humanismus nicht recht gefordert werde, weil der
Forschung Organisation und Methode mangelten, ganz abgesehen von
der vorläufig noch unmöglichen internationalen Zusammenarbeit. In der
Tat gehen die Leistungen über Editionen und Monographien einzelner
1) Vgl. das Schriftchen von G. B. Picotti, Sopra alcuni frammenti inediti de'
Commentari di Pio IL (Miscell. di studi storici in onore di G. Sforza), Lucca 1915.
2) Das Verhältnis des folgenden Papstes Paul II. (1464 — 71) zu der Heimat
seines Vorgängers behandelt N. Mcngoxxi, II pontefice Paolo II. cd i Senesi, Siena 1918.
3) Vgl. O. Portigliotti, Alexander VI c mortodi veleno? (Extr.de laRivista d'Ital.,
Rom 1915. H. Van der Liyiden, Alexander VI. and thc demarcation of the maritime
and colonial domains of Spain and Portugal 1493/4, Amer. hist. Rev. 22, 1916.
J. Schlecht, Pius III. und die deutsche Nation, Kempt. 1914, behandelt den Neffen
Pius' IL, der 1503 zwar nur wenige Wochen Papst war, aber als Kardinal und Pro-
tektor der deutschen Nation vorher über 40 Jahre gewirkt hatte. Vgl. auch liegesfen
xur Schtveixergeschichte aus den päpstlichen Archiven 1447 — 1513, H. 5: Innoxenx VIII.
1484-02; H. 6: Alex. VI 1402-1503 u. Pius III 1503, bearb. v. C. Wirx, Bern
191& u. 1918; ferner: E. Diamanti, Intorno ad una vita di Alessandro VI. e di
Ce^are Borgia, cmnposta nel secolo XVI, inedita e non ancora conosciuta, Veroli
1915; B. Fcliciangeli, Le proposte ^jcr la giterra contro i Turchi presentatc da Stefano
Taleaxxi vescovo di Torcello a papa Alcss. VI. Arch. stör, rom, 40, 1917.
130
Persönlichkeiten kaum hinaus ^); hier aber sind für die Geschichte des
Frühhumanismus, die allein für uns noch in Betracht kommt, einige
wertvolle Werke zu nennen.
Zunächst A. v. Martin, Coluccio Sahdati und das humanistische
Lehensideal, Beitr. z. Kult. 23, Berl.-Leipz. 1916, wo aus früheren Arbeiten
des Verf. über diesen typischen Vertreter der ersten Humanistengeneration
(t 1406) die Folgerungen gezogen werden -).
Man kann die Stellung des florentinischen Staatskanzlers zu seinen jüngeren
Freunden wohl etwa vergleichen mit der Alchwins am Hofe Karls d. Gr.; wie dieser
war er der allverehrte Lehrer, Anreger und Gönner, in dem aber die altüberlieferte,
kirchlich bestimmte Lebensauffassung noch sehr stark mit den Idealen der Zukunft
rang, so daß er noch nicht als der in sich geschlossene, harmonische Renaissance-
mensch erscheint, sondern als der schwankende und ringende Vertreter einer Über-
gangsepoche, und gerade diese konservativen Züge hat v. M. besonders hervorgehoben.
Erheblich anders stand der Welt gegenüber bereits der von Salutati
zuerst erkannte und geförderte Poggio Bracciolini (1380 — 1459); die
wissenschaftlichen und künstlerischen Werte der neuen Bildung waren
für ihn entscheidend , und ob daneben die religiösen und moralischen
der Vergangenheit, an denen freilich seine materielle Existenz als päpst-
licher Sekretär usw. doch bis zu einem gewissen Grade hing, für ihn
auch innerhch eine so erhebliche Rolle spielten, wie E. Walser neuer-
dings will, mag man bezweifeln. Im übrigen aber möchte ich dessen
Monographie Poggitis Florentinus, Lehen und Werke, Beitr. z. Kult. 14,
Berl.-Leipz. 1914, als eine bedeutendere und sehr anziehende Leistung
hoch einschätzen.
Kaum für einen anderen Privatmann des gesamten MA. besitzen wir so reiches
Quellenmaterial um sein Leben Schritt füi' Schritt zu verfolgen. "W. hat es noch
um 141 Dokumente und 120 andere Inedita, vornehmlich Briefe, vermehrt und baut
auf dem allen seine Darstellung auf, die in ihrer eindringlichen Sachlichkeit und bei
den vielseitigen Beziehungen Poggios uns eine deutliche Vorstellung von dem da-
maligen Humanismus Italiens erweckt und in guten wie in schlechten Eigenschaften
stets die scharf ausgeprägten Züge dieser in so mancher Hinsicht Voltaire vergleich-
baren Persönlichkeit zeigt.
Zum Freundeskreise Poggios gehören auch die Humanisten, deren
Kenntnis sonst in den letzten Jahren durch Veröffentlichungen gefördert
worden ist ^). Vom Epistolario di Guarino Veronese ^) , des Erziehers,
Übersetzers, Rhetors, der mit Poggio gelegentlich auch die literarische
Waffe gekreuzt hatte, erschien in der Ausgabe von B. Sahhadini der
starke zweite Band (Text), (Mise. d. Stör. Veneta 11), Vened. 1916;
1) Id Betracht kommt etwa Valeria Benetti-Brunelli , Le origini italiane della
scuola umanistica ovvero le fonti della „eoltura" moderna, Mail., Rom., Neap. 1919.
R. F. Arnolds Kultur der Renaissance in der Samml. Göschen ersclaien 1914 in 2. Aufl.
2) Vgl. auch die Ausgabe von Fr. Ercole, Tractatus de tyranno voti Col. Sal.,
Ein Beitrag x. Gesch. der Publ. u. des VerfasswigsrecJites der ital. Renaiss., mit
Geleitwort v. J. Kohler (Qu. d. Rechtsphil. I), Berl.-Leipz. 1914.
3) Vgl. R. Sabhadini, Le scoperte dei codici latini e greci nei secoli XTF e XV,
Bd. 2, Flor. 1914 (betr. Frühhumanismus in England, Deutschland, Frankreich, Italien).
4) In diese Zeit gehört auch G. Soranxo, Cronaca di anonimo vermiese (1446
bis 88) ed. la prima volta (in : Monum. stör, dalla r. deput. venet., ser. II : Cronache IV),
Ven. 1915; ferner: Matthei Palmerii, Liber de lemporibus ( — 1474) a cura di
G. Scaramella (Rer. it. script. 26), Cittä di Gast. 1915.
9*
131
L. Bertabt, Zwölf Briefe des Ämhrogio Traversari, Rom. Quartalschr. 29,
1915, ergänzte die reiche ßriefsamrnlung des humanistischen Camal-
dulensermönchs in der alten Ausgabe Cannetos von 1759 um ungedruckte
Stücke; R. Cessi behandelte kurz La vita politica cli Bartolomeo Guasco,
eines unbedeutenderen Humanisten jener Zeit, in Atti e Mem. d. R. Accad.
d. scienze etc. di Padova 32, Päd. 1916.
Wie verschieden war das Antlitz des damaligen Deutschland
von dem italienischen! Wenn auch der Humanismus bereits über die
Alpen zu wirken und vorgeschrittene Geister zu erlassen begann, wenn
auch bei den Bürgern der Städte Individualismus und Selbstbeobachtung
eine ganz andere Stätte fanden, als auf dem Lande, und im Anschluß
an die Notizen kaufmännischer Geschäftsbücher zu bemerkenswerten
Ansätzen der Selbstbiographie führten ^j, so lebte und webte man hier
doch viel ausschließlicher in religiösen Vorstellungen und Hoffnungen
sittlicher Reformen, „denn jedermann wolt gen himl'', wie Burkard Zink
einmal sagt. Das spiegelt sich auch in der heutigen Forschung wider.
Den frühen Humanisten wendet man nur geringe Neigung zu, und
wo Studien, wie die von E. König über Feutinger (l914:) vorliegen,
greifen sie doch schon in die Reformationszeit hinüber. Die Frage da-
gegen, wie es um das religiös-sittliche Leben des deutschen Volkes,
damals bestellt gewesen sei, wie sich darin Leistungen und Gebrechen
zueinander verhielten, erregt weitgehend Interesse, schon weil man da
von beiden konfessionellen Seiten aus hoffen darf, zur Beurteilung der
Reformation Luthers festeren gemeinsamen Boden zu gewinnen 2).
Man sucht auf verschiedene Weise den überreichen Stoff schrittweise
EU bezwingen. Zunächst durch Monographien über hervorstechendere
oder typische Persönlichkeiten. M. Bäiißler, Felix Fahri ans Ulm und
seine Stellung zum geistigen Leben seiner Zeit, Beitr. z. Kult. 15, Leipz.-
Beri. 1914, sucht mit gutem Erfolg Wesen und Anschauungen dieses
liebenswürdigen, vom Humanismus doch nur wenig berührten Domini-
kaners (1441 oder 42 — 1502) zu schildern, der uns besonders in seinen
lebendigen Reisebeschreibungen entgegentritt. Der Holländer M. van
Ilhijn übertrifft mit einer befriedigenden Biographie von Wessel Gans-
fort, s'Gravenhage 1917, die bisher vorhandenen Lebensbeschreibungen
dieses Lehrers eines tiefer erfaßten Christentums (1419 — 89), indem er
die Einflüsse Augustins, Bernhards und der Windesheimer Kongregation
auf ihn nachweist ^). Den Brüdern vom gemeinsamen Leben, von denen
1) Das schildert kurz für das 15. Jahrh, A. Rein, über die Entwicklung der
Selbstbiographie im ausgehenden deutschen MA.. Arch. f. Kult. 14, 1919.
2) Auf Arbeiten, die das 15. Jh. ganz unter diesem Gesichtspunkte betrachten,
wie die gleichnamigen Schriften 0. v. Belows und J. Hallers, Die Ursachen der Re-
formation, Freib. i. B. 1916 u. Tüb. 1918, soll hier nicht eingegangen werden, da
sie bei der Betrachtung der neuzeitlichen Forschung doch nicht zu entbehren sind.
3) Gleiciizeitig erschien das amerikanische Werk von E. W. Miller, Wessel Gans-
fort: Life and Writings, 2 Bde , New York, Lond. 1917. — Über den Einsiedler und
Landesheiligon der .schweizerischen ürkantone Nikolaus von Flüe (1417 -H7), sind
zum 5UÜ. Jahre .seiner Geburt mehrere Arbeiten, so von E. Herxog und R. Durrer
erschienen, weitere in der Z. f. Schweizer Kirchengesch, 11 verzeichnet. — 0. M. Häfele,
132
jener ausgingjTwidmet eine gründliche Forschung E. Sarnikol in seinen
Studien zur Geschichte der Brüder vom gemeinsamen Leben. Die erste
Periode der deutschen Brüderhetvegung : die Zeit Heinrichs von Älthaus
(Erg.heft z. Z f. Theol. u. Kirche, Tüb. Jahrg. 1917. Die niederländische
Bewegung vor 14 00, das Hinüberwirken nach Deutschland seit 1401
durch den Westfalen H. v. A. (f 1439), die Ausbreitung und zweite
Blüte in der Hildesheimer Richtung usw. werden hier geschildert. Andere
Reform bestrebungen gingen von den Augustiner Chorherren aus. Wie
sie sich von dem westfj,lischen Kloster Böddeken aus über große Teile
Deutschlands von Hoktein bis zur Schweiz erstreckt haben, schildert
E, Schatten, Kloster Böddeken und seine Beformtätigkeit im 15. Jahrh.
(Gesch. Darst. u. Quell., hrsg. v. Schmitz Kallenberg 4), Münst. i. W. 1918.
Wieviel geistige Anregungen den Augustinern insgesamt verdankt werden,
untersucht auf Anregung A. Meisters Hedivig Vonschott, Geistiges Lehen
im Augustinerorden am Ende des 31 A. und zu Beginn der JSeuzeit,
Eherings Hist. Stud. 129, Berl. 1915. Nach Stichproben für mittel-
europäische Augustinerklöster wird festgestellt, daß die Hinneigung zu
humanistischen Idealen und Bestätigungen hier verhältnismäßig früh
einsetzte, mehr natürlich bei den aristokratischeren Chorherren als bei
den mehr auf religiöse Wirkungen bedachten Augustinereremiten. Bei
der Fülle des Stoffes handelt es sich nur um einen vorläufigen Aus-
schnitt. Das religiöse Leben der verschiedensten Kreise an ein und dem-
selben Platze sucht zu erfassen und in seinen mannigfaltigen Äußerungen
widerzuspiegeln L. Schairer, Das religiöse Volkslehen am Ausgang des
MA. nach Augshurger Quellen, Beitr. z. Kult. 13, Leipz.-Berl. 1914;
gerade die Buntheit des Bildes in allen Tönen, von der zartesten Inner-
lichkeit bis zum ödesten Aberglauben, ist wohl geeignet, die richtige
Vorstellung von den wahren Zuständen zu erwecken.
Waren nun die kirchlichen Schäden wirklich derartig, um von
selbst starke Gegenströmungen auszulösen oder haben bei deren Leitung
und Ausnützung Politik und Eigensucht der Landesherren etwa die
Hauptrolle gespielt? Das ist die Frage, die für das Gebiet der geist-
lichen Gerichtsbarkeit J. Hashagen zugunsten der ersteren Meinung be-
antwortet in der reichbegründeten und eindrucksvollen Arbeit: Zur
Charakteristik der geistlichen Gerichtsharkeit, vornehmlich im späteren
MA., Z. f. R. 37, k. A. 6, 1916.
Während die geistlichen Gerichte im 13. Jh. vor den weltlichen wegen mancher
Vorzüge im Prozeßgang, der Beweisaufnahme, der rascheren Arbeit, dem geordneten
Instanzenzuge mit Recht bevorzugt waren, begannen spätestens seit dem Anfang des
15. Jh. durch fiskalische Ausbeutung, übermäßige Anwendung kirchlicher Strafen usw.
die Gebrechen derart zu überwiegen, daß Gegenwirkungen, wie z. B. Boykott geist-
licher Offizialen, ganz eigenständig einsetzten, und Landesherren wie Stadträte schon
aus Gründen der allgemeinen Wohlfahrt zum Vorgehen angetrieben, dabei auch von
der öffentlichen Meinung getragen wurden.
Eine Zusammenfassung aller die Städte angehenden Vorwürfe gegen
Franx v. Retx. Ein Beitrag %ur Gelehrteyigesch. des Dominikanerordens und der
Wiener Universität, Innsbr. 1918, hat diesen seelsorgerisch wirkenden Gelehrten sehr
ausführlich geschüdert.
133
Ansprüche und Treiben der Geistlichkeit findet man in der von H. Schrörs
angeregten, im Teildruck als Bonner Diss. schon 1912 erschienenen
gründlichen Arbeit von A. Störmann, Die städtischen Gravaniina gegen
den Klerus am Ausgange des MA. und in der Reformationszeit (Re-
formationsgesch. Stud. u. Texte, hrsg. v. Greving 24 — 26), Münst. i. W.
1916. Das hier zusammengestellte Gesamtbild wird durch lokalgeschicht-
iiche Forschungen noch Ergänzungen, aber keine wesentliche Ände-
rung erfahren. Doch wir wollen hier in die Vorgeschichte der Refor-
mation nicht weiter eintreten.
Wenn auf Deutschland die kirchlichen Schäden soviel drückender als
auf den meisten anderen Ländern lasteten, so lag das vornehmlich an
der politischen Auflösung des Reichs körpers, die wohl in ein-
zelnen kräftigen Territorien, nicht aber im ganzen eine Abhilfe ermög-
lichte, wie sie sich die Staatenwelt Westeuropas längst verschafft hatte
und noch weiter sicherte ^) In die Zerklüftung der damaligen Zustände
Mitteldeutschlands, den Widerstreit enger dynastischer Interessen tut
man jetzt vielleicht den tiefsten Einblick in dem Buche von A. Wer-
minghoff, Ludwig von Eyh der Altere (1417 — 1502). Ein Beitrag zur
fränkischen und deutschen Geschichte im 15. Jh., Halle a. S. 1919.
Es ist ein Staatsmann dritten Eanges, dem dies umfängliche und gründliche,
aus Darstellung und Quellenbelegen ungefähr zu gleichen Teilen zusammengesetzte
"Werk gewidmet ist, und es drängen sich wohl zunächst Zweifel auf, ob da an Aus-
führlichkeit, zumal in unserer Zeit, nicht etwas zu viel geschehen ist. Aber dieser
in Finanzen, Gerichtswesen und Diplomatie wohlbewanderte Diener Albrecht Achills
und seiner Nachfolger, in seiner nüchterneren Art verschieden von seinem huma-
nistischen Bruder Albrecht, hat eben inhaltreiche Aufzeichnungen zu seiner Familien-
liistorie, Denkwürdigkeiten zur Geschichte der hohenzoilernschen Markgrafen, Schriften
zur Verfassung.s-, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte hinterlassen , die , vereint mit
urkundlichen Nachrichten, die Herstellung einer eingehenden Lebensgeschichte dieses
Mannes und damit ein Bild jener Tage ermöglichten, das sicher lebendiger in sie ein-
führt, als die meisten durch die Zerrissenheit des Stoffes verwirrenden Gesamtdar-
stellungen. So gehört das Buch fraglos zu den wertvollsten Neuerscheinungen der
spätmittelalterlichen Geschichte.
Nur eine starke staatliche Zusammenfassung der noch immer im
Überfluß vorhandenen, aber durch die Zersplitterung gelähmten oder
gegeneinander arbeitenden deutschen Kräfte hätte aus den unheil-
vollen Zuständen herausführen können. Aber wo war der Schöpfer
eines neuen Deutschlands, der sich an zielbewußter, geschlossener Kraft
einem Ludwig XL, Heinrich VII. oder einer Isabella hätte vergleichen
können? Das habsburgische Haus, von dem man am ersten diese
Leistung hätte erwarten sollen, schlug in seinen Vertretern von dem
einen unbrauchbaren Extrem in das andere.
1) Vgl. für Spanien die populär gehaltenen Darstellungen von J. B. Klßling,
Kardinal Francisco Ximenex de Cisneros 1436—1517, Münst. i. W. 1917, von J. P.
R. Lyell, Cardinal Ximenes, statesman, ecclcsiastic, saldier and man of etlers, ivith
an account of the Complutensia Polijglot Bible, Lond. 1918 (illustriert) und Jcrne
L. Plunket. Isabel of Casiile and the making of the Spanish nation 1451 — 1504 in
„Heroes of the nations", New York, Lond. 1919. ohne neue Ergebnisse, aber in leben-
diger Darstellung.
134
Mit der knauserigen Zurückhaltung Friedrichs III. ^) war der Bau
ebensowenig zu errichten, wie mit der zwar schwungvollen, aber gerade
der notwendigen Sammlung und Schöpferkraft entbehrenden, dynasti-
schen Universalpolitik und Projektenmacherei Maximilians I. -). Die
gutgemeinten und richtig gedachten Reichsreformen ^) aber, wie sie
die Stände mit dem Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg ^) an
der Spitze anstrebten und zum Teil durchführten, mußten letzten Endes
doch scheitern, weniger noch an den in der Sache selbst liegenden
Schwierigkeiten, als weil mittlerweile das Haus Habsburg zu einer
Weltmacht emporwuchs, deren Interessenkreis sich mit dem des deut-
schen Reiches keineswegs mehr deckte.
8. Historische Hilfswissenschaften
An der Hand einiger Zeitschriften, wie des Neuen Archivs oder
der Bibliotheque de FEcole des Chartes und einzelner neuer Zusammen-
fassuno:en sich einen Überblick über die hilfswissenschaftlichen Neu-
erscheinungen zu verschaffen, ist verhältnismäßig leichter als für die vor-
hergehenden Abschnitte. Ich kann mich daher hier noch mehr als dort
auf die Heraushebung des Wesentlichsten, dessen, was über das Interesse
der Spezialisten hinausgeht, beschränken.
Zunächst einige bibliographischen Hilfsmittel! Seitdem
die „Jahresberichte der Geschichtswissenschaft mit Bd. 36, 1913, ihr
Ende gefunden haben, sind wir über außerdeutsche Geschichtsliteratur
in Deutschland höchst mangelhaft unterrichtet Die Folgen der langen
Absperrung werden sehr langsam überwunden. Es fehlt auch zunächst
für die Zukunft an jeglicher Organisation. Unsre Zeitschriften bringen
meist nur das gelegentlich ihnen bekannt Gewordene; am reichhaltigsten
ist noch immer die BibÜographie des Historischen Jahrbuchs. Gerade
1) Von den Dsutscken Reichstag sakten unter Kaiser Friedrieh III erschiea
Bd. 15, 2: 1440—41, Gotha 1914. Iti die Verhältuisse des dam;iligen Österreich wird
man gründlichst eingeführt durch die Forschungen des f K. Schalk, Aus der Zeit des
'österreichischen Faustrechts 1440 — 63 in Abh. z. Gesch. u. Quellenk. d. Stadt Wien, 1919.
2) Über die Beurteilung der Politik Maximilians, sowie über die Ursprünge der
unter ihm bestehenden Behördenorganisation, sind vor dem "Weltkriege in Deutschland
beianntlich fördernde Auseinandersetzungen erfolgt (vgl. zur Einführung in die Kon-
troversen A. Walther, Die neuere Beurteilung Kaiser Maximilians L, M. I. ö. G. 33,
1912. Seitdem ist kaum Neues zu verzeichnen. Chr. Hare, Maximilian the Dreamer,
Holy Roman Emperor 1459 — 1519, Lond. 1918, dürfte uns schwerlich den persön-
lichen Entwicklungsgang M.s bieten, dessen Dar,stellung man noch immer vermißt,
wahrend die Politik seiner Zeit oft genug behandelt ist. Vgl. auch G. Mehring, Kar-
dinal Peraudi als Ablaßkonimissar in Deutschland 1500 — 1504 und sein Verhältnis
XU Maximilian L, in Forsch, u. Vers. f. D. Schäfer, Jena 1915; M. Wutte, Die Er-
werbung der Görxer Besitzungen durch das Haus Habsburg, M. I. ö. G. 38, 1918,
wo die sich über anderthalb Jahrhunderte erstreckende Vorgeschichte der Erwerbung
sehr ins einzelne gehend dargelegt wird.
3) Vgl. Joh. Müller, Die Entstehung der Kreisverfassung Deutschlands von 1383
bis 1512, Deutsche Gesch.-Bl. 15, 1914.
4) K. Bauermeister hat seiner Arbeit über B. als Laudesfürst die Abhandlung:
B. V. H. und der Türkenxehnte von 1487, Eist. Jahrb. 36, 1915, mit Abdruck einiger
Inedita folgen lassen.
135
für die mittelalterliche Geschichte ist ja aber jede nationale Beschränkung^
ein Unding. Es wäre doch sehr zu wünschen, daß die „Jahresberichte"
in der Weise wiedererständen, daß sie sich auf Sammlung und über-
sichtliche Anordnung der Titel allein beschränkten und von dem Voll-
ständigkeitsprinzip im Kleinen und Lokalen Abstand nähmen. Auf solche
Weise könnte jeder Band verhältnismäßig rasch auf das oder die zu-
sammengefaßten Berichtsjahre folgen und würde an Umfang gewiß auf
ein Viertel der früheren Stärke gemindert werden, an Brauchbarkeit
dadurch nur gewinnen. Für eine solche Aufgabe müßten natürlich
Stiftungskapital und Staatszuschüsse gewonnen werden. Wenn wir aber
schon einmal nicht mehr in der Lage sind, jedes wissenschaftlich not-
wendige Buch des Auslandes in Deutschland anzuschaffen, so sollte man
den Forschern wenigstens die Möglichkeit bieten, zu überschauen, was
in Wirklichkeit erschienen ist, und wo es in unseren Bibliotheken hapert^
damit sie von gewissen Stoffen dann lieber die Finger lassen!
Für die deutsche Geschichte sind wir besser versorgt durch die
der Historischen Vierteljahrschrift beigegebene Bibliographie des leider
kürzlich verstorbenen 0. Mnßloiv , die nach einem kurzen Übergangs-
stadium von F. Löwe fortgeführt werden soll. Dieser selbst hat mit
M. Stimming zusammen in sehr dankenswerter Weise Jahresberichte der
deutschen Geschichte mit einem ersten Jahrgang 1918, Breslau 19 20,
eröffnet. Als ein Ersatz der alten Jahresberichte können sie freilich
nicht gelten, solange sie sich national beschränken. Was uns not tut,
ist neben der Maßlowschen Bibliographie ja gerade gründlichste Orien-
tierung über das, was daheim und auswärts über ausländische Geschichte
geschrieben wird ! W^ir müssen uns diesen Weltblick trotz aller Schwierig-
keiten um jeden Preis erhalten.
Von kürzlieh erschienenen bibliographischen Hilfsmittel/i, die uns das
erleichtern, notiere ich das Folgende: Ch. Groß, Sources and literature
of English history from the earliest timcs to about 1485, 2. Aufl., Lond.,
New York 1915. Der Verf ist leider schon 1909 gestorben, die von
ihm selbst gesammelten Nachträge, von 1910 ab aber nur gelegentliche
Hinzufügungen und ältere Ergänzungen , haben die Zahl der Titel um
etwa 1300 anschwellen lassen ^). L. J. Paetotv, Guide to the study of
mediaeval history, for students, teachers and libraries, Berkeley California
1917, ist der erste Versuch zu einer allgemeinen malichen Bibliographie
in englischer Sprache, natürlich ohne jedes Streben nach Vollständigkeit,
immerhin mit manchen Ergänzungen zu der deutschen Quellenkunde zur
Weltgeschichte von P. Herre.
Über Frankreich wird man in den Hauptzeitschriften des Landes
vorbildlich unterrichtet. Auf die auch in den letzten Jahren fortlaufende
Vej-öffentlichung von Comte 11. de Lasteyrie und A. Vidier, Bibliographie
generale des travaux hisforiques et archeologiqiies pid>l. p. lessocictes savantes
de la France sei hier hingewiesen, und den Überblick von L. Halphen,
1) Vgl. T. F. Tollt, The ■prcscnt state of viediaeval studies in Oreat Brüain,
Lond. 1914.
13G
Lliistoire en France depuls cent ans, Par. 1914 (mit kurzem bibliogr.
Anhang), wird gewiß auch der ma.liche Forscher zur Hand nehmen
wollen ^).
Für Italien bietet in beschränkterem Umfang Ahnliches Ä. Panella,
Gli siucU storici in Toscana nel secolo XIX (aus Arch. stör. ital. e
l'opera cinquantenaria della r. deput. tose. d. stör, patr.), Bol. 1916. Ester
Pastorello, Indici jier nome cTautore e per materie delle pubblicazmii
sulla storia mediaevale üaliana (1899 — 1910) raccoUe e recensite da
C. Cipolla, Ven. 1916, gewährt in einem umfangreichen Bande innerhalb
der gegebenen Grenzen wohl auch eine gewisse Übersicht.
Von H. Barths Bibliographie der Schweizer Geschichte, welche die
bis Ende 1913 selbständig erschienenen Druckwerke zur Geschichte der
Schweiz enthält, erschien Bd. 3 : Quellen und Bearbeitungen, nach sach-
lichen und formalen Gesichtspunkten geordnet, Bas. 1915. Für Däne-
mark notierte ich B. Erichsen u. A. Krarup, DansJc historisJc Bibliograß,
1. Bd. H. 1. 2, Kopenh. (1918?).
Wenden wir uns zur Handschriftenkunde und Paläographie,
so findet man in W. Weinbergers Bericht für die Jahre 1911 — 15 in
den Jahresberichten über Fortschritte der klassischen Altertumswissen-
schaft 43, 1915 (erschienen 1917), Abt. 3, auch das MA. betreffende
Erscheinungen verzeichnet. Die Herausgabe neuer Handschriftenkata-
loge kann hier als keineswegs allein die ma.liche Geschichte betreffend nicht
berücksichtigt werden; doch mag als umfassenderes Werk die Fort-
setzung der Bände Mazzatintis von Ä. SorbelU, Inventarl dei mano-
scritti delle biblioteche d'ItaUa genannt sein, von denen Bd. 22/23 Flor.
1915 erschien.
P. Raphael Kögel O. S. B., Die Photographie historischer Dohimente
nebst den Grundzügen des Reproduhtionsverfahrens (Beihefte z. Zentralbl.
f. Bibliothekswesen 44), Leipz. 1914, mag als Einführung dienen in die
neuen Verfahrungsweisen zur photographischen Aufnahme erloschener
Schriften, Palimpseste usw. Die großen Verdienste, die sich hier die
Beuroner Benediktiner erworben haben, und die Versuche, denen sie
sich unermüdlich widmen, beginnen nun auch für die ma.üche Geschichte
Frucht zu tragen, wie der dadurch wiedergewonnene Brief Karls d. Gr.
an Papst Hadrian I. über den Abt-Bischof Waldo von Reichenau-Pavia
beweist, den P. E. Munding in „Texte u. Arbeiten, hrsg. durch die
Erzabtei Beuron" H. 6, Beur. 1920, vorlegte.
Die Veröffentlichung großer paläographischer Tafelwerke hat auch
während der Krieg?jahre ihren Fortgang genommen, so z. B. die von
A. Chrousts Monuinenta palaeographica , I. Abt., Serie 2, die mit der
24. Lieferung ihren Abschluß erreichte, so die von J. v. Karabacelc und
B. Beer hrsg. Monumenta palaeographica Vindobonensia, Bd. 2, Leipz.
1914, so in England die Lieferungen der New Pcdaeographical Society.
Einen Überblick über die Entwicklung des Studiums der Paläographie
in England seit 1873 gab A. Hidshof im Zentralbl. f. Bibliothekswesen
1) Vgl. auch Gh. V. Langlois, Les etudes historiques, Par. 1915.
137
1916. Ders. bereicherte in J. TActzmanns Tahtdae in us. scliol. 0 unter
dem Titel: Deutsche und lateinische Schrift in den Niederlanden (1350
bis 1050), Bonn 1918, mit 50 gutgeratenen Tafeln, von denen ein Teil
dem ausgehenden MA. angehört, unsre Unterrichtsmittel.
Unter den Werken, welche die Schrift einer bestimmten Epoche
ergründen und zur Darstellung bringen, steht obenan dasjenige des
Traubeschülers E. A. Loeiv, The Beneventan Script, Oxf. 1914, wo diese
unteritalische Schriftart, die von 779 bis 1295, in Urkunden vielleicht
noch etwas länger nachweisbar ist, unter umfassender Heranziehung der
PIss., deren Abbildungen einem besonderen Atlas vorbehalten bleibt,
erstmals gründlichst behandelt ist. Eine ähnliche Darstellung der west-
gotischen Schrift durch einen anderen Traubeschüler A. C. Clark steht
in Aussicht. Ein Hilfsmittel zum Studium der Urkundenschrift Englands
seit der normannischen Eroberung bietet zuerst das Werk von Ch. Johnson
und U. Jenhinson, English Court Hand a. D. 1066 — 1500, illustrated
chiefly from the PuUic Eccords, 2 Teile (Text u. Tafeln), Oxf. 1915 ^).
Nach dem Vorbilde von Traubes „Nomina sacra" versuchen einige
Arbeiten im In- und Ausland die lateinischen Abkürzungen bestimmter
Zeiträume und Schulen zu umgrenzen, so H. Foerster, Die Ahhilrzungen
in den Kölner llss. der Karolinger zeit, Diss. Bonn 1916; W. M. Lind-
say , Notae Latinae, an account of dbhreviations in latin Mss. of the
early minuscule period (c. 700 — 850), Cambr. 1915 (mit Hss.- Verzeichnis
am Schluß) und L. SchiaparelU , Notae ■paleograßche , Arch. stör. ital.
73 I, 1915 (betr. tachygraphischer Zeichen in Notae iuris) u. 74 H, 1916
(betr. irischer Abkürzungen). — J. E Sandrys, Latin Epigraphy , an
introduction to the study of latin inscriptions, Cambr. 1919, dürfte doch
wohl auch für das MA. in Betracht kommen. Die Ausbreitung der
arabischen Ziffern in Europa hat G. F. Hill, The development of ardbic
numerals in Europe, exhibited in 64 tables, Oxf. 1915, dargestellt 2).
Auf dem für die ma.liche Geschichte so besonders wichtigen Gebiete
der Urkundenforschung, für das die sehr reichen Einzelstudien
hier nicht verzeichnet werden können, wird jeder seinen Ausgangspunkt
von H. Brcßlaus Handbuch der UrJcundenlehre nehmen, von dem Bd. 2,
1. Hälfte, Leipzig 1915, in zweiter, alles wieder auf den gegenwärtigen
Forschungsstand erhebender, auch viel eigenes Neue einarbeitender Auf-
lage erschienen ist.
Es erübrigt sich, etwas zum Lobe des Werkes zu sagen, das die deutsche Wissen-
schaft auf diesem von ihr einst neu befruchteten Sondergebiete noch immer auf einer
Hölle zeigt, an welche die anderen Länder in umfassender Durchdringung des Gesamt-
stoffes trotz gediegener Leistungen noch nicht heranreichen. Man kann nur»- auf das
lebhafteste wünschen, daß der Verf. bald neb-^n anderen Arbeiten die Muße zum
Ab.schluß der zweiten Auflage finden möge. Weite Überschau, wie sie nur in langer
Forschertätigkeit erworben wird , vom angelsächsischen zum ungarischen Urkunden-
wesen und weiter, zeigt auch desselben Abhandlung: Internationale Bexiehungcn im
Ur/cundenuesen des MÄ., Arch. f. Urk. forsch. VI , 1917. Eine ähnliche Art, die ur-
kundlichen Symptome über das technisch-hilfswissen.schaftliche hinaus für die politische
1) Vgl. ders., Palaengrapliic and the study of Court iiand, New York 1915.
2) Vgl. dazu auch M. Tangl, X. A. 41, 1919, ebda, zur Kryptographie E. Sec/ccl.
188
Geschichte, hier freilich mehr der inneren des deutschen Reiches im 12. Jahrh., un-
mittelbar nutzbar zu machen, zeigte ja schon der auf dem Wiener Historikertag ge-
haltene Vortrag von H. Hirsch, Kaiserurkunde und Kaisergeschichte, der in den
M. I. ö. G. 35, 1914, erschien.
Die Einwirkung der kaiserlichen Urkunden auf die päpstlichen hat,
wie etwa früher schon Mühlbacher R. L. Poole, Imperial influences on
the fornis of papal documents (aus : Proceedings of the Brit. Acad.)
(1917 ?) kurz behandelt. Derselbe auch durch die Leitung der Engl,
hist. Rev. und so manchen Beitrag darin ^) bestens bekannte Gelehrte
hat in seinen Lectures on the liistory of the papal Chancery down to the
Urne of Innoceni III., Cambr. 1915, eine knappe, sehr saubere und ge-
fällige Zusammenfassung der neben den älteren französischen zumeist auf
den neueren, von P. hoch anerkannten deutschen Forschungen beruhenden
Ergebnisse mit glücklicher Auswahl des Wesentlichen vorgelegt; man
wird sie auch in Deutschland gern und gelegentlich, wie z. B. das Kapitel
über den Cursus, mit Förderung lesen-). P. 31. Baumgarten, Mis-
cellanea diplomatica II: Aus der Kanzlei Innocenz' IV., Rom. Quartal-
schr. 28, 1917, bietet einen wichtigen Beitrag zu den Kanzleiverhält-
nissen dieses Papstes, lehrreich auch über die Diplomatik hinaus durch
die für dies Pontifikat sehr vollständigen Beamtenlisten.
Unsere Auffassung von dem älteren päpstlichen Registerwesen hat
bekanntlich dadurch schon vor dem Kriege eine Abwandlung erfahren,
daß durch die Untersuchungen von Peitz, Caspar und Blaul die Register-
bruchstücke von Johann VlII. und Gregor VII. entgegen den früheren
Annahmen als Originalabschrift und Original erwiesen sind. W. Peitz
S.J., Das Register Gregors L, Beiträge zur Kenntnis des päpstlichen
Kanzlei- ii. Registerwesens bis auf Gregor VII. (Erg.-h. zu Stimmen der
Zeit, 2. Reihe, H. 2), Freib. i. B. 1917, hat mit großer Gelehrsamkeit
und viel Scharfsinn den Nachweis versucht, daß die uns überlieferte
Hs. auch dieses Gregorregisters nicht, wie man bisher annahm, ein zur
Zeit Hadrians I. gefertigter Auszug aus dem Originalregister sei, sondern
sich mit jenem deckte. Dann hätte die Monumentenausgabe sich auf
den unveränderten Abdruck beschränken sollen, statt Ergänzungen zur
Wiederherstellung des vollständigen Registers anzustreben. Diesen Ver-
such aber hat M. Tangl, Gregorregister und Liber Diurnus, N. A. 41,
1919, m. E. völlig widerlegt^). Auch die Behauptung, daß in der päpst-
lichen Kanzlei des ganzen früheren MA. nach den Konzepten registriert
sei, lehnt er ab '^). Anerkennender steht er Peitz' Forschung: Liber
1) Die Untersuchung: The sea of Maurienne and the Valley of Sicsa, Engl. hist.
Eev. 31, 1916, ist bemerkenswert wegen der in den Streitigkeiten über die Zugehörig-
keit von Maurienne zu Turin, Tarantaise oder Vienne zugunsten des letzteren (vgl.
Gundlach N. A. 14) vorgenommenen Urkundenfälschungen und andrer Fälschungen in
der Frage der Zugehörigkeit von Susa zu Maurienne oder Turin.
2) Vgl. M. Tosi, Biillaria e Bullatores della cancelleria po7itificia (aus: Gli
Archivi ital.), Siena, 1917. Ä. Eitel, Rata und Rueda, Arch. f. Urk. 5, 1914, verfolgt
die Einwirkung der seit Mitte d. 11. Jahrh. aufgekommenen päpstlichen Rota auf das
spanische Urkundenwesen.
3J Ausführlicher jetzt E. Posner, N. A. 43, 1921.
4) Dagegen ist neuerdings R. v. Heckel, Untersuchungen >-m den Registern Inno-
. 13Ö
Diurnus, Beiträge zur Kenntnis der ältei^ten päpstlichen Kanzlei vor
Gregor d. G., I: Überlieferung des Kanzleihuches und sein vorgregoria-
nischer Ursprung, SB. d. Wien. Ak. 185, 1918, gegenüber.
Über Sickels Ausgabe kommt P. hier unzweifelhaft in mehrfacher Hinsicht hinaus.
Der Hauptthese, der ursprüngliche Diurnus, sei in viel frühere Zeit zuruckzuverlegen,
die Briefe Gregors I. seien bereits aus Diurnusformeln zusammengesetzt, statt für sie
verwendet zu sein, ja einzelne Formeln seien sogar bis in frühchristliche Zeit zu
verfolgen, so daß die Anfänge der Papstkanzlei schon in die Mitte des 2. Jahrh.
fielen ') , steht Tangl bis zum vollständigen Erscheinen der Diurnusforschungen mit
starken Zweifeln gegenüber').
In die früheste Zeit ma.lichen TJrkundenwesens weist die Unter-
suchung von K. Brandt, Ein lateinischer Papyrus aus dem Anfang des
6. Jahrh. und die E^itwicldnng der Schrift in den älteren ürhunden^
Arch. f. Urk. 5, 1914. Die Schrift einer im Faksimile beigegebenen Ur-
kunde von 505 wird in die Entwicklung eingereiht; die damaligen Be-
urkundungsformen haben auf das merowingische Urkundenwesen ein-
gewii kt ^).
Von den Arbeiten, die sich mit Fälschungsfragen befassen, seien
außer den schon an andrer Stelle genannten noch einzelne hervor-
gehoben. E. V. Ottenthai, Die gefälschten Magdeburger Diplome und
Melchior Goldast, S.ß. d. Wiener Ak. 1919, erkennt bei einer Prüfung
der älteren deutschen Königsurkunden für die Stadt Magdeburg nur
drei als echt, alle andern als Fälschungen, die z. T. wahrscheinlich von
Goldast angefertigt sind'*). Über die Fälschungen von Bobbio, über
welche die Meinungen von Forschern wie Sickel und Scheffer- Boichorst
auseinandergingen, findet man jetzt ausgiebige Aufklärung in dem drei-
bändigen, von C. Cipolla begonnenen, von G. Biizzi bearbeiteten und
zu Ende geführten Werke: Codice diplomatico del monasiero di S. Colom-
bar.o di Bobbio fino alV anno 1208, in: Fonti p. 1. stör. d'It., Diplomi,
Rom 1918.
Im dritten Bande finden sich die Untersuchungen über die beiden Gnippen
xenx' in., Hist. Jahrb. 40, 1920, für die Ansicht von Peitz, die Registerbände lun. III.
seien nicht Prachtabschriften, sondern Originale, gegen Tangl und Bresslau in ein-
gehender Untersuchung eingetreten. Von sonstigen Registerforschungen seien hier
nur genannt: die an 11. Nieses Aufstellungen anknüpfenden Studien über die sixili-
lischen licgister Friedrichs II. von E. Stimmer. S. B. d. Berl. Ak. 1920; ferner:
A. Sedlacek, Die Beste der ehemal. Reichs- und K. böhmischen Register, 8.B. d. kgl.
böhm. Ges. d. "Wiss. 19 KJ, wo neben Umschreibung des Bestandes, Auszügen usw. auch
die Frage erörtert wird, wie weit böhmische Sonderregister neben den Reichsregistern
unter Karl IV. und Wenzel anzunehmen sind.
1) Vgl. auch die für breitere Kreise bestimmten Ausführungen vou W. Peitx
in mehreren Artikeln der Bde. 93 u. 94 (1917 u. 18) der „Stimmen der Zeit".
2) Von Einzel for.schungen zu Formelbüchern seien notiert: K Widke, Über
schlcsische Formelbücher des MA. in Darst. u. Qu. z. schles. Gesch. 26, Bresl. 1919;
//. Omonf, Noiiveau document sur Berard de Naples, Bibl. de l'Ec. d. Ch. 76, 1915,
wo Bcrardus schon für Mai und Juli 12r)4, ein Jahrzehnt früher als bi.sher nachweis-
bar, als Notar der päpstlichen Kanzlei belegt wird.
3) Vgl. Les Diplomes Merovingiens des Archives Nationales, ed. P. Lauer u.
C. Samarnn, Paris 1915.
4) Vgl. E. Stengel, Fuldensia I: Die Urktmdcnfälschungen des Rudolf von Fulda,
Arch. f. Urk. 5, 1914; weitere Fuldensia ebda. Bd. 7.
140
von Fälschangen: die erste von 19 Urkunden, davon 17 zwischen 903 und 914 mit
dem Zwecke, das Kloster Bobbio der Gerichtsbarkeit des Bischofs von Piacenza zu
entziehen; die zweite, erst von Buzzi klar erkannte Gruppe von 14 kaiserlichen
Diplomen unter der Abtschaft Folco's (1160—70) aus der Absicht hervorgegangen, die
Unabhängigkeit des Klosters gegenüber den Aufsichtsrechten des nahen Bischofs voq
Bobbio zu erhärten, — ein Streit, der erst 1208 durch einen Sprach Papst Innozenz' III.
zugunsten des Bischofs entschieden wurde.
Über einen wichtigen Urkundenfund in Lyon berichtet G. Guigue,
Documents des archives de la cathedrcde de Lyon recemment decouverts,
Bibl. de l'Ec. d. Ch. 76, 1915.
Unter den ausgegrabenen Manuskripten des alten Metropolitanarchivs befinden
sich u. a. eine hier abgedruckte Urkunde Karls von Provence für das Kloster de
nie- Barbe von 861, das Vidimus einer Bulle Papst Sergius' III. von 910 für das
Kapitel von Lyon, 2 Urkk. Kaiser Friedrichs I. vom 18. Nov. 1157 u. 30. Okt. 1184
betr. der Regalrechte der Kirche S. Johann über die Stadt L.yoni) usw.
Von den in ersprießlichem Zusammenwirken des Istituto storico
italiano mit dem preußisch-historischen Institut in Rom herausgegebenen
JRegesta Chnrtarum Italiae sind noch einige Bände erschienen, bis der
Eintritt Italiens in den Krieg die Fortführung der gemeinsamen Arbeit
unmöglich machte. Bei der Bedeutung von Montecassino für die ma.-
liche Geschiclite mag hier auch die Ausgabe des Hegesto di Tommaso
decano, o cartolario del convento Cassinese (1178 — 1280) a cura dei
monaci di Montecassino, Rom 1915, genannt sein -).
Für den Universitätsunterricht haben die von G. Seeliger heraus-
gegebenen Urkunden und Siegel in Nachbildungen für den akademischen
Gebrauch, Leipz.-Berl. 1914, sich als nützliche Bereicherung unserer
Hilfsmittel erwiesen, wenn auch Heft I (Kaiserurkunden v. G. Seeliger)
noch aussteht und H. II Papsturkunden mit dem begleitenden Text
von A. Brackmann im einzelnen von L. Schmitz - Kallenberg , Hist.
Jahrb. 36, 1915, übertrieben heftig angegriffen worden ist. H. III Privat-
urkunden von 0. Redlich und L. Groß ergänzt manche Abbildungs-
lücke ^), ebenso wie H. IV Siegel von F. Philippi willkommene Er-
1) Vgl. ders., Les bulles de Vor de Fred. Barb. pour les archeveques de Lyon,
Bull. phil. et hist. du comite des trav. hist. 1917.
2) Vgl. L Auvray, Le „vetiis codex Longohardicus" de Baluxe, Moyen äge 28,
1915, wo die im Bd. 17 der Sammlung Baluze iu der Bibl. nat. kopierten Urkunden
auf ihre Herkunft genauer untersucht und der zugrunde liegende langobardische Codex
durch Vereinigung aller Auszüge daraus möglichst wiederhergestellt wird; im Anhang
sind Papstbullen von Gregor IX., Innozenz IV., Alexander IV. und Johann XXII,
gedruckt.
3) Von diplomatischen Einzelstudien notiere ich noch ohne die Absicht irgend-
welcher Vollständigkeit die sich auf dem Grenzgebiet zwischen Urkundenforschung
und Rechtsgeischichte bewegende Arbeit des im Kriege gefallenen F. Boye, Über die
Fönformeln in den Urkunden des früheren MA., Arch. f. Urk. 6, 1917; K. Demeters
Studien zur Kurmainxer Kanzleisprache, Diss. Berl. 1916, wo die Sprachentwickiung
in der Kanzlei vom Ende des 14. bis zum Ende des 16. Jahrh. verfolgt und der Ein-
fluß auf die neuhochdeutsche Schriftsprache betont wird. Endlich einige Arbeiten
zum habsburgisch- österreichischen Urkundenwesen: 0. Stotcasser, Die öst. Kanxlei-
biieher, vornehmlich des 14. Jahrh. und das Aufkommen der Kanxleiver merke, M. I. ö. G.
35, 1915 (angefochten von Fr. Wilhelm M. I. ö. G. 38, 1918); ders., Beiträge xu den
Habsburger Regesten, M. I. ö. G. Erg. 10, 1916 (auf das 14. u. 15. Jahrh. bezüglich);
141
gänzungen bringt zu der ersten wirklich befriedigenden Bearbeitung
einer Siegelkunde von W. Eivald, die vereinigt mit einer Wappen-
kunde von F. Hauptmann \) im Handb. d. ma. u. neu. Gesch., Abt. 4,
Münch. 1914, erschien. — Zur Münzkunde sei auf die 2. Auflage
von Ä. Luschin v. Ehengreuths Grundriß der Milnshunde I. Die
Münze (Aus Nat. u. Geistesw.), Leipz.-Berl. 1918, verwiesen, dem sich
als II. Teil //. Buchenau, Die Münze in ihrer geschichtlichen Entwich'
lung vom Altertum his zur Gegenivart ebda, anschließt. Vgl. auch von
dems. Luschin, Das Münzivesen in Österreich oh und unter der Enns
im ausgehenden MA. im Jahrb. f. Landesk. v. Niederöst. N. F, 13 — 17,
1915 — 17; für Frankreich: A. Blanchet und A. Dieudonne, Manuel
de numismntique franfjaise, Bd. 1. 2, Par. 1912 u. 1916. Als Einführung
in innerdeutsche Probleme der historischen Geographie kann
dienen: Fr. Curschmann, Die Entwicklung der historisch-geographischen
Forschung in Deutschland durch zwei Jahrhunderte, Arch. f. Kult. 12,
1914/16 (über die ältere Forschung, die von der Identität der Gau- und
Diözc^angrenzen ausgehende Gaugeographie, die an die Gemeindegrenzen
anknüpfenden Grundkarten und die neueste, verschiedene Ausgangs-
punkte verwendende Provinzialforschung. Zur Chronologie endlich ist
zu nennen: die 4. Auflage von H. Grotefends unentbehrlichem Taschen-
buch der Zeitrechnung des deutschen MA. und der Neuzeit, Hann. 1915;
eine Greifsw. Diss. von P. Molkenteller, Die Datierung in der Geschicht-
schreibung der Karolingerzeit, Anklara 1916, die für Tages- und Jahres-
datierung, Tages- und Jahresanfang, Wochentagsbezeichnung, Zähl-
weise usw. die Ergebnisse für jene Epoche zusammenstellt; zu guter
letzt für die kirchliche Chronologie die zweite, durch zahlreiche Nach-
träge und Berichtigungen verbesserte Auflage von K. Euhels, Hierarchia
catholica medii aevi, Bd. 1 u. 2 (1198—1503), Münster i. W. 1913/14.
J. Limtx (gefall. 1914) und L. Groß, Urkunden und Kan>:lei der Grafen v. Habs-
burg u. Herxoge v. Österreich von 1273—1298, M. I. ö. G. 37, 1917, mit Betonung des
Einflusses der habsburgischen Stamnilande auf ihr Urkundenwesen.
1) Dazu vgl. auch die gegen den Dilettantismus auf diesem Gebiete gerichtete
Schrift von 0. Hupp, Wider die Schwarmgeister, Münch. 1918.
142
Verfassernamen
Äbegg, E. 91
Adams. G. B. 83
Aigrain, E. 24
Alengry, C. 106
Amato, A. 99
Ämelineau. E. 26
V. Aniira, K. 40
d'Ancona, A. 99
Andrae. 0. 27
Anitchkof, E. 13
Ankwicz-Kleehoven, H. 130
Antonelli, M. 117
Antony, C. M. 121
Apfelbaum. J. 106
Arie, B. 130
Arndt, E. 73
Arne, T. J. 12
Arnold, R. F. 131
Asche, E. 121
Aubin, H. 41
Auvray, L. 141
Babelon, E. 22
Baseler, G. 57
Baethgen, F. 82
Bäumker, Cl. 6. 94. 96
Baist, G. 28
Baladhuri, A. 27
Ballschmiede, H. 85
Balzani, ü. 63
Barnikol, E. 133
Barth, H. 137
Bast, J. 47
Bastgen, H. 34
Bauer, H. 117
Bauermeister, K. 135
Baumearten, M. 139
Becker, J. 58
Beckmann. G. 129
Beer, R. 137
Beilee, H. 124
V. Below, G. 1. 4:!. 51—53.
74. 86. 103. 105. 132
Bemont, Ch. 10 i
Bendel, F. J. 31
Benetti-Brunelli, V. 131
Benz. A. R. 113
— , R. 10
Benzerath, M. 25
Beretta, R. 74
Berger, E. 61
Berkut, L. N. 69
Bernheim, E. 4. 5
Bernt, A. 17
Bertalot, L. 112. 132
Beß, ß. 125
Beverle, K. 48
V. ßezold, F. 2
Bezzenberger, A. 124
Bianchi-Cagliese, V. 68
Bicilli, M. 90
Bierbaum, M. 96
Biereye, W. 60. 63. 75
Birckman, B. 96
Birth, Th. 21
Bistort, G. 103
I Bizzarri, D. 103
! Blanchet, A. 142
Bliemetzrieder, F. 65
Bloch s. Reincke-Bloch
Blochet, E. 95
Bloy, L. 128
Böhmer, H. 30
Bönhoff, L. 24
Bolland, W. C. 118
Bonwetsch, G. 88
Borchers. C 101
Borino, G. B. 64
Borinski, K. 18
van den Borne, F. 14
Bossi 63
Botteghi, L. A. 93
de Boüard, A. 58
Boutros Ghali 9
Boye, F. 141
Brackmann, A. 32. 34
Bradley, H. 9
Bradshaw 52
Braudi, K. 52. 140
Brandileone, F. 33
Brohier. L 26. 35. 64
Brentano, L. 25
Bresslau, H. 62. 71. 117.
120. 138
Bretholz, B. 109
Breul, K. 62
Brinkmann. C. 41
Brodnitz, G. 52
Brown, G. B. 20
Brüning, G. 22
Brugnoli, B. 99
Brunner, H. 40
Bniun, D. (j3
Bryce, J. 83
Buchenau, H. 142
Buchkremer, J. 35
Büchner, M. 36. 38. 88
Bücher, K. 104
Bugge, A. 106
Burckhard, J. 27. 62. 126
Burdach, K. 9. 10. 11. 16-
17. 112 117
Burr, G. L. 18
Bussel, F. W. 6
Butler, N. M. 83
Buzzi, G. 33. 140
Byrne, E. H. 72
V. Caeminerer, H. 117
Caetani, L. 27
Canon, H. L. 92
Carlyle, A. J. 4
Cartellieri, A. 19. 80. 83
— , 0. 125. 127
Casini, T. 118
Caspar, E. 32. 67
Cavelti, L. 111
de Cenival, P. 94
Cerlini, A. 98
Cerone, F. 95
Cerri, C. 15
Cessi, R. 20. 27. 132
Chabot, J. B. 72
Chevalier, U. 25
Choussv, J. E. 126
Chroust, A. 137
Cipolla, C. 20. 93. 99. 137.
140
Clark, A. C. 138
Classen, W. 109
Clemen, P. 12
Clephan, R. C. 9
Cochin, H. 119
Cognasso, F. 84
143
Cohn, G. 85
— , W. 70. 87. 89
Colomaa, Chr. B. 33
Concaonon, H. 22
Cosack. H. 72
Cotteriil, H. B. 19
Coulton, G. G. 19
Coville, A. 12.'!
Cram, R. A. lü
Cripps-Day, F. H. 9
Crivellucci, A. 27
Croce, B. 112
Cunningham, S. 74
Curechmaun, Fr. 142
Curtiss, E. 70
Cuthbert 15
Daumet, G. 61
Davenport, E. H. 36
Davidsobn, R. 53. 94. 113
Davies, J. C. 118
Dehio, G. 11. HO
— , L. 92
Deiser, G. F. 119
Delaborde, H. Fr. 61
Delachenal, R. 119
Delisle, L. 94
Demeter, K, 141
Deussea, P. 6
Diamanti, E. 130
Diebolder, P. 69
Diehl, Ch. 26. 103
Diepgen, P. 6
Dieterle, K. 125
Dieudonne 142
van Dillen, J. G. 104
V. Dirlve, A. 105
Dobenecker, 0. 93
Domenici, G. 83
Dopsch, A. 2. 3. 20. 27.
28. 29. 44, 51. 53. 90. 95
Doren, A. 90
Dorn, J. 24
Dove, A. 17. 21
Draycott, G. M. 27
Drinkwcider, 0. 73
Duchesne, L. 25. 26
Dürr, E. 128
Dubem, P. 6
V. Dungern, 0. 45. 46
Dupont, J. 126
Durrer, R. 113. 132
Duvernoy, E. 74
Dvofäk, M. 12. 13
Eberle, H. IJ. 103
Ebers, G. J. 41
Ebersolt, J. 26
Eberstadt, R. 105
Egidi, P. 89
Ehrismann, G. 94
Ehwald, R. 30
Eichholzor, E. 47
Eichmann, E. 32. 41. 42.
57. 82. 86. 100
V. Eicken, H. 7
Eitel, A. 1^9
Emerton, E. 19. 90
Endres, R. 37
Enlart. C. 13
Epfielsheimer, H. "W. 14
Erben, W. 47. 56. 113
Ercole, F. 112. 131
Erichsen, B. 137
Ernst, V. 47
Esposito, M. 9
Estailleur - Chanteraine , P.
126
Eubel, K. 130. 142
Ewald, W. 142
Ewing, J. 19
Fahre, J. 126
Fabricius, Kn. 77
Facchinetti, V. 14
Falco, G. 62
Falk, E. 112
Farrer, W. 70
Fawtier, R. 121
Federn, K. 112
Fehr, H. 40. 41. 43. 49.
85. 105
Feliciangeli, B. 130
Ferre, Th. 24
Ferretti, L. 120
Fiebiger, 0. 22
Fierens, A. 116
Fiuke, H. 55. 98. 100. 124
Fischer, L. 74
Flach, .T. 61
Fleischmann. W. 28
Fletcher, C. R. L. 19
— J. B. 112
Fliehe, A. 64
Foerster, H. 138
Foord, E 26
Forbes, N. 108
Forst- ßattaglia, 0. 46
Fotheringham, F. K. 84
Fournier, P. 65. 68
Franci-s, R. 70
Fregni, G. 68
Frensdorff, F. 103
Friedrich, F. 18
Frölich, K. 103
Fumi, L, 98
Gabotto, F. 103
Gaffroy, B. 68
Gagliardi, E. 113
GanzenmüUor, W. 8. 47
Gareis, K. 28
Garrod, II. W. 34
Gaudenzi, A. 33
Gauthiez, P. 121
Gay, J. 83
Geffcken, J. 20
Gerber, H. 129
Gerdes, H. 49
Gerlach, W. 101
Gerland, E. 25
Gerosa, P. 4
Gertz, M. Cl. 77
Gesler, W. 66
Geyer, .1. 81
de Ghellinck, J. 65
Gibbon, E. 20
Gibbons, H. A. 127
V. Gierke, J. 107
-, 0. 40
Gillet, L. 16
Giordano, N. 71
Giorgi, J. 38. 63
Giraudet. P. 126
de Givry, G. 126
Gjer.set. Kn. 77
V. Gleichen-Rußwurm, A. 9
Glitsch, H. 29. 47. 50
Gloning, M. 71
Göller, E. 18. 116. 120
Goetz, J. 67
— , W. 2
Götz, L. K. 108
Gold mann, E. 23
Goldschmidt, A. 12
Goll, K. 94
Gorham, E. 91
Goß mann, F. 75
Gothein, E. 129
Gottlieb, Th. 7
Grabmann, M. 96
Gradmann, R. 101
Graf, Th. 120
Gray, H. L. 20
de (jrazia, A. 72
Greven, J. 87. 115
Grillet, P. 9
Groeteken, F. A. 15
Gronen, E. 77
Groß, Ch. 136
— , L. 142
Grotefeud, H. 142
Grünberg, "W. 125
Grupp, G. 2
Günter, H. 56
144
Günther, 0. 122
Guerrini, P. 73
Güterbock, F. 75. 76
Guggenberger, K. 64
Guglia, E. 57
Guigue, G. 141
de Guldencrone, D. 62
Guthrie, W. D. 83
Haas, A 104
p ^29
Hä'fele, G. M. 132
Hänlein, Th. 31
Häußler, M. 132
Haff, K. 50
Haggard, A. C P. 128
Halbedel, A. 22
Haller, J. 78-80. 108, 132
Halphen, L. 34. 35. 61. 136
Hampe, K. 52. 53. 56. 58.
74. 91. 109. 127
Hansen. A. 119
Hare, Chr. 135
Harstedt, K. 94
Hartig, 0. 82
Hartmann, L. M. 19. 25. 53.
54 62
Härtung, F. 40
Haseloff, A. 12
Hashagen, J. 86. 133
Haskins, Ch. H. 70
Hauck, A. 121. 123
Haupt, A. 11
Hauptmann, F. 142
L 25
Hauri^ N. 123
Haverlach, A. 104
Hazlitt, W. C. 103
Heck, Ph. 48. 49
V. Heckel, R. 139
Heinrichs, R. 38
Held, 0. 107
Heldmann, K. 32
Hellmanu, S. 19
Heimelt, H. 19
Henderson, E. F. 52
Hennecke, E. 24
Hennig, R. 107
Hentze, C. 100
Hene, H. 123
Herwegen, J. 22
Herzog, E. 132
Heuberger, R. 95
Heusler, A. 30
Heymann, E. 23. 40
Hicketier. Fr. 19
Hill, G. F. 138
Hillemand-Joyau, A. 112
de Hinojosa, E. 41
Hintze, 0. 110
Hintzen, J. D. 127
Hirsch, H. 65. 139
Hirschfeld, Th. 89. 97
Hodgkin, R. H. 27
- , Th. 27
Hörnicke, H. 111
Hofer, J. 114
Hoff mann, G. 117
— , Heinr. 35
Hofmann, K. 102
-, M. 70
V. Hofraann, A. 52
— , W. 128
Hofmeister, A. 29. 31. 57.
59. 60. 62. 73. 77. 85
Holder-Egger, 0. 85
Holland, W. :18
Holtzmanu, R. 37. 54. 60. 72
— , W. 125
Holzapfel, H. 14
Hoops, J. 7
Hoppe, W. 72
Horten, M. 6
Hosp, P. 56
Howorth, H. 30
Huart, Cl. 27
Hübner, R. 40. 43
Huemer, Bl, 71
Hugelmann, K. G. 86. 88
Hughes, D. 119
Hulshof, A. 59. 137
Hund, A. 22
Hupp, 0. 142
Husih, J. 6
Hussl, H. 69
Imperiale di S. Angelo, C. 89
Inglese d'Amico, V. 99
Isoldi, Fr. 122
Jacob, K. 52
Jagow, K. 108
Jahn, M. 7
James, M. R. 8. 9. 127
Jamison, E. 71
Jansen, E. J. B. 126
Jenal, A. 71
Jenkinson, H. 138
Jepsen, M. 126
Jiricek, C. 127
Joachimsen, P. 52
Joergensen, E. 7
— , J. 121
Joetze, F. 47
Johnson, Ch. 138
Jordan, E. 90. 99
Wissenschaftliche Forschnngsherichte VII.
Jud, J. 28
Junghanns, H. 122
Kaindl, R. F. 109
Kaiser, A. 105
Kamiiers, F. 35. 56. 58
V. Karabacek 137
Karsavin, L. P. 96
Käser, K. 19
Kath, P. 75
Katterbach, B. 124
Kentenich, G. 105
Kern, F. 42. 52. 56. 94. 112
Keußen, H. 105
Keutgen, F. 44. 45
Kingsford, C. L. 125
Kirkfleet, C. J. 71
Kisk-y, W. 113
Kißlmg, J. B. 134
Kleist, W. 87
Kluckhuhn, P. 121
Klüpfel, L. 98
Kluge, F. 21
Knapp, H. 86
Knop, F. 34
Koebner, E. 24
Kögel, R. 137
König, E. 132
Koeniger, A. M. 31
Könnecke, M. 24
Kötzschke, R. 51
Kohler, J. 131
Koulakovsky, J. 26
Krabbel, G. 58
Krammer, M. 23. 117
Kramp, A. 137
Kretschmayr, H. 103
Krohn, R. 69
Krusch, B. 22. 23. 24
Kuczynski, J. 91
Küch, F. 104
Kuemmel, A. 28
V. Künßberg, E. 39
Kurth, G. 23
Kuske, B. 107
Kybal, V. 15
Lahaine, L. 107
La Mantia, G. 98
Lampen, W. 30
Langlois, Ch. V. 137
Lappe, J. 51
Lapsley, G. 119
La Eocca, S. 20
de Lasteyrie, R. 136
Lauenstein, W. 51
Lauer, Ph. 61. 140
Laurent, J. 27
10
145
Laux, J. 22
Lazzaresclii, E. 121
Leach, A. F. G
Lechner, J. 51
Leeming, J. K. 83
Lees, B. A. 30
Le Fort, R. 37
Lehmann, P. 7. 18. 36. 58
Leicht, P. S. G2
Leidinger, G. 88. 112
Lenne, A. 124
Lesquier, J. 70
Leutz-Spitta, J. F. 108
Levillain, L. 61
Levison, W. 22. 36. 38
Liebennann, ¥. 30
V. Liliencron, A. 60
Linck, A. 126
von der Linden, H. 37. 130
Lindlar, J. 105
Lindsay, W. M. 138
Lipson, E. 52
Little. A. G. 16. 96
Löffler, Kl. 31. 108
Loew, E. A. 138
Löwe, V. 136
Loparev, 36
Loserth, J. 113. 122. 123
Lot, F. 20. 24. 37. 61
Lotz, W. 51
de Loye, J. 94
Luchaire, J. 103
Lugano, P. 22
Lulves, J. 97
del Lungo, J. 112
Lunt, W. E. 92. 93
Luntz, J. 142
Luschin v. Ebengreuth, A.
110. 142
Lyell, J. P. R. 134
Lynch, D. 126
Mack, E. 90
ilackechnie, W. P. 83
ilac Killiam, A. E. 30
Maconi, St. 121
Maggini, F. 112
Maiden, H. E. 83
Male. E. 9
Manacorda, G. 6
Manaresi, C. 96
de Mandrot, B. 128
Manfroni, C. 20
Manitius, M. 7
Mann, H. K. 19. 73
Manning, B. L. 122
Mannucci, U. 130
Mansion, J. 20
Marchetti-Longhi, G. 91
V. Martin, A. 131
Martiu-Chabot 61
Marx, J. 70
Mathis, A. 64
Matthaesius, F. 123
Maugis, E. 119
Mayer, Ernst 21. 23. 28.41.
50. 88
Meda, C. 34. 83
Mehring, G. 135
Meier, P. J., 75. 101
Meininghaus, A. 49
Meister, A. 18. 40. 48
de Meiy, F. 35
Mengozzi, G. 103
-, N. 128
Mercati, A. 68
Messeri, V. 121
Metlake, G. 22
Meurer, F. IUI
Meyer, Aug. 61
— , Erich W. 82
— , Herrn. 115
— , Karl 87. 113
— , P. 129
— , Werner 93
— V. Knonau, G. 35
— aus Speyer, W. 9. 38
Michael, E. 84. 85
Michell, R. 108
Miller, E. W. 132
— , W. 127
V. Minnigerode, H. 48
Miret y Sans, J. 98. 119
Mirot, L. 119. 125. 126
Mittag, H. 104
MöUenberg. W. 85
Moeller, R. 46. 57. 76. 85.
luO. 114
Mohler, L. 99
Molitor, E. 129
Molkenteller, P. 142
Mollat, G. 116
Moore, E. 112
Morghen, R. 27
Moufazzal Ibn Abil-Fazail 95
Mourret F. 6
Mowat, R. B. 19. 34. 126
Mülilhäuser, A 8
Müller, Conr. 1U6
— , .loh. 135
— , K. 0. 30. 101
— , W. 96
— , Wilh. 41
Much, R. 21
M Unding, E. 137
Musatti, E. 103
Naegle, A. 37. 60
Nagel, F. 109
Napolitano, R. 89
Naumann, L. 110
Neckel, G. 7. 21.
Neumann, C. 11. 14
— , Rieh. 99
— , Rieh. 99
Nickel, W. 36
Nieborowski, P. 124
Niebuhr, C. 108
Niese, H. 75
Norden, E. 21
Oczipka, P. 122
Oeconomos, L. 84
Offergelt, F. 4
Omont, H. 140
Oppermann, 0. 79
Orsier, J. 93
Orton, C. W. 20
Ostwald, P. 103
V. Ottenthai, E. 140
Otto, H. 67. 84
Overbeck, F. 6
Pacheu, J. 99
Paetow, L. J. 136
Panella, A. 137
Paquet, A. 56
Pardi. G. 103
Parisot, R 60
Pastorello, E. 137
Peitz, W. M. 26. 139
Pelikan. B. 121
Pelster, F, 96
Pereis, E. 37
Petit-Dutaillis, M. 29
Pfalz, A. 86
V. Pflugk-Harttung, J. 124
Philippi, F. 4. 46. 48. 58.
102. 105
Philippson, M. 77
Pick, R. 35
Picotti, G. B. 130
Pijper, F. 122. 123
Pirie-Gordon, C. H. E. 83
Planitz, H. 50
V. Plotho, W. 47
Plunkot, J. L. 134
Pöschl, A. 31. 41
Pollard, A. F. 127
Poole, R. L. 30. 59. 62. 63.
64. 139
Porter, A. K. 13
Portigliotti, G. 130
Posner, E. 139
Puuitney Bigelow 20
Poupardin, R. 61
146
Prentout, H. 70
Preuß, H. 55
Previte Orton, C. W. 59
Prochnow, F. 81
Proehl, H. 32
Prou, M. 29. 61. 116
Prutz, H. 55. 126
Pudor, W. 26
Rachfahl, F. 111
Eassow, P. 32
Eathgen, B. 118
Eauch, K. 81
Eeade, W. 112
Eehme, P 104
Eein, A. 132
Beinach, S. 20
Eeincke-Bloch, H. 102
Eeisch, Chr. 16
V. Eeitzenstein, F. 81
Eeutter, H. 109
Eeynaud, L. 9
van Ehijn, M. 132
Eid, L. 36
Eiegel, J. 36. 124
Eiesch, H. 72. 121
Eieß, L. 19
Eisi, N. 69
Eitter, M. 1. 4
Eodenberg. C. 92
Eörig, F. 103
Eoessingh 4
Eötting, F. 83
Eogge, H. 60
Eose, H. 71
Eoseustock, E. 42. 45. 85. 88
Eossi, M. 123
— , T. 103
Eotli, F, 72
— , K. 25
Eound, J. H. 74. 83. 93
Eoussel 83
Eoviglio, A. 27
Eudolph. F. 105
Eübel, K. 105
Euini, M. 68
Sabatier, P. 15
Sabbadini, E. 131
Saitschick, E. 15
Salatiello, G. 121
Salomon, E. 117
Salvioli, G. 54
Salzmann, L. F. 74
Samaran, C. 140
Sandn-s. J. E. 138
dalla Santa, G. 125
Savio, F. 59
Saxl, F. 12
V. Scala, E. 25
Scaramella, G. 131
V, Schaching. 0. 123
Schäfer, A. 15
— , D. 52. 109
— , K. H. 22. 47. 116. 118
Schaff, D. S. 123
Schairer, L. 1M3
Schalk, K. 135
Schambach, K. 9. 74. 75
Schatten, E. 133
Scheffel, P. H. 7
Scheffler, K. 10
Scheiwiler, 0. 31
Schelenz, E. 97
Scheler, S. 83
Schiaparelli, L. 59. 138
Schiff mann, K. 28
Schillmann, F. 67
Schlecht, J. 130
Schleese, K. 106
Schlüter, 0. 101
— , W. 108
Schlumberger, G. 26. 85. 95.
127
Schmauch, H. 125
Schmeidler, B. 8. 9. 63. 77.
106
Schmidt, Gust. 68
— , Ludw. 22. 29
— , Eich. 50. 70
Schmidt-Ewald, W. 110
Schraidt-Eimpler, W. 106
Schmitz, E. 15
Schmoller, G. 103
Schneider, A. 6
— , E. 128
— , Fed. 32. 54.78.83.91.94
— , Friedr. 126
— , W. 67
Schober, G. 64
Schönbaum, H. 127
Schönherr, F. 45
Schoenian, E. 58
Schöpp, N. 97
Schöppler, H. 59
Scholz, E. 56. 115. 129
Schrader, J. 113
Schranil, E. 103
Schreiber, G. 71
Schreuer, H. 22
Schröder, E. 21. 63
— , E. 39
V. Schroeder, H. G. 108
Schrörs, H. 60. 73
V. Schubert, H. 5. 37
Schüpferling, M. 98
Schürmeyer, "W. 130
Schulte, A. 46. 102
Schulte, J. 48
Schultze, Alfr. 104
Schwalm, J. 112
Schwark, B. 61
Schwartz, E. 26
— , G. 67
Schwarz, K. 98
Schwarze, W. N. 123
V. Schwerin, Cl. 21. 22. 29.
40. 48
Schwertmanu, H. 58
V. Schwind, E. 40
Seckel, E. 36. 138
V. Seckendorff, E. 121
Sedlacek, A. 140
Sedlcäk, J. 123
Seeberg, E. 6
Seeck, 0. 20
Seeliger, G. 1. 23. 101
Sehring, W. 121
Seidenschnur, "W, 46
Seilin, G. 69
Sepp, B. 31
Serafini, A. 83
Sever, J. 16
Sicardi, E. 95
Siegl, K. 123
Siivestri, D. 15
V. Simson, B. 36. 85
Singer, H. 91
— , S. 9
Singermann, F. 48
V. Sisic, F. 127
Slatarski, W. N. 127
Smith, E. 15
Solari, A. 20
Soldevila, F. 95
Solmi, A. 103
Sombart, W. 51
Sommer, Cl. 99
Soranzo, G. 93. 131
Sorbelli, A. 121. 137
Spearing, E. 27
Spengler, 0. 10
Sperling, E. 57
Spieß, W. 101
Spitzer, L. 28
Stäbler, H. 3
Staneff, A. 127
Stead, M. T. 65
Steele, F. M. 72
de Stefano, A. 91
Stein, E. 25. 26
— , H. 61
-, W. 107
Steinhausen, G. 2
10*
147
Stengel, E. 140
Stenton, F. M. 30
Sternfeld. R. 95
Sthamer, E. 89. 140
Stieglitz, D. 115
Stievc, F. 56
Stimmin!?, M. 88. 110. 136
Stindt, II. 80
Stöckerl D. 115
Störmann, A. 98. 134
Stoeveu, M. 105
Stolz, 0. 118
Stowasser, 0. 141
Strecker, K. 38. 61
Strieder, J. 106
Ströbele, H. 117
Strzygowski, J. 11
Stutz, ü. 40. 41. 71. 79. 86.
106. 113
Sudhoff, K. 90
Süßmilch, H. 8
Sundwall, J. 20
Swoboda, K. M. 12
Tait, J. 119
Tallone, A. 93
Tangl, G. 25
— , M. 30. 31. 34. 80. 138.
139. 140
Tarducci, F. 27
Techen, F. 104
Teichmann. E. 35
Temperley, Gl. 127
Ter-Grigorian Iskanderian,
G. 72
Terlizzi, S. 94
Terry, S. B. 119
Thallöczy, L. 127
Thaner, F. 65
Theile, F. 117
Thimme, H. 29
Thompson, J. W. 110
Thordeman, B. 97
Thorndike, L. 96
Tilemann, H. 15
ToUi, F. 68
Tondelli, L. 68
Tosi, M. 139
Tout, J. F. 101. 118. 136
Troeltsch, E. 4
Twemlow, J. A. 126
Uhlirz, M. 54. 122
Unwiu, G. 119
Vacandard, E. 129
Valois, N. 116
Vancsa, M. 95
Vattano, M. HS
Verdun di Cantoguo, P. 62
Verger, A. 15
Vetter, F. 31
Viard, J. 119
Vidal, J. M. 116
— , P. 117
Vidier, A. 136
Vigener, F. 52
Villemagne, A. 83
Vinogradoff, P. 20. 83
Visconti, A. 33
Vogel, W. 106
Vogt, E. 46
Voigt, K. 37
V. Voltelini, H. 49. 51
Vonschott, H. 133
Waas, A. 50. 65
Wagner, G. 105
Wahrheit, H. 47
Wallace, R. S. 119
Wallis, C. 126
Walser, E. 131
Walther, A. 135
Warp, F. D. 72
Weber, Gertr. 129
Wehling, B. 98
Weibull, C. 77
— , L. 73. 77
Weinberger, W. 137
Weisbach, W. 18
Weise, G. 12. 22
Weller, K. 87
Wenck, K. 15. 96. 98. 118
Werminghoff, A. 40. 43, 55.
57. 117. 123. 125. 134
Werner, P. 107
Wever, L. 51
Whitney, J. P. 67
Wibel, H. 102
Wieczorek, G. 71
Wiedemann, E. 89
Wilhelm, Fr. 141
Will, E. 111
Wilmot-Buxton, E. M. 126
Wilmotte, M. 61
Wilpert, J. 12
Wilser, L. 7
Wilson, H. A. 30
Winkler, E. 28
Winter, G. 41
Wirz, C. 130
Witte, H. 108
j 97
Wolkan, R. 16. 130
Wolzendorff, K. 43
Woodbine, G. E. 93
Wopfuer, H. 3. 4
Worringer, W. 10
Wozasek, B. 71
Wunderlich, B. 87
— , E. 62
Wutte, M. 135
Wutke, K. 140
Wyüe, J. H. 125
Young, G. F. 19
Zedier, G. 17
Zeglin, D. 47
Zeumer, K. 86. 117
Zeydel, E. H. 56
Zibermayr, J. 129
Ziesemer, W. 124
Zimmermann, H. 121
Zoegger, J. 22
Zoepf, L. 31. 62. 116
Zonta, G. 124
Zucchelli, N. 68. 121
Zwierzina, K. 117
Zycha, A. 43. 51. 109
148
Sachverzeichnis
Adel 21. 46 f.
Agrarwesen 3. 52
Alterhimsausgang 20
Altertumskunde , germa-
nische 7
Angelsachsen 30
Aragonesische Forschungen
98
Augustin, Augustiner 4f. 42.
133
Avignoneser Kurie 116
Bannleihe 49. 66. 86
Bauernstand 49
Beginen 115
Benedikt, Benediktiner 22.
129
Bernhard v. Clairvaui 72
Berthold v. Henneberg 135
Berufsteilung, städtische 104
Bibliographie 135 ff.
Bibliothekswesen 7. 36
Biergelden 48
Böhmen, Mähren 37. 60. 109
Bonifaz, Apostel 30 f.
— VIII. 98 ff.
Briefe 73.91.117, 120. 123.
130 ff.
Brüder v.gemeinsaraenLeben
133
Bulgaren 127
Burgenverwaitung 89
Burgund 59 ; Neuburgund
125 ff.
Bvzanz 25 ff. 54. 62. 64.
'84. 127
Canossa 67
Chronologie 142
Colonna 99
Dänemark 60. 63. 77
Dante Ulf.
Deutsche Geschichte (Ge-
samtdarstellungen) 52
Deutschherrenorden 107.
124 f.
Dichtung 8 f. 30. 38. 61 f.
99. 106
Dominikaner 96. 115. 132 f.
Eigenkirchenwesen 24. 37.
46. 65 ff.
Eike V. Repgow s. Sachsen-
spiegel
Einhard 34 f. 36. 38
Englische Geschichte 19f.30.
52. 70. 74. 83. 92. 97.
100. 1181 122. 125 ff.
Epigraphik 138
Ezzelin 93
Fehde 49
Finanzgeschichte 51 f. 121
Finanzpolitik, päpstliche 92ff.
116. 128
Flämische Kolonisation 110
Formelbücher 140
Forst 29
Franziskusforschung, Fran-
ziskaner Uff. 90. 96
Französ. Geschichte 37. 61.
83. 93. 100. 103. 119.
1251 128
Französ. Kultureinfluß 9
Freie 48
Freigrafschaften (Feme) 49 f.
Friedensidee 55
Friedrich!., Kaiser 72fl 141
— IL, Kaiser 17. 71.84ff. 140
Geißler 94
Geldkurs 116
Genua 89. 97. 127
Geographie, historische 142
Gerichtsbarkeit, geistliche 90.
13:i
Gerichtswesen 29. 48 ff.
Germanen, Name 21
Geschichtsschreibung 1. 8.
52. 58. 63. 70. 73. 77.
79. 85. 871 90. 93. 95.
98. 112. 116. 137
Geschichtsstudium 18
Geschworenengericht 50. 70
Goldene Bulle 117
Gothik 10. 13
Gregor 1. 27. 1391
- VII. 64 ff.
Habsburger 95. 99 f. 113.
129. 135. 1411
Hamburg-Bremer Erzb. 31.
63
Handelsgeschichte 28. 72.
105 ff.
Handschriftenkunde 131.137.
Hanse 106fl
Heeresfolge 49
Heinrich VI., Kaiser 78 ff.
— d. Löwe 74 fl 1021
Hildegart v. Bingen 72
Humanismus 8. 14. 17. 119.
129fl
Hundertschaft 21
Huß, Hussiten 1221
Immunität 651 102
Imperiaüsmus s.Kaiserpolitik
Innozenz III. 82 fl 1401
Innozenz IV. 91 fl 141
Inquisition, kirchl. 90
Inquisitionsprozeß 50
Investiturstreit 64 ff.
Islam 261
Italienische Geschichte 19.
531 .09. 62. 741 78 fl
82. 881 113; italienische
Städte 103
Jeanne d'Arc, Jungfr. v. Or-
leans 126
Johann XXIL 98. 1161 141
Juden 48. 87
Kaiserkrönung 56 ff. 86
Kaiserpolitik 53. 66
Kaisersage 56
Kaiserwahl 79. 88. 114
Kanonistische Studien 36. 65.
68. 71. 86. 91. 114
Kapitalismus 51. 106
Kardinalskollegium 68. 82.
91. 97. 117. 1291
Karl d. Gr. 34 fl 137
— IV., Kaiser 1171 140
— V. Anjoii 94
Karolingerzeit 27 ff. 142
Katharina v. Siena 120 f.
149
Ketzerei 6. 56. 83. 90. 99
Kirchengeschichte, allg. 5 f.
121
Kirchenreform 128 f. 132 ff.
Kirchenstaat 31 ff. 117
Königsgut 50. 87
Königswahl 87 f.
Konstautinische Schenkung
33. 57
Konzilien : Konstant. (553)
26; Lyon (1245) 92; Pisa
(1409) 122; Konstanz
(1414) 1241 12H; Basel
(1431) 126. 129; Siena
(1423) 128; Ferrara-FIo-
renz (1438) lvi9
Kreuzzüge 72. 84 f. 93. 95.
127
Kulturgeschichte 1 ff.
Kunst, bildende 11 ff. 22.
38. 71
Kunstphilosophie 9f
Kurfürstentum 871 117. 129
Landfrieden 121
Landstände 44. 111
Langobarden 27. 54
Lehenswesen 281 43 f.
Lombardei 911
Ludwig d. Fr. 36
— d. ß. 112fl 125'
Manfred 94
Markgenossenschaft 3
Marktprivilegien 101 f.
Maß- und Gewichtswesen 38.
107
Mathilde v. Tuszien 68
Maximilian L, Kaiser 135
Medizingeschichte 6
Merowingerzeit 22 ff. 140
Ministerialien 47
Minnesang 9
Münzweseu 23. 87. 142
Muntherrschaft 66. 81
Mystik 1151
Naturgefühl 8
Normannen 37. 70
Norwegen 77
Orienteinflüsse 9. 111
Osmanen s. Türken
Osten , Gerinanisation des
deutschen 98. 108 fl
Ottonen 531 58 fl 66
Paläographie 33. 137 f. 140
Palimpseste 137
Papstgeschichte 19. 27. 31 fl
371 58. 62 fl 73. 78 fl
82 fl 96 fl 114fl 128 fl
141
Papstwahl 91. 97. 130
Pataria 67
Patrozinieuforschung 24
Periodisierung 8. 17 f. 42. 82
Petrarca 14. 119
Pfleghafte 48
Philosophiegeschichte 6. 96
Pippin 31 fl
Polen 60. 109. 124
Polo, Marco 97
Prämonstratenser 71
Pseudoi.sidor 36
Publizistik 64. 112. 115.122.
1241 131
Rechtsanschauung 42
Rechtsgang .'iO
Rechtsgeschichte 39 ff. 129
Rechtsquellen 221 29. 41.
851
Regalienrecht 81
Registerwesen 139
Reichsacht 51
Reichsfürstenstand 45 1
Renaissance 14 ff. 130fl
Rienzo 161 117
Ritterstand 9. 47
Römische Volkssouveränität
58
Rudolf V. Habsburg 95
Ruprecht v. d. Pfalz 1211
Sachsenspiegel 49. 851
Salier 62 fl
Salinen 51
Schisma 119fl
Schöffenbarfreie 48
Scholastik s. PhilosoiAie-
geschichte
Schulwesen 6
Schweden 63. 73
Schweiz 50. 69. 87. 113. 130
Schwurgericht s. Geschwore-
nengericht
Seewesen , Seeschiffahrt,
Flotte 89. 106
Serben 127
Siegelkunde 141 f.
Sittengeschichte 83. 87. 113
Sizilien 70 fl 78. 821 89.
941 98
Slowenen 25
Spanische Geschichte 41.
128. 134
Spolienrecht 81
Staat 43 fl 851 96
Staat und Kirche 5. 25f. 30fl
63 fl 71. 731 78 fl 82.
90 fl 93. lllfl 122
Städtewesen lUOfl
Stadtprivilegien 102
Stadtratsverfassung 102 ff.
Stadtverwaltung 104
Stadtwirtschaft 1041
Staufer 72 fl 84 ff.
Steuern 1221
Steuerfreiheit der Geistlichen
90
Templerorden 98
Territorien (Landeshoheit)44.
88. 90. 1101 184
Toskana , Reichsverwaltung
54. 94. 121
Türken (Osmanen) 127. 130
Unfreie 43
Ungarn 91. 127
Urbare 51
Urkundenfälschungen 31. 33.
63. 66. 14ul
Urkundenforschung 611 69.
731 751 83. 89. 92. 971
104. 107. 118.123. 138 fl
Vagantenpoesie 81
Vandalen 20
Venedig 20. 84. 103
Verkehrsgeschichte 7. 87.
108; vgl. Handel
Vogtei 651
Wachszinsige 48
AVappenkunde 142
Weinsberg 59. 72
Weistümer 41
Weltanschauung , Weltbild
61 96
Weltgeschichte 19
Wenzel 121. 140
Westgoten 20
Wiciif 122
Widerstandsrecht 421 86
Wirtschaftsges<hichte 2. 3.
25.271511 54.94. 1041
Wormser Konkordat 69
Wüstungen 51
Zi.sterzienser71.97.113. 129
Zünfte 103. 105
Zweikampf 49. 76. 95
150
Druck von Friedrich Andreas Perthes A.-Q. Gotha
Wissensch ältliche
Forschungsberichte
Herausgegeben von Professor Dr. Karl Hönn
Geisteswissenschaftliche Reihe
1914—1920
Neuere deutsche Literaturgeschichte
Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Stuttgart-Gotha 1922
Neuere deutsche
Literaturgeschichte
bearbeitet
von
Paul Merker
Professor an der Universität Greifswald
Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Stuttgart-Gotha 1922
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechtes, vorbehalten
Vorwort
Als der Verlag mit dem Anerbieten an mich herantrat, für seine
„Wissenschaftlichen Forschungsberichte" als Ergänzung zu der von
Baesecke bearbeiteten „Deutschen Philologie" i. e. S. das Referat über
die „Neuere deutsche Literaturgeschichte" zu übernehmen, ging ich nicht
ungern darauf ein, schien es mir doch ebenso für die fachwissenschaft-
liche Entwicklung erwünscht wie im eigenen Interesse heilsam, die durch
die äußeren Verhältnisse der Kriegszeit und die inneren Stimmungen
der ersten Nachkriegsjahre mehr oder weniger gelockerten Beziehungen
zu den neueren Erscheinungen der literarhistorischen Wissenschaft durch
einen summarischen Überblick wieder fester zu begründen. Im Laufe
der beiden letzten Jahre hat mich freilich diese eingegangene Verbind-
lichkeit oft genug bedrückt. Äußere und persönliche Gründe, besonders
meine unterdessen erfolgte Berufung nach Greifswald, die damit erwach-
senen neuen beruflichen Verpflichtungen und die Entfernung von groß-
städtischen Verlags- und Bibliotheksverhältnissen traten vielfach hem-
mend in den Weg. Vor allem aber kam mir die Schwierigkeit der
Arbeit erst im Laufe der Zeit zu vollem Bewußtsein. Bei dem Mangel
jeglicher bibliographischer Vorarbeiten, wie sie durch das Stocken der
großen referierenden Organe bedingt war, stellte schon die rein sam-
melnde und ordnende Tätigkeit keine leichte Aufgabe dar. Nach Aus-
scheiden einer großen Anzahl völlig wertloser oder doch die Wissen-
schaft wenig fördernder Erscheinungen blieben, ohne die 170 nur biblio-
graphisch verzeichneten Nachträge vorwiegend aus den Jahren 1920 bis
1922, fast 600 Bücher und größere Aufsätze zur Bearbeitung übrig. Es
liegt auf der Hand, daß eine solche so große Zeiträume und eine Fülle
von Erscheinungen umfassende Berichterstattung gewisse unvermeidliche
und mir sehr wohlbewußte Ungleichheiten und Mängel enthält. Da der
deutsche Buchhandel bei der Schwierigkeit seiner gegenwärtigen Lage
mich leider nur ganz wenig durch Zusendung von Besprechungsexem-
plaren unterstützte, und eine auf der Höhe stehende germanistische
Spezialbibliothek mir nicht zur Verfügung stand, konnte ich das eine
oder andere der in den allerletzten Jahren erschienenen Bücher an meinem
gegenwärtigen Wirkungsorte nicht in die Hände bekommen. Auch sonst
brachte es der immer weitergehende Fluß der Neuerscheinungen und
die Schwierigkeit, an entlegener Stelle herausgekommene Forschungen
zur Benutzung zu erhalten, mit sich, daß das Grundprinzip, in den
Bericht alle Werke der Jahre 1914 — 1920 aufzunehmen und nur die
Erscheinungen der beiden letzten anderthalb Jahre dem bibliographischen
Anhang zu überweisen, nicht ganz streng durchgeführt werden konnte,
und besonders das Jahr 1920, das infolge der verzögerten Erscheinung
dieses Referates erst nachträglich in die Berichterstattung einbezogen
wurde, mit einer teils darstellenden, teils nur bibliographisch verzeich-
nenden Berücksichtigung eine ungleichmäßige Behandlung erfuhr. Auch
in der Ausführlichkeit der Berichterstattung wird man vielleicht der
einen oder anderen Dissertation etwas zuviel Raum eingeräumt finden,
während in anderen FäUen dem Leser unter Umständen eine eingehendere
Behandlung erwünscht gewesen wäre. Hier war der Umstand, daß
die in den letzten Jahren besonders oft genannten Bücher mit einiger
Wahrscheinlichkeit dem Benutzer, sei es in Originalform, sei es durch
eingehende Sonderanzeigen, bereits bekannt waren, für einen nur kürzeren
Hinweis entscheidend, der an sich nicht der Bedeutung des betreffenden
Buches angemessen sein konnte. Dem Grundgedanken dieser Forschungs-
berichte entsprechend durfte es sich im ganzen nur um eine referierende
Übersicht handeln, die dem kritischen Moment nur in allgemeinen Ur-
teilen über den Wert oder Unwert der einzelnen literarhistorischen
Arbeiten und dem Hinweis auf ihre Hauptresultate Rechnung trug und
sich auf Einzelausstellungen nicht einließ.
Meiner Frau und treuen Mitarbeiterin sei auch an dieser Stelle
für unermüdliches Mitschaffen mit herzlichem Danke gedacht.
Merker
Inhaltsübersicht
Seite
§ 1. Prinzipien und Methoden 1
§ 2. Allgemeine Literaturgeschichte 9
§ 3. Bibliographien und Zeitschriften 17
§ 4. Reformation und Humanismus 21
§ 5. Das Zeitalter des Barock 46
§ 6. Aufklärung 57
§ 7. Empfindsamkeit und Sturm und Drang 67
§ 8. Klassizismus 74
§ 9. Eomantik 89
§ 10. Die führenden Dramatiker des 19. Jahrhunderts 106
§11. Das junge Deutschland und der Zeitroman 116
§ 12. Realismus 121
§ 13. Neuklassizismus 128
Bibliographie der in den Jahren 1920/22 erschienenen Werke und
Nachträge 132
Verfasser namen 137
Sachverzeichnis 141
vu
§ 1. Prinzipien und Methoden
Es ist immer ein Zeichen innerer Kraft und verheißungsvoller Ent-
wickhing, wenn eine Wissenschaft neben der praktischen Alltagsarbeit
und Einzelforschung sich prinzipiellen Fragen und methodischen Er-
wägungen zuwendet. Liegt in solchem Selbstbesinnen mit seiner theo-
retischen Anbahnung neuer Wege und Zukunftsmöglichkeiten doch ein
jugendfrisches Vorwärtsdrängen, während in Zeiten gesunkenen Selbst-
vertrauens und wissenschaftlicher Erlahmung nur ein müdes Fortspinnen
des einmal aufgelegten Fadens zu beobachten ist. Schon geraume Zeit
vor dem Weltkrieg war die deutsche Literaturgeschichte, nachdem sie
über ein Menschenalter lang fleißiger und ertragreicher, aber im ganzen
etwas engumgrenzten Forscherarbeit obgelegen hatte, in ein solches neues
Entwicklungsstadium eingetreten, das in vieler Hinsicht eine Verschiebung
und Bereicherung der Fachinteressen brachte, neue Probleme aufstellte
und die alten nicht selten in andere Beleuchtung rückte. Der Tod einer
Anzahl hochverdienter Vertreter der literarhistorischen Wissenschaft — ich
nenne nur A. Schönbach (f 1911), B. Suphan (f 191l), J. Minor (f 1912),
E. Martin (f 1912), E. Schmidt (f 1913), R. M. Werner (f 1913),
0. Harnack (f 1914), R. M. Meyer (f 1914), W. Creizenach (f 1918) —
schien auch äußerlich zu dokumentieren, daß die ältere Forschergeneration
langsam zurückzutreten begann und jüngere Kräfte mit neuen Idealen
mehr und mehr den Kurs bestimmten. Die eigentlichen Wurzeln für
diese immer deutlicher zur Erscheinung kommende Umbildung und Aus-
dehnung der hterarhistorischen Disziplin aber lagen tiefer und waren in
den schon in der letzten Zeit des kaiserlichen Deutschland leise zu
spürenden Umwandlungen der allgemeinen Welt- und Lebensanschauung
begründet, die vom Speziellen, Stofflichen, Persönlichen einen wachsen-
den Zug zum Allgemeinen, Geistigen, Überpersönlichen erhielt. Spiegelt
doch die einzelne Wissenschaft als Teilerscheinung des Kulturganzen,
solange sie nicht einem lebensfremden Alexandrinertum anheimfällt, in
der Wahl ihrer Probleme und der Art ihrer Durchführung getreuHch
die Gesamtstimmung einer Zeit wider. — Zwei Fragen sind es, um
die es sich bei diesen Erörterungen besonders handelte: einmal die Be-
deutung und Stellung der deutschen Literaturgeschichte überhaupt und
andererseits die Methoden, mit denen sie ihre wissenschaftlichen Ziele
verfolgt.
In ihrer älteren Entwicklungsphase, die etwa die beiden ersten
Drittel des 19. Jahrhunderts umfaßt, hatte sich die Erforschung und
Wissenschaftliche Forschun^sberichte VIII. 1
1
Darstellung literarischer Denkmäler der nationalen Vergangenheit noch
nicht recht zum Range einer selbständigen Wissenschaft durchgerungen.
Sie wurde entvveder von Vertretern anderer Disziplinen gewissermaßen
nebenberuflich mit erledigt und entbehrte in den Händen von Historikern,
Philosophen, Theologen, Kunstgelehrten und Journalisten, so vortrefflich
einzelne ihrer Leistungen waren, des festen wissenschaftlichen Unter-
grundes und einer tieferen methodischen Schulung. Oder aber sie wurde
von der neubegründeten Wissenschaft von der deutschen Philologie,
deren Hauptinteressen durchaus auf sprachlichem, mythologischem, sagen-
geschichtlichem und volkskundlichem Gebiete lagen und in der Haupt-
sache nur die Welt des deutschen Mittelalters umspannten, im allgemeinen
bloß mit einer Nebenrolle bedacht, so grundlegende Erkenntnisse auch
von dieser Seite ausgingen. Die fachfremde Behandlung jener früheren
Entwicklungsstufe hat die Literaturgeschichte, wenn wir von der mehr
oder weniger zufälligen dilettantischen Mitarbeit einzelner absehen, heute
im ganzen überwunden, indem ein eigener Stand von Literarhistorikern
mit besonderen Lehrkanzeln sich ausgebildet hat. Um ihre volle An-
erkennung von Seiten der altdeutschen Philologie dagegen kämpft sie noch
heute. So wird es begreiflich, daß auch einige jüngst erschienene, sonst
ihren Zweck vortrefflich erfüllende Studienratschläge und Gebietsum-
grenzungen altdeutscher Philologen (v. d. Leyen, Das Studium der
deutschen Philologie, München 1913; G. Bäsecke, Wie studiert man
Deutsch? München 1917; V. Michel, Über Begriff und Aufgabe der
deutschen Philologie, Jena 1917) mehr oder weniger die Literaturgeschichte
nur stiefmütterlich behandeln. Und doch kann es nicht mehr zweifelhaft
sein, daß die literarhistorische Forschung, so dankbar sie auf die jahr-
zehntelange Verkoppelung mit der reinen Philologie zurückblickt und
so notwendig auch für die Zukunft nahe Berührungen und wechsel-
seitige Befruchtungen sind, sich nachgerade zu einer selbständigen Wissen-
schaft ausgewachsen hat, deren eigenwertige Bedeutung über kurz oder
lang in speziellen Ordinariaten an allen deutschen Universitäten zum
Ausdruck kommen muß. Notwendig dafür freilich ist, daß das gegen-
wärtig vielfach fast verlorengegangene Gefühl von der inneren und
äußeren Einheit dieser über tausendjährigen literarischen Kultur Deutsch-
lands wieder voll zum Bewußtsein kommt und die Sezessionsansprüche
einer besonderen neueren deutschen Literaturgeschichte zurückgedrängt
werden. Rein entwicklungstechnisch betrachtet hat diese seit dem letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts sich ausbildende und in den jüngst-
vergangenen Jahrzehnten zu überragender Bedeutung gelangte neuzeit-
liche Literaturwissenschaft, ganz abgesehen natürlich von der Fülle ihrer
Resultate, ihre zweifellosen Verdienste darin, daß sie die literargeschiclit-
liche Forschung von der Vorstellung einer nur philologischen U'eil-
disziplin oder eines mehr oder weniger dilettantischen Studiengebietes
befreite und zu voUwissenschafthchem Range erhob. Dringend wünschens-
wert aber ist nun, dal.5 diese als selbständiges Gebiet anerkannte literar-
historische Wissenschaft nunmehr ihre so erfolgreichen Emanzipations-
bestrebungen auch auf die mittelalterliche Hälfte ausdehnt und durch
2
Ablösung der literargeschichtlichen Probleme jener früheren Jahrhunderte
aus dem Verband der vorwiegend sprachlich - antiquarisch gerichteten
altdeutschen Philologie ihren Herrschaftsbereich auch voll ausfüllt. So
war es zu begrüßen, daß J. Petersen in seiner Schrift „Literatur-
geschichte als Wissenschaft" (1914); die einige zuvor in der Germanisch-
Romanischen Monatsschrift erschienene Aufsätze etwas verändert und
erweitert zusammenfaßt, das hterar historische Gesamtgebiet einer syste-
matischen Betrachtung und kritischen Prüfung unterzog, indem er die
Stellung der älteren und neueren Literaturgeschichte zu den benach-
barten Wissenschaften, besonders innerhalb des Rahmens der deutschen
Philologie, beleuchtete und vom Standpunkt historischer Beurteilung aus
eine Reihe methodischer Fragen und allgemeinerer Gesichtspunkte klar
und anregend untersuchte.
Handelte es sich Mer darum , die im letzten Menschenalter immer mehr zum
Ausdruck gekommene wissenschaftliche Vollwertigkeit der literargeschichtlichen Dis-
ziplin durch eine prinzipielle Erwägung und kritisierende Rückschau auch theoretisch
zu erweisen, so gingen mehrfach pädagogische Bestrebungen der letzten Jahre darauf
hinaus, die schulische Behandlung deutscher Literaturdenkmäler mit der Belehrung
über andere Zweige des nationalen Kulturlebens und der heimatlichen Naturkunde zu
ver(|uicken und zu einem höheren Begriff der Deutschkunde zusammenzufügen. Der
starke vaterländische Impuls, der namentlich in den ersten Kriegsjahren durch das
deutsche Volk hindurchging, und das bittere Gefühl, sich auch im neutralen Ausland
dauernd ungerecht beurteilt zu sehen, ließen begreif Uch erweise in den reformpäda-
gogischen Erörterungen diese nationaldeutsche Note besonders stark anklingen. In
diesem Sinne legte z. B. "W. M. Becker in einem „Deutschkunde oder Germanistik?"
betitelten Aufsatz der „Grenzboten'' (1917; Jahrg. 76, S. 137—146) den Plan eines
einheitlichen Faches vor, das in seinen weiten Grenzen deutsches Leben, deutsche
Natur und deutsche Vergangenheit in allen ihren verschiedenen Erscheinungsformen
umfassen sollte. Schoß eine solche rein volkstümlich orientierte Pädagogik entschieden
über das Ziel hinaus, indem die von derselben Lehrpersönlichkeit danach verlangte
Beherrschung ganz heterogener Stoffgebiete unter dem nur äußerlich einenden natio-
nalen Gesichtspunkt die Gefahr oberflächlicher Behandlung nur zu nahe legte, so hatte
diese Strömung doch auch ihr Gutes, soweit sie sich in annehmbaren Grenzen hielt.
Das Pflanzen- und Tierleben, Staat und Recht, Handel und Wirtschaft u. a. m. konnten
unmöglich in diese germanistische Wissenschaft einbezogen werden. Wohl aber war
es vielfach förderlich, daß man in dieser deutschkundlichen Disziplin neben der
Literatur- und Sprachgeschichte auch der übrigen geistigen Kultur, besonders der
Religion, bildenden Kunst und Musik, mit ihren parallelen Entwicklungstendenzen
mehr Beachtung als bisher schenkte. In dieser Hinsicht war die wähi'end des Krieges
erfolgte Erweiterung der „Zeitschrift füi' den deutschen Unterricht", deren wissen-
scbaftliches Niveau sich schon seit einer Reihe von Jahren erfreulich gehoben hatte,
zu einer ,, Zeitschrift für Deutschkunde" mit allgemeineren Interessen wohl begründet.
Die 1917 unter Beihilfe einer Reihe von Mitarbeitern von AV. Hofstätter, dem
einen Herausgeber dieser Zeitschrift, bearbeitete „Deutschkunde" legte in populärer,
aber gediegener Form dar, was alles an deutscher Art und Kunst unter diesen Ge-
sichtspunkt fällt und geeignet ist, in Leben und Schule das Selbstbewußtsein des
•Jeutschen Menschen zu heben. Von dieser pädagogischen Neueinstellung bleibt natür-
lich der durchaus selbständige Charakter der rein wissenschaftlichen Literaturgeschichte
unbeeinträchtigt, wenn auch hier eine engere Berührung mit der allgemeinen kulturellen
Vergangenheit vielfach anregend wirken könnte.
Auffallend lebhaft wurden daneben im Zeitraum der Berichtsjahre
methodische Fragen erörtert, die schon vorher in der Diskussion
wachsende Bedeutung gefunden hatten und deren Gegensätzlichkeit be-
sonders bei der Erörterung über die Wiederbesetzung des durch den
1*
3
Tod Erich Schmidts erledigten Berliner Lehrstuhls offen zutage trat.
Fast ein Jahrhundert lang hatte die zunächst in der altdeutschen Philo-
logie glänzend bewährte, dann besonders von der Öchererschule mit
reichstem Erfolg auf Probleme der neueren deutschen Literaturgeschichte
übertragene philologisch-historische Methode fast unbeschränkt geherrscht,
indem sie die Textkritik, Entstehungsgeschichte, Quellenanalyse und
biographische Einzelforschung in den Vordergrund ihres Interessenkreises
stellte. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aber machten sich gegen
diese nicht selten zu handwerksmäßig und einseitig betriebene Methode
in steigendem Maße Widersprüche geltend, die dann besonders in jüngster
Zeit zu einer fruchtbaren, wenn auch gelegentlich ziemlich scharfen Aus-
einandersetzung der gegnerischen Ansichten führten. Teils war es das
dichterische Individuum, teils war es das geschaffene Kunstwerk, das
man durch eine neue Beleuchtung tiefer zu erfassen suchte. Nachdem
schon 1907 A. Sauer in seiner bekannten Prager Rektoratsrede nach-
drücklich auf die engen Beziehungen von „Literaturgeschichte und
Volkskunde" hingewiesen und die Wichtigkeit des stammesgeschicht-
lichen Zusammenhanges bei der Beurteilung literarischer Denkmäler be-
tont hatte, baute sein Schüler J. Na dl er diese Anschauungen, die in
der Tat ein bisher zu wenig beachtetes Element bei der historischen
Betrachtung deutscher Dichtung zu Ehren brachten, theoretisch und
praktisch weiter aus. Von seiner, auf solchen Voraussetzungen fußenden
Literaturgeschichte wird noch des näheren zu reden sein. Hier kommt
der Versuch einer „W^issenschaftslehre" in Frage, den N. im 21. Bande
des Euphorion (S. 1 — 63) veröffentlichte. Augenscheinlich stark von
Rickert beeinflußt sucht er in eingehender, freilich vielfach scholastisch-
spitzfindiger Weise unter starker Betonung der begrifflichen Ordnungs-
elemente die logisch-erkenntnistheoretischen Grundlagen literargeschicht-
licher Forschung herauszuarbeiten und kommt mit einer Ablehnung rein
zeitlicher Gruppierung zu dem Schluß, daß nur eine familiengeschichtlich
und stammeskundlich orientierte Erfassung des Schrifttums innerlich be-
gründet sei und zum Wesen der Sache vordringe. So fruchtbar diese
ganze Methode im einzelnen zweifellos sein kann und so überraschende
Erkenntnisse ihr N. in der praktischen Durchführung seiner Literatur-
geschichte abzugewinnen wußte, so sicher ist, daß damit eben nur eine
Seite der literargeschichtlichen Probleme getroffen wird und man mit
ihr allein niemals den ganzen Fragenkomplex löst. Vor allem kommt
dabei das ästhetisch-künstlerische Moment zu wenig zur Beachtung. Mit
ihrer Einstellung auf die physiologische Bedingtheit des Untersuchungs-
objekts ist diese das Schwergewicht auf die Stammesherkunft des Dichters
und den Entstehungsort der Dichtung legende Betrachtung im Grunde
verwandt mit der naturwissenschaftlichen Geistesrichtung der siebziger
und achtziger Jahre. Man wundert sich fast, daß diese Methode nicht
zwei bis drei Jahrzehnte früher zur prinzipiellen Erwägung kam.
Blieb diese stammeskundliche Literaturgeschichte auf die Prager
Schule beschränkt, so zogen zwei andere miteinander in engeren Be-
ziehungen stehende Forschungsrichtungen, die man als die psychologische
und philosophische bezeichnen kann, weitere Kreise. Beide gingen von
Wilhelm Dilthey aus oder erhielten doch von diesem Philosophen, dessen
Wirkung erst jetzt recht spürbar wurde, starke Anregungen. Das Spiel
der Lebenskräfte, wie es in der beständigen Wechselwirkung zwischen
der individuellen Psyche und den allgemeinen Zeitideen zum Ausdruck
kommt, bildet ja die Spule, um die sich die im einzelnen so vielseitigen
Gedankenfaden Diltheys spinnen. Während die individualpsychologische
Richtung, die besonders den Erlebnisvorgang im Inneren der schaffen-
den Persönlichkeit ins Auge faßt, in jüngster Zeit besondere theoretische
Erörterungen nicht anstellte, wurde die philosophische Methode, die den
Niederschlag der allgemeinen Weltanschauungskomplexe und bestimmter
Denksysteme weniger im schöpferischen Individuum als im geschaffenen
Kunstwerk untersucht, mehrfach behandelt. Es ist wohl kein Zufall,
daß besonders Forscher, denen das Problem der Romantik am Herzen
liegt, sich nach dieser Seite hin betätigt haben, spielt doch das philo-
sophische Element im Denken und Dichten dieser Epoche eine hervor-
ragende Rolle. Nachdem früher vor allem O. Walzel in diesem Sinne
gearbeitet hatte, ist es neuerdings in erster Linie R. Unger, der sein
Augenmerk vor allem auf den Ideengehalt in den Werken unserer her-
vorragenden Dichter lenkt und den philosophischen Einschlag und
geistigen Grundcharakter zum Gegenstand eindringender Studien macht.
Schon 1908 hatte er auf die Wichtigkeit der „Philosophischen Probleme
in der neueren Literaturwissenschaft" in einem Münchener Vortrag hin-
gewiesen und damit diese Forschungstendenzen, die sich um dieselbe
Zeit auch in der Kunstgeschichte und Musikwissenschaft zu regen be-
gannen, in der literargeschichtlichen Behandlung zu prinzipieller Be-
deutung erhoben. Auf sein großes Hamannbuch (19 11), das eine solche
Verschiebung der allgemeinen geistigen Struktur zum Grundmotiv der
Darstellung machte, ließ er 1917 die aus einem Basler Vortrag hervor-
gegangene Schrift „Weltanschauung und Dichtung" folgen, die nur leider
an etwas entlegener Stelle zur Veröffentlichung kam. Freilich handelt
es sich hier nicht, wie der Haupttitel vermuten lassen könnte, um eine
direkte Erörterung der inneren Beziehungen dieser beiden Kulturfaktoren
zueinander. Vielmehr wird das Problem, wie übrigens der Untertitel
auch angibt, gewissermaßen indirekt angefaßt, indem die Denkarbeit
Diltheys, des größten Vertreters dieser Wissenschaftsrichtung, in nach-
schöpferischer Analyse und ergänzender Ausdeutung zu eindringhcher
Darstellung kommt. Nachdem einleitend auf den engen Zusammen-
hang von Dichtung und Weltanschauung und in einem raschen Uber-
bhck über die wichtigsten geschichtlichen Erscheinungsformen auf die
Bedeutung dieser Verbindung gerade für die Höhenpunkte der geistigen
Entwicklung hingewiesen woi'den ist, werden die Erkenntnisse, die
Dilthey der historischen Struktur der letzten Entwicklungsphasen dieses
Problems angedeihen ließ, nachgezogen und im zweiten Teil die
systematischen Anschauungen des großen Philosophen über diese Fra-
gen, besonders seine Dreitypentheorie, zusammenfassend und kritisch be-
leuchtet.
fcl Unj^leich mehr noch aber wurde während der letzten Jahre eine
dritte Richtung: erörtert, die den iSchwerpunkt nicht auf den ideen-
geschichtlichen Gehalt, sondern auf die ästhetisch-künstlerische Seite der
Dichtung und auf das ihr innewohnende Formproblera legt. Zwar
waren auch früher, selbst in der rein philologisch -historischen Schule,
die formalen Gesichtspunkte nicht ganz vernachlässigt worden, und fein-
fühhge Literarhistoriker und Pädagogen hatten es von jeher für ihre
Pflicht gehalten, auch diesen Fragen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Vielfach aber war man dabei nicht viel über eine schönrednerische
Prädikatserteilung hinausgekommen. Wo aber ernstere technische und
formanalytische Untersuchungen angestellt wurden, standen sie zumeist
unter dem Eindruck einer rein rationalistischen Auffassung, die das
einzelne Formelement registrierend herausgriff und von einer Einfühlung
in das Gesamtkunstwerk sich fernhielt. Jetzt sollte diese Ergründung
des Formproblems durch eine intuitive Versenkung in das künstlerische
Werk angebahnt und zum Kernpunkt der literarwissenschaftlichen
Forschung gemacht werden, die damit im Grunde sich nur als eine Art
angewandter Ästhetik darstellen würde. In zahlreichen Aufsätzen lite-
rarischer und kunstwissenschaftlicher Zeitschriften sind die Grundlagen
und Ziele dieser ästhetischen Methode in den Berichtsjahren erörtert
worden.
Auf germanistischer Seite hat mit theoretischen Darlegungen besonders A. Kober
dafür eine Lanze zu brechen gesucht (vgl. Germ. -Rom. Monatsschrift VII, 109 ff. :
„"Wesen und Methoden der Literaturwissenschaft"; Zeitschr. f. Ästhet, u. alig. Kunstw. X,
191 ff. : „Der Begriff der Literaturgeschichte''; Logos VI, 1 : „Zur philosophischen
Voraussetzung der Literaturwissenschaft").
Zweifellos hat diese in erster Linie die künstlerischen Qualitäten
des Dichtwerks betonende Methode ihre hohe Bedeutung und die Ent-
wicklung unserer Wissenschaft hat den geschärften Blick für diese
spezifisch ästhetischen Werte und die formanalytischen Erkenntnisse als
wertvollen Zuwachs zu buchen. Der öfters zu beobachtenden Über-
heblichkeit und Unduldsamkeit dieser Richtung anderen Betrachtungs-
arten gegenüber aber ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß auch
diese Methode allein niemals die literarhistorischen Probleme ganz lösen
wird, sondern nur durch die sich ergänzende Zusammenarbeit der ver-
schiedenen Behandlungsweisen eine erschöpfende Erkenntnis gewonnen
werden kann. Wie übrigens die verwandten Bestrebungen in der Ro-
manistik und Anglistik, in der Kunstgeschichte und ebenso in manchen
literargeschichtlichen Arbeiten ausländischer Literarhistoriker zeigen,
handelt es sich dabei utn eine allgemeinere Strömung unserer Tage,
die letzten Endes aus dem erhöhten Erlebnisdrang und dem anti-
intellektualistischen Zuge der modernen Weltanschauung geboren ist.
Drei Forderungen sind es, soviel ich sehe, die in den theoretischen
und praktischen Äußerungen dieser methodischen Richtung namentlich
zutage treten und für sie charakteristisch sind : 1. Das wissenschaftliche
Interesse hat sich in erster Linie mit der Erklärung des einzelnen Kunst-
werkes zu befassen, das als eine überindividuelle Erscheinung durchaus
6
eigenwertige Bedeutung hat und losgelöst von seinem individuellen
Schöpfer vor allem nach seinen Formelementen zu betrachten ist. Dio
Literaturgeschichte ohne Verfassernamen wurde so zu einem viel nacb-
gesprochenen Schlagwort. Mit ihrer Beiseiteschiebung der Entstehungs-
geschichte , der zeitgeschichtlichen Bedingtheit und ähnlicher Fragen
richtet sich diese rein ästhetische Betrachtung somit gegen die philo-
logische Methode, mit ihrer bewußten Verleugnung der schöpferischen
Persönlichkeit und der von diesem Ausgangspunkt in das Kunstwerk
überfließenden stotflichen und formalen Züge wendet sie sich gegen die
biographisch - psychologische Methode, mit ihrer nahezu ausschließlichen
Beachtung der Formqualitäten steht sie schließlich auch der vorwiegend
ideenanalytisch interessierten philosophischen Methode fern. 2. Da diese
literarwissenschaftliche Forschung es nur mit den sprachlichen Kunstwerken
von unleugbar ästhetischem Wert zu tun haben will, hat nach ihrer Meinung
alles Unkünstlerische, Ephemere als historischer Ballast und bloßes Zeit-
dokument aus dem Interessenkreis dieser Wissenschaftsrichtung auszu-
scheiden. Daß damit ganze Epochen, die für unser Empfinden wenig
künstlerische Werte hervorgebracht haben, unter den Tisch fallen, läßt
die Vertreter dieser ästhetischen Methode kühl, die denn auch nirgends
sich etwa mit dem 16. und 17. Jahrhundert befassen und auch in den
folgenden Epochen nur eine Spitzenauslese betreiben. Und doch scheint
bei aller Anerkennung dieser methodischen Richtung um die bisher ent-
schieden vernachlässigten Formprinzipien die Frage begründet: Haben
wir mit unserem doch auch nur historisch bedingten Formempfinden ein
Recht, über Werke, literarische Gruppen und ganze Stilrichtungen das
völlige Verdammungsurteil auszusprechen, ja sie von jeder Beurteilung
auszuschließen, nur weil unserem ästhetischen Gefühl diese Dinge als
künstlerisch wertlos erscheinen? 3. Da das heutige Formgefühl und
ästhetische Empfinden als absoluter Maßstab angelegt wird, stehen be-
greiflicherweise diejenigen Werke und Kunstschulen, die bereits von
den gleichen oder doch ähnlichen Formgesichtspunkten getragen sind,
dieser literarwissenschaftlichen Methode innerlich am nächsten. Sie be-
schäftigt sich deshalb mit besonderer Vorliebe nur mit der Dichtung
der letzten Generationen oder mit moderner Literatur. Der heutzutage
in allen literargeschichtlichen DiszipHnen zu beobachtende Zug zur neueren
und neuesten Zeit ist somit auch durch diese gegenwärtig starken An-
klang findende methodische Richtung mit begründet.
Mehr oder weniger deutlich lassen sich dabei innerhalb dieser form-
analytischen Betrachtungsweise des letzten Jahrzehnts zwei Stufen scheiden.
Für beide gab besonders O. Walz el nachhaltige Anregungen. In seiner
früheren Entwicklungsphase hat dieser Zug zur Formerkenntnis einen
ausgesprochen kunstpädagogischen Charakter, indem die Erweckung und
Stärkung des formalen Sinnes und damit eine Anleitung zu vertieftem
Kunstgenuß als Ziel vorschwebte. Während der Kriegsjahre hat sich
neben diesen natürlich noch fortwirkenden kunsterzieherischen Be-
strebungen wieder ein rein wissenschaftliches Problem vorgedrängt, näm-
lich die Frage nach den inneren Gesetzen der Form und ihren Ent-
^vicklungsp^inzipien. Epochemachend wirkte hier H. Wölfflins auch
llir den Literarhistoriker wichtiges Buch „KunstgeschichtHche Grund-
begriffe, das Problem der Stilentwickkmg in der neueren Kunst" (1915).
Es ist auf der Überzeugung aufgebaut, daß neben den äußeren Kultur-
einflüssen die historische Abfolge der Kunststile abhängig ist von ge-
wissen immanenten Kunstvoraussetzungen, wie sie im menschlichen Sehen
und im künstlerischen Formen selbst gegeben sind. Indem es eine
lieihe sich gesetzmäßig ablösender technischer Begriffspaare aufstellt,
sucht es eine Entwicklung der neueren Kunst gewissermaßen von innen
beleuchtet und rein aus ihrem subjektiven und objektiven Material er-
klärt zu geben. Der Versuch lag nahe, diesen Grundsatz der inneren
Formgesetzmäßigkeit nun auch auf die Literatur zu übertragen, wenn
auch die Gefahr vorschneller Übernahme der in der Kunstgeschichte
gewonnenen Erkenntnisse bestand und in der Tat nicht immer ver-
mieden worden ist. Die Aufgabe jedenfalls war, zunächst einmal sich
über das Wesen und die Formeigenheiten der einzelnen Gattungen Klar-
heit zu schaffen und die darüber etwa schon geäußerten Ansichten
kritisch zu beleuchten.
Hier wirkte, wie erwähnt, besonders eine größere Anzahl von Aufsätzen
0. Walzols aufhellend, der in einem an den „Deutschen Abenden" des Berliner
Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht gehaltenen und 1916 gedruckten Vor-
trag auf die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Erforschung der „künstlerischen
Form des Dichtwerkes'' allgemein hingewiesen und durch formanalytische Beobach-
tungen besonders zu Lessings „Emilia Galotti", Ibsens ,,Rosmersholm", Jean Pauls
Romanen, Fontanes „Jenny Treibel", Zolas „Une page d'amour", Ricarda Huchs
Garibaldiroman praktische Winke gegeben hatte. Von seinen in erster Linie der
f'pischen Kunstform gewidmeten Untersuchungen sollen hier nur folgende Aufsätze
Erwähnung finden: „Formeigenheiten des Romans'- (Intern. Monatsschr. 1914, VIII,
1329ff.), „Formen des Tragischen" (ebenda 1914, VllI, 463 ff. 581 ff.), „Die Kunst
der Prosa" (Zeitschr. f. d. d. Unterr. 1914, XXVIII, Iff. 81 ff.), „Die Kunstform
der NoveUe" (ebenda 1915, XXIX, 161 ff.), „Roman und Epos" (Das liter. Echo 1915,
XVII, 581 ff. 657 ff.), „Objektive Erzählung" (Germ. - Rom. Monatsschr. 1915, VII,
161 ff.). Der diesem Formanalytiker vorschwebende AVeg, dui'ch eine „Wechselseitige
Erhellung der Künste" Klarheit über das Wesen der einzelnen Kunstzweige und
Formgattungen zu schaffen, war schließlich Gegenstand einer besonderen Darstellung,
die in den philosophischen Vorträgen der Kantgesellschaft veröffentlicht wurde (1917).
Überblickt man in diesen und so manchen verwandten Unter-
suchungen, die hier nicht im einzelnen zu Worte kommen können, diese
ganze formalistische Richtung der letzten Jahre, so scheint heute schon
deutlich daraus hervorzugehen, daß Wölfflins genanntes Buch auch hier
epochemachend wirkte, insofern nach einer Periode rein systematischer,
gewissermaßen zeitliche und räumliche Verschiedenheiten als nur schein-
bar vorhanden betrachtender Formforschung das historische Moment
wieder mehr zu seinem Rechte kommt, nur daß neben den äußeren
Entwicklungsimpulsen die inneren, in der eigenen Struktur der literari-
schen Gebilde liegenden Entwicklungstendenzen die gebührende Beach-
tung finden.
Von anderer Seite ausgehend, aber letzten Endes demselben Ziele
der Erklärung der historischen Stilformen zustrebend, stellt sich ganz
neuerdings eine weitere Methode dar, für die P. Merk er mehrfach
8
eingetreten ist und die er als „sozialüterarisehe'' Richtung bezeichnet. Sie
sucht aus der Erforschung auch der Breiten und Tiefen des dichterischen
Lebens den literarischen Grundtypus der einzelnen Epochen näher zu
bestimmen und an diesem Maßstab die individuellen Höhenleistungen
zu messen. Indem sie besonders den Abwandel und die Kreuzung der
literarischen Stilformen ins Auge faßt und im Zusammenhang mit den
umgebenden Kulturverhältnissen studiert, will sie mit der Betonung der
allgemeinen grundbildenden Strömungen und Kräfte in das innere Ge-
füge der literargeschichtlichen Entwicklung eindringen. Die Haupttrieb-
leder der historischen Stil Wandlungen und ihi-er Gesetzmäßigkeit wird
hier nicht im gewissermaßen mechanischen Ablauf technisch -formaler
Voraussetzungen, sondern in der Einbettung des literarischen Lebens in
die Abfolge kulturpsychologischer Gesaratstimmungen gesehen. Da in-
dessen diese Fragestellung zumeist erst jenseits des Berichtszeitraums
auftauchte, hat hier nicht näher davon die Rede zu sein (vgl. biblio-
graphischer Anhang über die Erscheinungen der Jahre 1920 und 1921).
§ 2. Allgemeine Literaturgeschichte
Die in den jüngstvergangenen Jahrzehnten vorherrschende Richtung
zu analytischer Weltbetrachtung ließ wie in den übrigen Wissenschafts-
gebieten so auch innerhalb der deutschen Literaturgeschichte den Sinn
und die Kraft zu einer großzügigen, die Stoffmassen geistig durch-
dringenden Synthese vermissen. Es gab wohl eine vielfach ausgezeichnete
Einzelforschung. Aber die Neigung, die zahllosen Sondererkenntnisse
höheren begrifflichen Kategorien einzuordnen und in historischen Ge-
samtbetrachtungen zusammenzufassen, war nur schwach entwickelt. So
war es wiederum bloß der Ausdruck einer allgemeinen Zeitstimmung,
daß langehin nur eine populäre oder doch nur halbwissenschaftliche
Literaturgeschichtsdarstellung das Feld beherrschte und daneben die
eigentlich gelehrte, das Tatsachenmaterial unter neue Gesichtspunkte
stellende Literaturgeschichtschreibung fast ganz fehlte. Der neue, die
tieferen Zusammenhänge und inneren Beziehungen betonende Zeitgeist
hat auch da eine Wendung gebracht und das Interesse an zusammen-
fassenden Gesamtbetrachtungen gefördert.
Jahrzehntelang war es von den Darstellungen, die den ganzen oder
wenigstens nahezu vollständigen Ablauf der literarischen Entwicklung
Deutchslands vorführten, im Grunde nur Wilhelm Scherers „ Geschichte
der deutschen Literatur" gewesen, die trotz ihrer eleganten äußeren
Form Anspruch auf wissenschaftliche Vollwertigkeit erheben konnte und
auch für den stoffkundigen Fachmann eine Quelle immer neuer Be-
lehrung blieb. Aber Scherers Werk, das 1883 zuerst hervorgetreten
war und es im Laufe eines Menschenalters auf dreizehn Originalauf-
iagen (die 13. im Jahre 1915) gebracht hatte, brach bekanntlich mit
dem „Faust" als einem „würdigen Schluß" ab, und der vom Verfasser
beabsichtigte Anhang, der eine Zusammenstellung der Tatsachen und
eine kurze Charakteristik der nachgoetheschen Zeit bringen sollte, kam
infolge Scherers frühem Tode (f 1886) nicht mehr zur Ausführung. So
war es entschieden zu begrüßen, daß die nach Ablauf der dreißigjährigen
Schutztrist zuerst 3 917 herausgokommene „Volksausgabe" des berühmten
Werkes, die auf den bibliographischen Schlußteil Verzicht leistet, in
einem aus der Feder Oskar M'alzels stammenden Anhang die Aus-
tührungen Scherers bis zur Gegenwart fortsetzt. In vier knapp ge-
haltenen, gleichwohl aber ein übersichtliches Bild gebenden Abschnitten,
die die Epoche von der Julirevolution bis 3 84 8, die Blütezeit des Realis-
mus, die Frühzeit des neuen Reiches und die Entwicklung vom Ein-
druck zum Ausdruck schildern, werden die Grundströmungen gut heraus-
gearbeitet. Die fast epische Ruhe und Plastik der Schererschen Schil-
derung hat freilich diese Fortsetzung ebensowenig erreicht wie die ältere
Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts von R. M. Meyer, neben deren
fast ausschließlich individualistischer Beurteilung die Darstellung Walzels
mehr stilgeschichtlichen Erkenntnissen zustrebt. Die knapp gehaltene
Skizze aus dem Anhang zu der Literaturgeschichte Scherers hat Walzel
dann bedeutend erweitert zu seinem selbständig erschienenen Buche „Die
deutsche Dichtung seit Goethes Tod'^ (Berhn 1919). In den Grund-
linien mit der zwei Jahre vorher Erschienenen Arbeit übereinstimmend
sucht diese neue Darstellung in Ergänzung zu A. Sörgels bekanntem
Werke besonders die jüngsten Dezennien deutscher Dichtung ausführ-
licher darzustellen. In Einzelheiten wird man natürlich nicht selten
anderer Meinung sein können (die Bedeutung Hasenclevers z. B. scheint
mir ebenso überschätzt wie diejenige Karl Hauptmanns unterschätzt) ;
im ganzen betrachtet aber bietet diese Schilderung mit ihrem bewußten
Verzicht auf äußerliche^ Datenmaterial und ihrer Betonung der Form
und des Weltanschauungsgehaltes der neueren Literatur ein feinsinniges
imd kenntnisreiches Bild der jüngsten Literaturströraungen, das freilich
vom Leser schon eine gewisse Vertrautheit mit dem Stoff fordert.
Wie hier Scherers Literaturgeschichte eine Fortsetzung bis auf die
Gegenwart erhielt, so stellte das aus dem Nachlaß Richard M. Meyers
herausgegebene umfangreiche Werk „Die deutsche Literatur bis zum
Beginn des 19. Jahrhunderts" (Berlin 1916) gewissermaßen eine Er-
gänzung nach vorn dar zu des Verfassers früher erschienener und schon
mehrfach aufgelegter Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Auch
diese letzte Gabe des ebenso kenntnisreichen wie überraschend frucht-
baren Berliner Philologen zeigt alle die Vorzüge, freiHch auch alle
Schattenseiten seiner Produktion. Bewunderungswürdige Weite des
Bhckes, Eigenart des Urteils und geistvolle Beleuchtung des Einzelnen
verbinden sich mit einer impressionistisch-sprunghaften Darstellung, einer
kaum jemals wirklich fälschen, oft genug aber schiefen Bewertung der
Dinge und einer übertriebenen Neigung zur Parallele. Immerhin aber zeigt
dieses Werk, das besonders bei seiner Behandlung des Minnesangs einen
beachtenswerten Höhepunkt literargeschichtlicher Darstellung erreicht,
eine neue Note in der so vielseitigen Persönhchkeit Meyers, die den
frühen Tod dieses verdienstvollen Gelehrten schmerzlich empfinden läßt.
Waren alle seine bisherigen literargeschichtlichen Arbeiten besonders
10
auf die Erfassung der Persönlichkeiten und der einzelnen Werke ein-
gestellt, so werden hier ungleich mehr wie früher die formalen Grund-
strömungen und stilgeschichtlichen Zusammenhänge betont und damit
im Sinne der neuen Wissenschaftsrichtung höhere synthetische Gesichts-
punkte gewonnen. FreiHch setzt auch dieses vielfach nur andeutende
und blitzartig beleuchtende Werk für eine ersprießliche Lektüre gewisse
Vorkenntnisse voraus.
Nur nebenbei sei darauf hingewiesen , dall in dem Berichtszeitraum auch die
älteren Gesamtliteraturgeschichten von Lindem ann-Ettlinger (1 915 « n- lo , katho-
lischer Standpunkt, aber reichhaltig), A. Biese (1917", 1918*-, ästhetisch-individua-
listische Beurteilung), Vogt und Koch (seit der 4. Auflage in drei Bänden, von denen
bisher die ersten beiden von der Urzeit bis zum Ende der Sturm- und Drangzeit
führenden Bände vorliegen, als Überblick besonders geeignet, sorgfältig au'<gewählte
bibliographische Anhänge), E. Engel (1917 ^^ rationalistischer Standpunkt, federflinke,
mitunter freilich nicht ungeschickte Mache), sowie die kleineren Darstellungen von
K. Heinemann, M. Koch und H. Röhl neu aufgelegt wurden. Wenig befi'iedigt
das als Neujahrsgruß für im Felde stehende Bonner Studenten gedachte Büchlein
von J. M. Verweyen, dessen schöner Titel „Vom Geist der deutschen Dichtung"
(Bonn 1917) so viel verspricht, das aber mit seinem willkürlichen und fehlerhaften
Überblick über die Hterarische GesamtentwicMuug und seiner sprunghaften, nur die
klassische Periode eingehender behandelnden Darstellung kaum jemals in die geistigen
Tiefen dringt. Wissenschaftlich wertlos ist auch der verwegene und vielfach recht
windige Versuch von Klabu nd, die „Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde"
(Leipzig 1920) vorzutragen. In den älteren Partien völlig unzureichend und von Fehlern
wimmelnd, im einzelnen vielfach von einer unsachgemäßen politischen Tendenz beherrscht,
im Stil mitunter überraschend plastisch, öfters freilich auch salopp und geschmacklos
entschädigt das Ganze höchstens gegen die Moderne hin durch einige guterfaßte
Charakteristiken, Ebensowenig kann natürlich für ein ernsteres Studium der Literatur-
geschichte das als erster Teil einer Übersicht über die Weltliteratur gedachte Bändchen
von A. Bartels, „Die deutsche Dichtung'' (Leipzig 1917) in Frage kommen, das
an der Hand der deutschliterarischen Nummern der ßeclamschen Universalbibliothek
kaum viel mehr als eine trockene Aneinanderreihung von Namen und Werken bietet
und gegen den Schluß hin immer mehr zu einem öden Sehriftstellerkatalog herabsinkt.
Ließen sich alle diese längeren und kürzeren Darstellungen nur von
dem rein historischen Gesichtspunkt der bloßen Abfolge des literarischen
Geschehens leiten, so trug eine zweite Gruppe literargeschichtlicher Werke
auch jenem lokalen Gesichtspunkt Rechnung, von dem schon in den
theoretischen Erörterungen des vorigen Paragraphen die Rede war. Hier
ist vor allem eingebender von Joseph Nadlers „Literaturgeschichte
der deutschen Stämme und Landschaften" zu sprechen, zu deren ersten
beiden 1912 und 1915 erschienenen Bänden nunmehr (Regensburg 1918)
als vorletzter des Gesamtwerkes ein dritter Band hervorgetreten ist.
So viel an dem Unternehmen des jungen österreichischen Literarhistorikers
auszusetzen ist und so schief, ja gefährlich manche seiner Grundanschau-
ungen sind, so ist das Ganze doch als eine kühne, wenn auch verfrühte
Tat aller Achtung wert. Nach einer Zeit stoffhäufender Detailforschung
und gelehrter, aber ideenarmer Behandlung literargeschichtlicher Probleme
wirkt eine kraftvolle, eigenwillige Bändigung der Stoffmassen immer
imponierend. Freilich ist diesem Urteil sofort die einschränkende Be-
merkung hinzuzuiügen, daß dem Verfasser sein Versuch, die literarische
Entwicklang aus der geistigen Verschiedenheit und den Sonderschick-
11
salen der einzelnen Stämme zu erklären, vorläufig nur teilweise gelungen
ißt und oft genug neben dem mehr oder weniger zufälligen lokalen
Nebeneinander dieses psychophysische Band innerer Zusammenhänge
nicht deutlich wird. Radier teilt bekanntlich, wie er auch in einem
„Die Entwicklungsgeschichte des deutschen Schriftturas" betitelten und
für die Leipziger Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik
geschriebenen Heftchen (Jena 1914) knapp zusammenfassend skizziert,
die Gesamtheit deutschsprachlicher Literaturerzeugnisse in drei regional
geschiedene Gruppen : a) Die Rheingegenden, wo Franken und Alemannen
auf altem Kulturboden in der Zeit von Karl d. Gr. bis zu den Klassi-
zisten des 19. Jahrhunderts eine Literatur schaffen, die im wesentlichen
von stofflichen und formalen Elementen des antiken Kulturerbes zehrt,
b) Die Douaugegenden, wo das bayerisch- österreichische Volk aus der
Verschmelzung antiken und volkstümhch- deutschen Geistes eine Literatur
besonderen Gepräges schafft, die besonders gern zuin Dramatisch -Voll-
saftigen drängt, c) Das Kolonistenland zwischen Elbe und Weichsel,
wo auf altem slawischem Siedlungsboden die „Neustämme" früh unter
oströmisch-hellenistischen Einfluß traten und wo aus der Kreuzung deut-
schen und slawischen Blutes und der Mischung östlichen und westlichen
Wesens der Geist der Romantik geboren wurde. Diese stammes-
geschichtlichen Erkenntnisse, die dem Verfasser erst im Laufe seiner
Arbeit zu vollem Bewußtsein gekommen sind, enthalten in ihren ersten
beiden Regionscharakteristiken zweifellos viel Beachtenswertes, ohne daß
man sich nun gerade auf diese Formel festzulegen braucht. Die dritte,
dem ostelbischen Schrifttum geltende Überzeugung halte ich für ver-
kehrt und die Ableitung einer mehrhundertjährigen Romantik aus diesem
Kolonisationsgebiet für eine fixe Idee, die kaum irgendjemand billigen
wird und nur Verwirrung in die entwicklungsgeschichtliche Struktur
des literarischen Geschehens bringen kann. So energisch aber solche
Geschichtskonstruktionen abzulehnen sind, so gebührt Nadler doch für
diesen im Berichtszeitraum erschienenen dritten Band unser aufrichtiger
Dank, enthält er doch in seiner ersten Hälfte sozusagen eine literar-
geschichtliche Entdeckung. Die reichsdeutsche Einstellung unserer bis-
herigen Literaturgeschichtschreibung ließ schon das bayerische Schrift-
tum, noch mehr aber das österreichische Literaturleben mehr denn stief-
mütterlich behandeln. Es ist ein unbestreitbares Verdienst dieses Bandes,
daß hier aus entlegenen Quellen und der Spezialforschung abseits stehen-
der Provinzialzeitschriften die vielfach nahezu unbekannte Barock- und
Aufklärungsliteratur des bayerischen Stammes, die das Gesamtbild des
17. und 18. Jahrhunderts wesentlich verschiebt, unverdienter Vergessen-
heit entrissen worden ist, wenn man dabei auch gelegentliche antipreußische
Schärfen gern entbehrt hätte. Gerade in unserer Zeit, wo diese süd-
ößtHchen Gebiete des Deutschtums besondere politische Bedeutung ge-
wonnen haben, sollte dieser Hinweis wissenschaftlich fruchtbar werden
und die Forschung mehr auf diese stark vernachlässigten Gebiete lenken.
Während hier das literarische Leben des deutsch- österreichischen
Volkes innerhalb eines größeren Rahmens zu erhöhter Beachtung kam,
12
verfolgte die deutsch-österreichische Literaturgeschichte von J. W. Na gl
und J. Z ei dl er seit längerem dasselbe Ziel durch die besondere pro-
vinzialgeschichtliche Abgrenzung ihres Darstellungsstoffes. Seit 1897 in
Lieferungen erscheinend, hatte der seit Jahren abgeschlossene erste Band,
die literarische Entwicklung dieser Länder von der Kolonisation der
Ostmark bis auf die Zeiten Maria Theresias um die Mitte des 18. Jahr-
hunderts verfolgt. Nachdem das durch den Tod Zeidlers etwas ins
Stocken geratene Unternehmen mit dem Eintritt E. Castles in die redak-
tionelle Mitarbeit eine frische Kraft erhalten hatte, erschien nunmehr
der erste Teil des zweiten Bandes, der die klassische und romantische
Zeit umfassend die stoffliche Behandlung bis zum Revolutionsjahr 1848
und in der Dialektliteratur z. T. weit darüber hinaus vorschiebt, während
die sonstige Darstellung der letzten beiden Menschenalter einem geplanten
weiteren Halbband vorbehalten bleibt. Infolge der abschnittweisen Be-
teihgung zahlreicher Spezialforscher ist die Güte der einzelnen Teile
natürlich ungleich; die umfassende, vielfach auf primärer Forschung be-
ruhende Sachkenntnis, die Berücksichtigung auch der breiten Literatur-
strömungen und der allgemeineren kulturgeschichtlichen Grundlagen,
sowie das reiche Illustrationsmaterial hat dieser umfangreiche neue Band
mit den früher erschienenen Teilen gemein.
"Während das außerhalb der deutschen Reichsgrenzen liegende Gebiet des bajuwa-
rischen Stammes für den Literarhistoriker bisher zumeist nur in einzelnen traditionell
herausgegriffenen Erscheinungen in Frage kam, hat man der deutschen Dichtung der
Schweiz von jeher die gebührende Aufmerksamkeit zugewendet, ja Bächtolds ,, Ge-
schichte der deutschen Literatur in der Schweiz (1887 ff.) gilt mit Fug und Recht als
eine der Glanzleistungen deutscher Literaturgeschichtschreibung überhaupt. Auch neuer-
dings hat man diese hochalemannischeu Gegenden in den literarhisturischen Interessen-
kreis einbezogen, und es bedurfte eigentlich kaum des besonderen von J. M. Bach toi d
in seiner Züricher Dissertation (1917) fast zu eingehend begründeten Nachweises, daß
eine lediglich das deutsche Schrifttum der Ostschweiz umfassende „schweizerische
Literaturgeschichte" innere Berechtigung habe. Die Bedeutung dieser westober-
deutschen Bezirke für das altdeutsche Geistesleben kommt erneut in S. Singers die
Hauptpunkte der Entwicklung vortrefflich heraushebendem Vortrag „ Literaturgeschichte
der deutschen Schweiz im Mittelalter" (Bern 1916) zum Bewußtsein. Unter Ver-
wertung der neueren über J. Bächtolds monumentales Werk hiuausgekommenen
Spezialforschung , zu der in den gehaltvollen Anmerkungen des Anhangs bedeutsame
Hinweise und Ergänzungen gegeben werden, wird die literarische Entwicklung von
der klösterlich - gelehrten Epoche in den Tagen Notkers und Tutilos über die aristo-
kratische Periode der höfischen Zeit, wo Hartmann von Aue (der auch hier als
Schweizer in Anspruch genommen wird), Ulrich von Zäzikon, Kourad Fleck, Rudolf
von Ems, Konrad von Würzburg und Gottfried von Braunschweig dort episch tätig
waren und neben ihnen Steiumar und Hadloub den lyrischen Chorus anführten, bis
zu der demokratischen Dichtung des ausgehenden Mittelalters verfolgt, wo Witten-
weilers mit Eecht hochgeschätzter .,Ring" einen bearhtenswerten Höhepunkt darstellt,
daneben die Lehrdichtung in Konrad von Ammenhusen, Heinrich von Laufenberg
und Konrad von Helmsdorf gewichtig vertreten ist und wenig später das Fastnachts-
spiel, die Reimchronik und das Volkslied sich zu besonderer Blüte entwickeln.
Ein bisher von der provinzialliterarischen Forschung nicht aUzu reichlich be-
dachtes Feld betrat P. A. Merbach, der (1916) im vierten Bande von Friedel und
Mielkes Laudeskunde der Provinz Brandenburg (S. 193—367) die „Literaturgeschicht-
liche Entwicklung der Provinz Brandenburg" zusammenfassend seit den Tagen, wo
der märkische Minnesinger Otto IV. süddeutsche Sangeskunst in seinem Lande ein-
führt, bis zum Berliner Roman der Gegenwart darstellt, wobei besonders das 16. Jahr-
13
hundert mit tleu lateinischen Poesien der klerikalen und akademisclien "Welt (Georg
Sabinus!), mit seiner reichhaltigen Dramenliteratur (Knaust, Stummel, Pondo, Kollen-
hagen, Ringwald, Krüger) und den märkischen Kircheulieddichtern eingehend behandelt
werden, während die Barockzeit so gut wie ganz übersprungen wird und auch das
18. und 19. Jahrhundert sich vielfach mit einer mehr andeutenden als ausführenden
Beurteilung begnügen müssen. Immerhin sind damit die Grundlagen für eine brandeu-
burgischo Literaturgeschichte gelegt, die freilich zu tieferem Verständnis die literarische
Sonderentwicklung in die geistige Gesamtgeschichte des deutscheu Volkes und die Stil-
abfolge seines literarischen Schaffens einbetten müßte. Erst dann würde die Fülle
der Einzelheiten zu voller wissenschaftlicher Bedeutung gelangen. Ähnlich verfolgte
B. Pompeck i in seiner „Literaturgeschichte der Provinz Westpreußen •' (Danzig
1915) die literarischen Bestrebungen dieser ostdeutschen Gegend von der Ordenszeit
bis auf die Gegenwart, wobei innerhalb der reichhaltigen, zumeist nach städtischen
Geisteszentreu eingeteilten Darstellung nicht nur gebürtige Westpreußen, sondern
auch dort lebende Angehörige anderer deutscher Stämme mit behandelt werden. Die
grolle Belesenheit des Verfassers, die freilich mitunter an die falsche Adresse geraten
ist (vgl. z. B. S. 4 die ganz unhaltbare Kolandliedhypothese), hat namentlich für die
neuere Zeit eine Fülle von Namen und Werken zusammengebracht, neben denen
man die bestimmenden geistigen Entwicklungslinien gern schärfer herausgearbeitet
sehen möchte. — Einen emzelnen lokalen Mittelpunkt griff Ph. Witkop heraus, der
in seinem Büchlein ,, Heidelberg und die deutsche Dichtung" (Leipzig 1915) die Be-
deutung dieser süddeutschen Residenz für das literarische Leben in raschen Zügen
verfolgt.
Auch die gattungsgescbichtliche Darstellung hat einige beachtens-
werte Beiträge zu verzeichnen. Vor allem ist hier der großen „Ge-
schichte des neueren Dramas" von Wilhelm Creizenach zu ge-
denken, zu deren vor dem Kriege erschienenen vier Bänden (1893, 1901,
1903, 1909) nunmehr (l916) ein fünfter, ausschließlich der Dramen-
kunst Shakespeares gewidmeter Band getreten ist, während der seit
Jahren vergriffene zweite Band seit 1918 in einer vermehrten und die
neuesten Forschungsergebnisse gewissenhaft verwertenden Neuauflage
erschien. Da das Unternehmen mit dem 1918 erfolgten Tode des
verdienstvollen Verfassers leider wohl dauernd zum Stocken gekommen
sein wird, mag ein kurzes rückschauendes Gesamturteil hier eingefügt
sein. Von dem Fortleben des antiken Dramas im früheren Mittel-
alter und den Anfängen des geistlichen Schauspiels an führt dieses
die gesamte süd- und westeuropäische Dramenliteratur berücksichtigende
monumentale Werk die Entwicklung dieser literarischen Gattung über
die theatralische Kunst der Humanisten und die nationalsprachliche
Kenaissancetragödie in Itahen, Frankreich, Spanien, Portugal, Deutsch-
land , den Niederlanden bis zu jenem Höhepunkt, den die dramatische
Dichtung im England der Elisabethanischen Zeit erhält. Hier, genauer
gesagt bei dem Jahre 1613, bricht die auf breitester internationaler
Basis aufgebaute Darstellung nunmehr mit dem jüngsterschienenen fünf-
ten Bande ab. Daß das Ganze Fragment bleiben würde, war bei der
Fülle des noch zu bewältigenden Stoffes freilich seit Jahren voraus-
zusehen , zumal da die letzten Bände gegenüber der energischeren Zu-
sammenschnürung in den früheren Teilen immer mehr sich zu breit aus-
ladenden, vor detaillierten Sonderuntersuchungen nicht zurückschrecken-
den Monographien ausgewachsen hatten. Staunenswert aber ist überall
der Fleiß und die GründHchkeit, mit der immer auf Grund eindringender
14
mühevoller Quellenstudien die im ganzen noch vielfach von der Einzel-
ibrschung vernachlässigten Stoffmassen zu einheitlichen Komplexen zu-
sammengeballt werden. Dabei beschränkt sich die Darstellung nicht
etwa auf einfach aneinandergereihte Analysen und Dichterbiographien,
wie sie seinerzeit Bobertags verunglücktes Roman werk zeigte, sondern
nach Möglichkeit wird die Gesamtheit des dramatischen Lebens vor-
geführt, wie sie sieh in Inhalt und Form, Charakteristik und Kompo-
sition, Stil und Metrik, Theorie und Praxis, Ausstattung und Wirkung
der Stücke, sowie in Bühnentechnik und Schauspielerdasein kundgibt.
Freilich ist das Werk in seiner Gesamtheit keine leichte Lektüre. Etwas
Sprunghaftes ist vielen Partien eigen und das Detailinteresse verliert
sich mitunter zu sehr ins Einzelne. Die große Linie und epische Ruhe
des wissenschattlichen Kunstwerkes fehlt. Vor allem möchte man gern
innerhalb dieser immer gewaltiger andrängenden Stoffmengen die leiten-
den Grundströmungen und herrschenden Ideen, das Typische im Indi-
viduellen stärker betont und die Zusammenhänge mit dem kulturellen
Gesamtleben der einzelnen Nationen mehr beachtet sehen. All das aber
kann die überragende Bedeutung dieses Werkes nicht mindern, das
noch für Generationen zur Grundlage weiteier Studien dienen wird.
Dem Verfasser aber, der ein Menschenalter lang in polnischer Umgebung
zu Ehren deutscher Wissenschaft forschte und schrieb, soll es unver-
gessen bleiben, daß er in jenen verflossenen Jahrzehnten, deren emsige
Vielgeschäftigkeit zumeist in Einzeluntersuchungen stecken blieb, den
Mut und die Kraft zu einem groß angelegten zusammenfassenden Unter-
nehmen fand. — Creizenachs „Geschichte des neueren Dramas" ist ein
schwergelehrtes Werk, dessen unendhche Fülle sich nur in einer ab-
schnittweisen, den Sonderinteressen der Leser dienenden Lektüre ent-
hüllen kann. Eine treffliche Ergänzung dazu, die von vornherein auf
den Gesamtüberblick eingestellt ist, bietet die Geschichte der dramati-
schen Entwicklung von der Antike bis zur Gegenwart, die B. Busse
unter dem Titel „Das Drama" erscheinen ließ und zu deren beiden
früher (1910 und 1911) herausgekommenen Bändchen nunmehr (Leipzig
u. Berlin 1914, Aus Katur und Geisteswelt Nr. 289) ein dritter, das
19. und 20. Jahrhundert behandelnder Teil getreten ist. Ebenfalls in-
ternational orientiert wird hier das dramatische Schaffen der einzelnen
europäischen Nationen kraftvoll nach stilgeschichtlichen Epochen (Ro-
mantik, Epigonen, ReaHsmus, Naturalismus, Symbohsmus und Neu-
romantik) unter einheitlichen Gesichtspunkten zusammengefaßt. Im
einzelnen wird man auch da manches aussetzen können (Otto Ludwig
z. ß. kommt ebenso wie Büchner recht schiecht weg). Im ganzen aber
kann man dem treffsicheren Blick und der großzügigen Linienführung
des im Felde gefallenen Verfassers seine Anerkennung nicht versagen.
Für die lyrische Gattung füllte die kleine, aber beachtenswerte
„Geschichte der deutschen Lyrik" von Richard Findeis (Berlin
und Leipzig 1914) in zwei Bändchen eine längst empfundene Lücke
aus. Während die früher erschienene „Neuere deutsche Lyrik'' von
Ph. Witkop (Leipzig 1910 und 1913) sich zu Unrecht so nannte und
15
an Stelle einer fortlaufenden Geschichte nur etwa dreißig lyrische Porträt-
bilder des 18. und 19. Jahrhunderts brachte, die trotz des aufgewendeten
Wortschwalls oft recht wenig anschaulich wirkten (auch die zweite, den
etwas veränderten Titel „Die deutschen Lyriker von Luther bis Nietzsche"
führende Auflage hält in ihrem 1921 erschienenen 1. Bande trotz mancher
Besserungen an dieser Anlage fest), ist hier mit Glück der Versuch
gemacht, die typischen lyrischen Entwicklungsstufen von der indo-
germanischen Urzeit bis etwa zum Ende der impressionistischen Dicli-
tung zu verfolgen. Der beschränkte Raum verbietet dem Verfasser,
der leider auch zu den Opfern des Weltkriegs gehört, sich irgendwie
in Einzelheiten einzulassen. Aber die Darstellung, die ebenfalls nach
geistes- und stilgeschichtlichen Gesichtspunkten eingeteilt ist, weiß das
Wichtige gut herauszugreifen und gibt einen recht brauchbaren Über-
blick. — Nicht ganz auf der Höhe der beiden zuletzt genannten Über-
blicke steht H. Rausses kleine „Geschichte des deutschen Romans"
(Kempten und München 1914, Sammlung Kösel). Namentlich das An-
fangskapitel, in dem die Versromane der höfischen Zeit behandelt werden,
steht auf schwachen Füßen. Auch späterhin sind einzelne Vertreter des
Romans (besonders Jean Paul) doch gar zu flüchtig gestreift. Andere
Kapitel dagegen, bei denen der Verfasser aus dem weiten Gesichtskreis
seiner eigenen früheren Spezialforschungen urteilt (Schelmen- und Aben-
teuerroman), verraten den Kenner. Bei dem bisherigen Mangel einer
kurzgefaßten, übersichtlichen Geschichte des älteren deutschen Romans
— denn die Werke von Mielke und Schian gelten ja ganz oder doch
überwiegend nur dem 19. Jahrhundert — muß auch dieser Abriß will-
kommen geheißen werden, zumal er die Höhenpunkte und entscheiden-
den Persönlichkeiten richtig heraushebt und im ganzen einen leidlich
guten Überblick über die Entwicklung darbietet.
Bei Gelegenheit dieser gattungsgeschiclitlichen Revue sei schließlich auch kurz
darauf hingewiesen, daß 1915 0. Walzel iu deu „Neuen Jahrbüchern" (35. Bd.,
8. 99—129 und 172—200) die Entwicklung cles bürgerlichen Dramas und K. Hell
ebenda (36. Bd., S. 453 — 473) die Entwicklung des deutschen Lustspiels skizzierte,
während R. P et seh im 28. Bd. der Z. f. d. U. durch drei Aufsatzfolgen hin „Die
Hauptströmungon im Drama der Gegenwart" in ihrer naturalistischen, nsuromantischen.
neuklassizistischen und jüngsten Ausprägung vorführte, um zugleich den waclisenden
inneren Zusammenhang zwischen der allgemeinen Kultur und der dramatischen Kunst
dieser Jahrzehnte aufzuzeigen.
Zwar nicht einer einzelnen formalen Gattung, wohl aber einer be-
stimmten Stoffgruppe ist das fleißige und kenntnisreiche Buch von
A. H. Kober über die „Geschichte der religiösen Dichtung" (Essen
1919) gewidmet, das mit einer wohltuenden überkonfessionellen Blick-
weite geschrieben ist. Freilich das Ziel, das der Verfasser sich setzte,
nämlich einen Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Seele
zu liefern, ist nur zu einem kleinen Teile erreicht. Das Werk, das
sonst als guter Wegweiser durch das Labyrinth der reichen religiösen
Dichtung dienen kann, erhebt sich eben nicht auf das kulturpsycholo-
gische Niveau, sondern bleibt zumeist im rein Tatsächlichen des literar-
historischen Nacheinander. Das Auf- und Abwogen vom innerlich Re-
16
ligiösen zum äußerlich Kirchlichen und wieder zu erneuter Subjektivität
und Mystik und die Einbettung dieser besonderen Strukturverschiebungen
der religiösen Dichtung in die allgemeineren geistigen Strömungen und
seelischen Metamorphosen in der Geschichte des deutschen Volkes ist
nur in einzelnen Partien gelungen. In den Einzelcharakteristiken aber
steckt viel feines und richtiges Urteil.
Schließlich gehört in dies Kapitel, in dem die allgemeinere literar-
historische Literatur nach ihren wichtigeren Neuerscheinungen gesichtet
werden soll, auch J. Petersens Schrift über „Das deutsche National-
theater" (Leipzig und Berlin 1916 = 14. Ergänzungsheft der Z. f. d. U.).
Aus Vorträgen hervorgegangen, die im Freien deutschen Hochstift zu
Frankfurt a. M. gehalten wurden, führt die klar geschriebene und mit
gutgewähltem Bildmaterial versehene Darstellung in fünf Kapiteln die
Hauptphasen der theatergeschichtiichen Entwicklung Deutschlands vor.
In knappen, aus dem Zusammenklingen von Zeitcharakter, Bühne, Drama,
bildender Kunst, Schauspielertum und Publikum zu anschaulicher Wir-
kung gelangenden Bildern werden wir von den geistlichen Spielen des
späteren Mittelalters und dem Volks- und Schultheater des 15. und
16. Jahrhunderts über die vorwiegend auf opernhafte Effekte berechneten
Bühnenformen der Renaissance- und Barockzeit hingeführt zu den Be-
strebungen der Aufklärung und des Neuhumanismus, die neuauftauchende
Idee eines Nationaltheaters zu verwirklichen , die indessen trotz bester
Absichten und guter Ansätze nicht eigentlich zu ihrem hohen Ziele
kam und auch in dem Festspielgedanken des 19. Jahrhunderts nicht
seine Verlebendigung erhalten hat, zumal die Betonung der tief inner-
lichen und wahrhaft kulturellen Bedeutung aller theatralischen Kunst
vielfach zugunsten veräußerlichter und stofi betonter Wirkung zurück-
stehen mußte.
§ 3. BibHographien und Zeitschriften
Das grundlegende bibliographische Werk für jeden wissenschaftlich arbeitenden
Literarhistoriker ist nach wie vor K. Goedekes „Grundriß zur Geschichte der
deutschen Dichtung", jenes gewaltige Unternehmen, das die Gesamtheit der auf deutsch-
sprachlichem Boden dichterisch tätigen, zu künstlerischer oder wenigstens ephemerer
BedeutuDg gelangten Personen, zumeist nach Gattungen oder Landschaften in Gruppen
geordnet, in zeitgeschichtlicher Folge vorführt und neben meist kurzen biographischen
Hinweisen nicht nur sämtliche Werke der angezogenen Schriftsteller, sondern auch
die darüber geschriebenen literarhistorischen Aufsätze und Bücher verzeichnet. Erst-
malig in drei Bänden, als Denkmal deutschen Gelehrtenfleißes jener frühgermani-
stischeu Zeiten, in den Jahren 1859—1881 erschienen, kommt es bekanntlich heute
nur in seiner stark erweiterten und umgearbeiteten zweiten Auflage in Frage , die
seit 1884 hervorzutreten begann und heute noch nicht abgeschlossen ist, obwohl große
Partien des vorklassischen und klassischen Zeitalters bereits in abermals wesentlich
bereicherter dritter Auflage vorliegen. Bis 1913 hatte es die in erster Linie heute
gültige zweite Auflage bis auf 10 Bände gebracht, von denen die beiden letzten Bände
mit ihrer Behandlung der belletristischen, romanhaften und epischen Literatur des
Zeitraums von 1815 — 1830 auf ihrem Gattungsgebiete bereits bis zu dem von diesem
Unternehmen seit seiner Begründung ins Auge gefaßten zeitlichen Endpunkt (ca. 1830)
vorgedrungen waren. Unterdessen ist der hochverdiente Herausgeber des Grundrisses,
Edmund Götze, der diese maßgebende Bibliographie seit Goedekes Tode leitete, hoch-
Wissenschaftlicbe Forechiini^sberichte VIII. 2
17
tetagt verstorben. Für ihn haben die Hauptredaktion übernommen: A. Kosen-
bauin. der seit Jahren für die Herausgabe der Schlußbände hingebende Arbeit leistet,
und F. Muncker, der seit langem eine Fortsetzung und Ergänzung des „Goedeke'-
bis zur neuesten Zeit vorbereitet hat. Auf diese Weise ist die Fortführung des für
jeden literarhistorischen Forscher unentbehrlich gewordenen Werkes bis nahe an die
Gegenwart heran gewährleistet, während wir vorläufig bei den vom „Goedeke" nicht
behandelten neueren und neuesten Zeiträumen vor allem auf R. M. Meyers knapperen
,, Grundriß der neueren deutschen Literaturgeschichte" (1907 -) angewiesen sind, der
mit irreführendem Titel die Bibliograjjhie der Dichtung des 19. Jahrhunderts enthält.
Da die Gesamtleitung den zunächst fällig gewesenen 11. Band des Goedekeschen
Grundriß , der mit seinem stoffüberschütteten § 334 eine Neubearbeitung der über-
reichen dramatischen Literatur der Epoche von 1815 — 1830 bringen sollte, infolge
des Heldentodes seines Bearbeiters K. Kipka vorerst zurückstellen mußte, sind von
der zweiten Auflage dieses W^eikes im Berichtszeitraum nur die ersten Bogen des
12. Bandes erschienen (1919), in denen H. Schollen berger mit Unterstützung von
anderen Kräften die schweizerische Literatur aus den ersten drei Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts bearbeitete. Von dem bisher allein in dritter Auflage vorliegenden
und in eine Reihe von Unterteilen zerfallenden 4. Band waren vor dem Kriege die
Abteilungen 2-4 erschienen (1910—1913), die eine monumentale Bearbeitung der
Goetheliteratur mit eingehendem Sonderregister (= IV, 4 ^) gebracht hatten. Seitdem
ist 1916 auch die in größeren Partien freilich schon früher zutage getretene und
wiederum in zwei Halbbände zerfallende erste Abteilung dieses 4. Bandes zum Ab-
schluß gekommen, die aus dem Zeitraum der Aufklärung, Empfindsamkeit und Vor-
klassik die Schweizer, Bremer Beiträger, Anakreontiker, Klopstock, die Barden, Lessing,
die Popularphilosophen, Wieland, die Roman- und Schauspieldichtung dieser Epoche,
die Stürmer und Dränger und schließlich den Göttinger Hain in neuer bibliographischer
Bearbeitung vorführt, so daß man für diese literarhistoiischen Kapitel sich jetzt
bibliographisch nahezu ausreichend allein aus dem „Goedeke'' orientieren kann.
Auch das ursprünglich aus Grenzbotenaufsätzen erwachsene Buch von A. Bartels,
„Die deutsche Dichtung der Gegenwart", das mit einer geschickten Mischung von
literarhistorischer Darstellung und bibliographischer Übersicht das literarische Leben
von Hebbel und Otto Ludwig bis zur Gegenwart behandelt und letztmalig 1910 in
achter Auflage erschienen war, konnte 1918 in einer stark vermehrten und ver-
besserten 9. Auflage hervortreten, die freilich unterdessen bereits wieder vergriffen ist
und nur für die aJlerneuesten Entwicklungsphasen des literarischen Lebens eine aber-
malige Neubearbeitung und Fortführung in dem Buche desselben Verfassers ,, Die
Jüngsten. Deutsche Dichtung der Gegenwart" (Leipzig 1921) gefunden hat. — Er-
freulicherweise konnte auch die ausgezeichnete und eine empfindliche Lücke des
wissenschaftlichen Handbuchmaterials ausfüllende „Allgemeine Bücherkunde zur neueren
deutschen Literaturgeschichte" von R. F. Arnold, die gegenüber dem individualisti-
schen Anlageprinzip Goedekes vor allem eine sachgruppengemäße bibliographische
Bearbeitung der für den Literarhistoriker direkt oder indirekt in Frage kommenden
wissenschaftlichen Bücherwelt gibt, in vermehrter und verbesseiter Auflage (1919)
sich vorstellen. — Als Neuerscheinung aber darf das ,, Deutsche Literatur-Lexikon" von
H. A. Krüger gelten (München 15)14), obwohl es letzten Endes von der Grundlage
jenes 1882 von A. Stern herausgegebenen ,. Lexikons der deutschen Nationalliteratur'-
ausgegangen ist. In lexikalischer Anordnung verzeichnet es die hauptsächlichsten
deutschen Dichter von den Anfängen bis zur Gegenwart, gibt kurze biographische
Abrisse und berichtet über die dichterischen Werke, sowie über die wichtigere dazu
selbständig veröffentlichte wissenschaftliche Literatur. Das zweifellos einem prakti-
schen Bedürfnis entgegenkommende Werk ist vielfach von der Kritik unfreundlich
aufgenommen worden, und in der Tat bieten die zahlreichen Lücken und Unrichtig-
keiten leicht erkennbare Angriffspunkte. Trotzdem stehe ich nicht an, das Buch für
ein zur schnullen Orientierung recht brauchbares Hilfsmittel zu erklären, dem eine
zweite Auflage und damit die Möglichkeit zu einer gründlichen bessernden Bearbeitung
zu wünschen ist, die dann auch die jetzt nur in ziemlich willkürlicher Auswahl auf-
genommenen stoffgeschichtlichen Stichworte ausbauen sollte.
Von den beiden für die Arlieit des germanistischen Literarhistorikers unentbehr-
lichen periodischen Bibliographien sind die „Jahresberichte über die Erscheinungen
18
auf dem Gebiete der germanischen Philologie'' , die mit ihren literargeschichtlichen
Referaten und Titelhinweisen von der altdeutschen Zeit bis in das erste Viertel des
17. Jahrhunderts reichen, in den Jahren 1916—1921 mit fünf neuen Bänden (36.
"uis 41. Bd.) hervorgetreten, die über die literarhistorischen Neuerscheinungen der J^re
1914 — 1919 Auskunft geben, während die den Zeitraum von etwa 1450—1850 umfassen-
den „Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte'' 1915 und 1916 (bzw.
1918) in ihrem 24. und 25. Band die Bibliographie und textliche Berichterstattung
über die Jahre 1913 und 1914 brachten und über das Erscheinungsjahr 1915 wenigstens
den bibliographischen Teil vorlegen konnten (1919). Die gewaltigen redaktionellen
Schwierigkeiten, mit denen referierende Unternehmen dieser Art schon immer und
besonders während des Krieges infolge der militärischen Dien.stleistungen zahlreicher
Mitarbeiter zu rechnen hatten, und daneben die immer fühlbarer werdenden druck-
technischen Hemmnisse haben somit zu dem unvermeidlichen Mißstand geführt, daß
zwischen Erscheinungs- und Berichtsjahr gegenwärtig ein Zeitraum von fünf Jahren
und mehr klafft. Damit aber ist natürlich der eigentliche Zweck und Nutzen
einer solchen zusammenstellenden und zusammenfassenden Berichterstattung stark
vermindert. Es sei deshalb auch an dieser Stelle nachdrücklich der Leitung der
..Jahresberichte'' empfohlen, nicht zum wenigsten auch, um im Interesse der wün-
schenswerten Verbreitung dieses höchst verdienstvollen periodischen Organs den un-
bedingt notwendigen Abbau des zur Zeit für die Mehrzahl der Fachgenossen uner-
schwinglich hohen Preises zu ermöglichen, eine tiefgreifende Neugestaltung in Er-
wägung zu ziehen. So angenehm und nützlich Reichhaltigkeit und Fülle des Inhalts
ist, so wird in diesem Falle, wie mir scheint, des Guten zuviel getan und damit die
erstrebenswerte Übersicht erschwert. Die „Geschichte des Erziehungs- und Unter-
richtswesens", die „Kulturgeschichte", die „Ästhetik und Poetik", ja selbst die
..Publizistik" und die sprachgeschichtlichen Abschnitte, so wichtig sie vielfach für
den Literarhistoriker sind, gehören im Grunde nicht hierher und wären vielleicht besser
in pädagogische, historische, philosophische und grammatische Sonderberichterstattungen
zu verweisen. Etwas mehr ideelles Zusammenwirken und bewußte Arbeitsteilung der
parallelen Unternehmen wäre auch da ratsam. Schließlich ist auch darauf hinzu-
weisen, daß in den textlichen Berichterstattungen noch immer zuviel wertloses Material
ausgebreitet ist, dem mit der bloßen Erwähnung im bibliographischen Teil fast schon
zuviel Ehre angetan ist. Ob neben dem natürlich weiterzuführenden Gesamtbande
eine Zerlegung der Jahresbände in eine Reihe dünnerer und damit wesentlich billigerer
Einzelhefte und die dadurch bedingte Anpassung an die zeitgeschichtlichen und
gattungsgeschichtlichen Sonderinterinteressen der verschiedenen Forscher- und Leser-
kreise technisch und redaktionell möglich ist, wage ich nicht zu entscheiden. Wün-
schenswert wäre sie auf jeden Fall. [Ergänzend sei zu diesen schon vor längerer Zeit
geschriebenen Ausfühnmgen darauf hingewiesen , daß auf der Jenaer Philologenver-
sammlung (1921) die Zusammenlegung der beiden oben erwähnten Jahresberichte be-
schlossen und eine Kommission zur Festlegung der Anlage dieser nunmehr einheit-
lichen periodischen Bibliographie eingesetzt wurde.] —
Wie in allen anderen Wissenschaftsgebieten hatten auch in unserem Fach die
Zeitschriften durch Behinderung ihrer Mitarbeiter und die steigenden druck-
technischen Nöte in diesen Jahren einen schweren Stand. Von den maßgebenden
Organen der „älteren" deutschen PhUologie sind nur die seit 1874 bestehenden „Bei-
träge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur", nach den Herausgebern
meist „Paul und Braunes Beiträge" (PBB) genannt, ungestört weiter erschienen, indem
sie von 1914 — 1920 ihre Jahresbandserie um die Nummern 39. — 44. Band erweitern
konnten. Die einst von M. Haupt 1841 begründete und nun schon ein ehrwürdiges
Seniorendasein von über achtzig Jahren führende „Zeitschrift für deutsches Alter-
tum" (Z.td. A.), die seit ihrem 19. Bd. (1«76) den erweiterten Titel „Zeitschrift für
deutsches Altertum und deutsche Literatur" trägt, hatte es bis 1913 auf 54 Bände
gebracht. Durch die Kriegsverhältnisse trat dann ein mehi-jähriges Stocket) ein. Erst
1917 konnte ein 55. Band, dann nach erneuter Pause 1918/19 ein 56. Band hervor-
treten, dem nun schon em 57. Band (1920) und ein 58. Band (1921) gefolgt sind.
Der mit dieser darstellenden Zeitschrift seit 1876 verbvmdene, aber eine eigene Band-
zähluug und Pagiuierung führende kritisch besprechende „Anzeiger für deutsclies Alter-
tum u?id deutsche Literatur" {A. f.d. A.) lag bis 1913 in 36 Bänden vor. Den Stockungen
2*
19
der „Zeitschrift" folgend erschien während der Kriegsjahre nur der 37. Band (1917),
während seitdem in fast friedensgemäßer Folge der 38. (1919), 39. (19'20) und 40.
(1921) Band hervortreten konnten. Am schwersten hatte offenbar das dritte unserer
altgermanistischen Organe, die „Zeitschrift für deutsche Philologie'' (Z.f. d. Ph.) zu
kämpfen, die 1868 von Höpfner und Zacher begründet (daher in älteren Zitaten auch
gelegentlich als Zachers Zeitschrift = Z. Z. bezeichnet) nun auch schon ihren halbhundert-
jährigen Geburtstag feiern durfte. Sie konnte in allen diesen Jahren nur zweimal sich
neu vorstellen, indem sie 1915 ihren 46. Band, 1918 ihren 47. Band herausbrachte.
Nicht minder schwierig lagen die Verhältnisse für die der ,, neueren" Literatur-
geschichte gewidmeten Zeitschriften. Fast ganz stockte die früher lange Zeit wichtigste
periodische Veröffentlichung dieser Art, der österreichische ,, Etqyhorion" (seit 1894
bestehend). Nach dem Erscheinen seines 21. Bandes im Jahre 1914 schien er für
die literarhistorische Welt verloren zu sein, bis er sich erfreulicherweise 1919 wieder
mit neuen Erscheinungsheften melden konnte, sodaß gegenwärtig bereits ein 21. (1920)
und 22. Band (1921) zum Abschluß gekommen ist. Besonders aber sei darauf hin-
gewiesen, daß von den dieser Fachzeitschrift angegliederten und in neuerer Zeit mehr-
fachin besonderen „Ergänzungsheften" zum Abdruck gebrachten bibliographischen Über-
sichten über Neuerscheinungen der neueren Literaturgeschichte und der benachbarten
Disziplinen 1914 das wiederum von A. Eosenbaum vortrefflich bearbeitete 11. Er-
gänzungsheft erschienen ist, das in Zeitabschnitten und Sachgruppen geordnet eine
Bibliographie (z. T. auch mit knapp referierenden) Text) der in den Jahren 1912 und
1913 erschienenen Zeitschriftenaufsätze (!) und Bücher zur deutschen Literaturge-
schichte mit ausführlichem Register bringt. [Dazu ganz neuerdings bereits vier Ab-
teilungen eines 12. Ergänzungsheftes mit teilweiser Bibliographie über die Jahre 1914
bis 1918, sowie ein 13. und 14. Ergäuzungsheft darstellender Art, die Briefe zur
deutschen Literaturgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts (1921) und eine Sammelkritik
von Gundolfs Goethebuch (1921) bringen.] — Auch die seit 1909 bestehenden sprach-
lichen und literargeschichtlichen Interessen zugleich dienende ,, Germanisch-Romanische
Monatsschrift'' (GRM) mußte im Sommer 1915, da die geistige wie technische Mit-
arbeiterschaft zumeist einberufen war, ihr Erscheinen mitten im 7. Band vorläufig
einstellen, der erst 1919 in zwei Doppelheften vom September (8.-9. Heft) und Ok-
tober/Dezember (10.— 12. Heft) zu Ende gefülirt werden konnte. Seit Anfang 1920
erscheint diese Zeitschrift wieder mit erfreulicher Regelmäßigkeit [der 8. und 9. Band
ist abgeschlossen, vom 10. Jahrgang sind bisher zwei Doppelhefte erschienen], freilich
wie so viele „Monats "Schriften aus äußeren Gründen in zweimonatlich ausgegebenen
Doppelheften. — Von der redaktionellen und technischen Not der zentralen öammel-
stätten literarhistorischer Aufsätze, die besonders für den im wesentlichen darauf ange-
wiesenen wissenschaftlichen Nachwuchs sich schmerzlich bemerkbar machte, zogen die
dem strengen zünftigen Gesichtskreis etwas abseits gelegenen Publikationsorgane Nutzen,
wie die „Zeitschrift für Bücherf re;inde " und die „ Neuen Jahrbücher für das klas.sische
Altertum, Geschichte und deutsche Literatur", die in steigendem Maße den deutschen
Literarhistorikern ihre Tore öffneten. Gelegentlich fand deutsche Wissenschaftsarbeit
auch in dem während der Kriegszeit gegründeten holländischen „Neophilologus" oder
in der norwegischen Philologenzeitschrift „Edda" ein Unterkommen. Besonders
aber gewann dadurch die „Zeitschrift für den deutschen Unterricht", die, wie er-
wähnt, der wachsenden Neigung unserer Tage zu allgemein kultureller Erfassung der
nationalen Vergangenheit durch ihre Umtaufe in „Zeitschrift für Deutschkunde"
Rechnung trug, erhöhte Bedeutung, zumal sie als einziges der neueren literarhistori-
schen Publikationsorgane regelmäßig weiter erschien und unterdessen es vom 28. Jahres-
band im Jahre 1914 bis Ende 1921 auf 35 abgeschlossene Bände brachte. Besonders
zu bemerken ist, daß 1915 eine „Gesamtübersicht über die Jahrgänge 1— 27 ' aus-
gegeben vnirde, deren erster „die Literatur und Kunstgeschichte im allgemeinen" bo-
handelnder Teil den Benutzer schnell über die von dieser Zeitschrift im Laufe eines
reichlichen Viertel Jahrhunderts geleistete Arbeit in Sachgruppen unterrichtet. Zu be-
grüßen sind auch die in dieser Zeitschrift üblich gewordenen Sammelreferate, die auch
in anderen Publikationsorganen mehr gepflegt werden sollten. Bei dem beständigen Fort-
schritt der Wissenschaft wird es immer schwieriger, die Ideenentwicklung und den Er-
kenntnisfortschritt einzelner Problemkreise deutlich im Auge zu behalten. Die größeren
referierenden Unternehmen können auf Einzelheiten und innere methodische Wand-
20
langen nicht eingehen, und doch wäre es von größtem Wert, in mehrjährigen Ab-
ständen von besonderen Kennern zusammenfassend etwa über die Fortschritte der
(jralsforschung, der Mystikforschung, der Faustforschung oder über die einzehien
Dichtern (Walther von der Vogelweide, Murner, Fischart, Lessing, Ludwig usw.) ge-
widmete Arbeit nicht nur in objektiven Referaten, sondern gewissermaßen von höherer
Warte aus orientiert zu werden, etwa so wie die leider schon so bald wieder einge-
gangenen „Geisteswissenschaften" (1913 f.) es in vorbildlicher Weise für die verschieden-
sten Wissenschaftsgebiete taten. Schließlich sei bei dieser Gelegenheit auch die Frage
aufgeworfen, ob nicht die eine oder andere unserer Zeitschriften auch in bestimmten
Abständen wiederkehrende Referate über die germanistische Arbeit des Auslandes bringen
könnte, etwa ähnlich wie das „Literarische Echo" in regelmäßigen „Briefen" über
das fremde Literaturleben berichtet. Es ist zwar richtig, daß für die germanistische
Forschung und die wissenschaftliche Behandlung der deutschen Literaturgeschichte
die ausländische Mitarbeit eine ungleich geringere Rolle spielt als beim Anglisten,
Romanisten, klassischen Philologen usw. Immerhin aber zeigte es sich wiederholt,
daß die z. T. sehr fördernden Forschungserkenntnisse holländischer, skandinavischer,
russischer Germanisten zum Schaden des wissenschaftlichen Foi-tschritts bei uns zu
wenig oder gar nicht bekannt waren.
§ 4. Reformation und Humanismus
Das literarische Leben Deutschlands rollt im Zusammenhang mit
der übrigen kulturellen Vergangenheit und eingebettet in die allgemeine
sozialpsychische Entwicklung der Nation in einer geschlossenen Einheit
ab, die wohl eine Verschiebung der Grundstimmungea und einen Wechsel
der literarischen Stilformen , aber keine eigentlichen Absatzstellen und
Trennungsstriche kennt. Wenn ich hier im Gegensatz zu diesen von
mir Otters vertretenen Überzeugungen den Überblick über die wichtigeren
Neuerscheinungen der literargeschichtlichen Forschung erst mit der
Periode einsetzen lasse, wo nach der landläufigen Auffassung die Neu-
zeit und damit die „neuere" deutsche Literatur beginnt, so tue ich dies
aus äußeren und praktischen Gründen, vor allem auch, weil bereits
G. Baesecke in dem die „Deutsche Philologie" i. e. S. behandelnden
Parallelheite dieser wissenschaftlichen Forschungsbericbte (Gotha 1919)
auf den Seiten 59 — 77 kenntnisreich über die Ergebnisse der dem
früheren und späteren Mittelalter zugewandten literargeschichtlichen
Studien der jüngsten Zeit sich ausgelassen hat und die an sich starke
Stoffbelastung des vorliegenden Heftes eine wiederholende und ergänzende
B erichterstattung über jene Forschungsresultate unratsam erscheinen ließ.
Der Literarhistoriker, der sich jetzt forschend oder lehrend den Literaturdenk-
mälern des Reformationszeitalters zuwendet, darf es dankbar begrüßen, daß
ihm neuerdings ein paar Hilfsmittel allgemeinerer Alt seine Studien erleichtern. Um
den Inhalt und Geist der literarischen Werke dieser Epoche recht zu verstehen, hat
man sich von Fall zu Fall auch die historischen und kirchengeschichtlichen Voraus-
setzungen sowie die allgemeinen geistigen Grundlagen durch Quellenstudien und
Sonderuntersuchungen zu vertieftem Bewußtsein zu bringen. In dem Labyrinth des
dafür in Frage kommenden urtexÜichen und wissenschaftlichen Studienmaterials mit
seiner verwirrenden imd bisher niemals deutlich gesichteten Fülle leistet jetzt die
neuerschienene, zwei starke Bände umfassende „Quellenkunde der deutschen Refor-
mationsgeschichte" von G. Wolf (Gotha, l.Bd. 1915, 2. Bd. 1916 u 1922) vortreffliche
Dienste. Der auf diesem Zeitgebiete aus früheren Arbeiten vorteilhaft bekannte Ver-
fasser gibt eine Art Fortsetzung der mittelalterlichen Quellenkunde von Wattenbach
und Lorenz bis etwa zur Mitte des 16. Jahrhunderts, greift dabei aber tief in die
21
mittelaUerliche "Welt zurück, so daß die literarhistorische Forschung für die spät-
mittelalterliche wie frühneuzeitliche Dichtung hier ein wichtiges und ungemein brauch-
bares Hilfsmittel erhalten hat, dessen unvermeidbare Lücken und kleine Unebenheiten
neben der Größe des Geleisteten kaum in Frage kommen. Nachdem die Einleitung
einen aufschlußreichen Überblick über die Wandlungen der reformatiousgeschichtlichen
Historiographie geboten hat, enthält der erste Band zunächst unter dem Oberbegriff
„Vorreformation'' eine quellenkundiiche Behandlung der Mystik, der separatistischen
Bestrebungen, der innerkirchlicheu Keformversuchc wie des Humanisnms, um dann
(den Schlußteil von Band I und den Anfang von Band 11 füllend) die allgemeinen
und weltlichen Grundlagen des reformationsgeschichtlichen Prozesses (Reichsgeschichte,
Landesgeschichte, ßeichsstände, Reichsritterschaft) darzustellen und schließlich zu den
Einzelheiten der eigentlichen kirchlichen Roformationsgeschichte überzugehen.
Wie hier im Hinblick auf den Inhalt ist auch hinsichtlich der sprach-
lichen Form der frühneuhochdeutschen Dichtwerke manches für das er-
leichterte Verständnis dargeboten worden. Eine erschöpfende und wissen-
schaftlich vollwertige Darstellung der frühneudeutschen Grammatik fehlt
freilich noch und wird erst nach längerer Zeit spezialisierter Detailforschung
möglich sein. Einen vorläufigen Ersatz, der zwar nicht immer einwandfrei
ist, im ganzen aber recht gute Dienste leistet, bietet V. Mosers „Histo-
risch-grammatische Einführung in die frühneuhochdeutschen Schriftdialekte
(Halle 1909), an die nur kurz erinnert sei. Vor allem ist in diesem
Zusammenhang auch auf A. Götzes ungemein brauchbares und als Er-
gänzung zu den größeren Wörterbüchern von Grimm, Fischer, Martin,
Schmeller, Schmidt u. a. längst entbehrtes „Frühneuhochdeutsches Glossar"
zu verweisen, das den hochdeutschen Wortschatz vom Ende des 15. bis
etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts aus den Quellen bearbeitet dar-
bietet und nach seinem ersten Erscheinen (1912) nun bereits in zweiter
stark vermehrter Auflage hervortreten konnte (Bonn 1920). — Der vor
dem Kriege mehrfach gerügte Mangel einer philologisch zureichenden
Zusammenstellung von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten,
die dem Anfänger zu privaten Studien oder als Grundlage von Uni-
versitätsübungen dienen könne, ist jetzt ebenfalls abgestellt worden.
H. Naumanns sorgfältig ausgewähltes „Altdeutsches Prosalesebuch"
(Straßburg 1916), das der lange ungebührlich vernachlässigten älteren
deutschen Prosa zu ihrem Rechte verhelfen möchte, liegt zwar mit seiner
Auswahl von Texten des 12. — 14. Jahrhunderts vor unserem Berichts-
raum, bietet aber mit seinen die Vorstadien des späteren Prosastils vor
Augen führenden Textproben gute Gelegenheit zu entwicklungsgeschicht-
lichen Stilstudien. Anschließend kommt vor allem das jüngsterschienene
„PVüh-Neuhochdeutsche Lesebuch" in Frage, mit dem A. Götze eine
längst empfundene Lücke im Bestände unserer Lehr- und Übungsbücher
ausfüllte (Göttingen 1920). In 29 besonders den südwestlichen und
ostmitteldeutschen Sprachgebieten entnommenen Textproben aus der Zeit
von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bis etwa zur Wende des
16. und 17. Jahrhunderts rollt der ganze mundartliche Reichtum und
die sprachlich-literarische Entwicklung dieser interessanten und vielfach
noch immer unterschätzten Übergangsepoche vorüber. Die ausgewählten
Stücke sind nur zum kleineren Teil der poetischen Welt entnommen
und legen den Schwerpunkt «uf die frühneuhochdeutsche Prosa, die
22
nicht nur in ihrer dichterischen Ausprägung als Dialog, Fabel und
Anekdote Berücksichtigung findet, sondern vor allem auch in briefHchen,
wissenschaftlichen, amtlichen und geschäftlichen Dokumenten vorgeführt
wird. Indem die Texte mit Vorbedacht in verschiedenem Zustand dar-
geboten werden und neben wohlgeglätteten und sauberen Schriftstücken
auch mehr oder weniger in Schrift und Druck verwahrlostes, ja im
Rohstoff steckengebliebenes Textmaterial steht, bekommen wir nicht nur
ein Bild von der sprachhchen, stiUstischen und drucktechnischen Willkür
der Zeit, sondern es ist auch Gelegenheit zur Einführung in die text-
philologische und textkritische Arbeitsweise gegeben.
Die Anfänge des Prosaromans im 15. Jahrhundert erwachsen im
wesentlichen aus den Auflösungen mittelalterlicher Epen. Während aber
Frankreich diesen Umschmelzungsprozeß an einer größeren Anzahl von
versifizierten Werken sich vollziehen läßt, sind in Deutschland nur ein
paar Beispiele dieser Art nachweisbar. Diese nimmt F. Schneider
in seiner Greifswalder Dissertation (1915): „Die höfische Epik im früh-
neuhochdeutschen Prosaroman '' aufs Korn, indem er die nur handschrift-
lich überlieferte und seinerzeit von Bachmann und Singer heraus-
gegebene Geschichte vom heiligen Wilhelm nach Wolfram von Eschen-
bach und seinen beiden Fortsetzern, die ebenfalls nur in Züricher
Handschriften auf uns gekommene Erzählung vom Leben Karls des
Großen nach Konrad von Fleck und dem Stricker, die Prosalegende
vom heihgen Georg nach Reinbot von Durne, weiterhin den 149:> erst-
malig gedruckten Wigaloisroman nach dem epischen Gedicht Wirnts
von Grafenberg, den aus dem Epos Eilharts von Oberge geflossenen
und 1484 gedruckten Tristanroman und schließlich den aus dem Epigonen-
epos des Johann von Würzburg hervorgegangenen Prosaroman „Wil-
helm von Österreich" in bezug auf Darstellungsart, Abänderungen,
Syntax, Stil, Wortschatz usw. mit den Vorlagen vergleicht. Gegenüber
den höfischen Quellen läßt sich ein deutliches Zurücktreten des Inter-
esses an höfisch - ritterlichen Dingen wie vor allem Kampf- und Minne-
szenen und dafür ein Hervordrängen theologisch - lehrhafter Elemente
beobachten. Für die in denselben Handschriften überlieferten Prosa-
stücke vom hl. Wilhelm, hl. Karl und hl. Georg wird die Identität des
Bearbeiters angenommen. [Ungleich heller als diese nicht gerade tief
eindringende Anfängerarbeit beleuchtet neuerdings diesen ganzen Problem-
kreis des frühneuzeithchen Romans W. Liepes philologisch festfundiertes
Buch „Elisabeth von Nassau- Saarbrücken, Entstehung und Anfänge des
Prosaromans in Deutschland" (Halle 1920), auf das hier nur nachdrück-
lich hingewiesen sei.] — Mehrfach sind die Volksbücher des 16. Jahr-
hunderts Gegenstand von Untersuchungen gewesen, nachdem sie kurz vor
dem Kriege ihren warmherzigen Vei"fechter in R. Benz gefunden hatten,
der in seiner Schrift „Die deutschen Volksbücher" (Jena 1913) begeistert
für diese angeblich verkannte Literaturgattung sich einsetzte und ihr Auf-
treten im ausgehenden Mittelalter und zur beginnenden Neuzeit für eine
besondere Blüte des gotischen Kunstgeistes erklären wollte. Wenn er
damit auch über das Ziel hinausschoß, so war das Bemühen um eine
23
gerechtere Würdigung dieser lange verachteten Literaturdenkmäler
neben anderem ein Zeichen für die gegenwärtig erfreulicherweise immer
mehr zunehmende Neigung, diese Übergangsepochen des 15. — 17. Jahr-
hunderts höher zu bewerten und mehr zu beachten, als es früher zumeist
geschah. — Das seit seinem Erscheinen im Jahre 1509 oft aufgelegte
und in zahlreiche europäische Sprachen übersetzte Volksbuch von
Fortunatus und seinen Sühnen, dem seinerzeit Zacher in Ersch und
Grubers Realenzyklopädie einen gelehrten Artikel gewidmet hatte, unter-
suchte von neuem H. Günther in seiner tüchtigen Freiburger Disser-
tation (1916) vor allem auf das Herkunftsproblem hin. Indem er die
24 Grundmotive, in die er den Roman zerlegt, auf ihre ältere Tradition
hin prüft, weist er überzeugend die mehrfach behauptete fremdländische
Abkunft der Erzählung ab und vermutet ihre Entstehung in den bürger-
lichen Kreisen Augsburgs. Alte Märchenmotive aus Orient und Okzident
sind hier um 1450 mit Reiseberichten und Zeitgeschichten zu einem
erzählungstechnisch nicht sonderlich hochstehenden, aber die Phantasie
vielfach anregenden Roman zusammengesponnen worden. Nachdem
R. Benz dieses Volksbuch schon 1912 in einer sprachlich leise über-
arbeiteten Fassung weiteren Kreisen von neuem zugänglich gemacht
hat, gab jetzt derselbe H. Günther nach dem Augsburger Ürdruck
von 1509 einen philologisch genauen Abdruck (Halle 1915).
Eine wertvolle Gabe bot K. von Bah der in seinem kritischen Neu-
druck (1914) des „Laiebuches" vom Jahre 1597, dem die Abweichungen
und Erweiterungen der „Schiltbürger" (1598) und des „ Grillen vertreibers"
(1603) beigefügt sind. In einer langen, ungemein aufschlußreichen Ein-
leitung wendet sich der Herausgeber zunächst gegen jene seinerzeit von
E. Jeep auigestellte Hypothese, derzufolge alle drei Schwankbücher von
demselben Autor, und zwar von dem Wittenberger Hauptmann Hans
Friedrich von Schönberg stammen sollten, während die dialektische Ver-
schiedenheit der Werke unbedingt gegen diese Verfassergleichheit spricht.
Indem v. Bahder das Verhältnis der drei Texte sorgfältig gegen-
einander abwägt, kommt er, eine frühere Ansicht E. Schröders im
wesentlichen bestätigend, zu dem Resultat, daß nach Wortschatz und
Wortform der Verfasser des „Laiebuches" ein Elsässer war und wahr-
scheinlich in den akademischen Kreisen Straßburgs zu suchen sei, wohin
ihn auch drucktechnische Gründe weisen. Für den Frankfurter Buch-
drucker Paul Brachfeld hat dann ein aus sprachlichen Gründen aus dem
Westerwald oder Oberhessen stammender Mann zunächst das Laiebuch
nur leicht verändert, indem er bei der Unverständlichkeit des alemanni-
schen Wortes Laie im westmitteldeutschen Gebiet die Bewohner des
meißnischen Schiida zu den Helden der Erzählung machte. In einer
zweiten, tiefer greifenden Umarbeitung desselben Bearbeiters, die vor
allem neben Einlagen in den originalen Bestand das ursprüngliche Werk
mit einem weitschweifigen und im Stil stark abfallenden 2. und 3. Teil
versah, wurde dann das Laiebuch zum „ Grillen vertreiber". Der Schluß
der Einleitung bietet eine genaue Bibliographie, die eine Übersicht über die
Druckgeschichte dieses Werkes bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts gibt.
24
In den Kreis der Faustsage führt uns die Ausgabe des „Volks-
buches vom Doktor Faust", die J. Fritz nach der um die Erfurter
Geschichten vermehrten Fassung vorlegte (Halle 1914). Bei der Be-
deutung, die man dieser um die berühmten Erfurter Kapitel vermehrten
Gruppe C längst beimißt, darf dieser vollständige Abdruck der Fassung C
willkommen geheißen werden, deren Archetypus in einem verloren ge-
gangenen und nur noch im Titelholzschnitt erhaltenen Straßburger
Erstdruck bestimmt wird. Eine sorgfältige bibliographische Zusammen-
stellung weiß die seinerzeit von Zarncke verzeichneten Drucke der
Sippen C und D des Faustbuches nahezu auf den doppelten Bestand
zu bringen.
In einer „Doktor Faust und Speyer" (Kaiserslautern 1914) betitelten Studie
sammelt A. Becker zunächst die Fäden, die Faust mit Speyer verbinden, und weist
dann auf einige neue Möglichkeiten bei der Entstehung des Speyerschen Fau.stbuches
von 1587 hin, unter denen namentlich die zu dem Kreis des Johann Nas in Ingol-
stadt führenden Beziehungen zu denken geben. — Leider nur sehr beschränkten
Kreisen zugänglich ist die ausgezeichnete Ikonographie der Faustsage, die R. Payer
von Thurn unter dem nicht recht zutreffenden Titel ., Der historische Faust im Bilde''
als Privatdruck der Wiener Bibliophilen- Gesellschaft vorlegte (Wien 1917). In den
begleitenden textlichen Ausführungen wird als Ausgangspunkt der bildlichen Faust-
tradition der Josephkopf aus Rembraudts Bild „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten''
iTwiesen, der in dem Stich des Rembrandtschülers Joris van Vliet die lange Reihe
der Versuche eröffnete, den sagenhaften Faust sich im Bilde vorzustellen.
Das von der Forschung lange vernachlässigte Wagnervolksbuch,
das die Schicksale und Abenteuer des Famulus Wagner erzählt und
als eine Art Fortsetzung des ältesten Faustbuches bereits 1593 als be-
sondere Historie hervortrat, ist neuerdings mehrfach von J. Fritz
behandelt worden; 1914 ließ dieser Forscher in den deutschen Lite-
raturdenkraalen des 18. und 19. Jahrhunderts einen Neudruck des
„Wagnervolksbuches im 18. Jahrhundert" erscheinen. In der Ein-
leitung gibt F. in Ergänzung zu seinen früheren bibliographischen Nach-
weisen eme genaue Beschreibung des neuentdeckten Upsalaer Druckes
und der Ausgaben des Volksbuches aus den Jahren 1712, 1714, 1798,
1799, untersucht das Verhältnis der einzelnen Texte zueinander und
gibt Aufklärung zur Frage der Verfasserschalt der verschiedenen Drucke
und Bearbeitungen.
..Zur Geschichte und Bibliographie des Volksbuches von Ahasverus" weiß
L. Neubaur in einem Aufsatz der Zeitschr. f. Bücherfreunde (N. F. 5, 211 — 223)
vom Jahre 1914 manches Neue vorzubriogen. Nach einer kurzen Zusammenfassung
der literarischen Tradition der Legende im Orient und in romanischen Aufzeichnungen
des 13.— 17. Jahrhunderts tritt er auch an dieser Stelle für seine schon früher ge-
äußerte Überzeugung von der Entstehung dieses Volksbuches aus der mittelalterlichen
Überlieferung ein, indem er gegen E. König polemisiert, der die Selbständigkeit der
Ahasvergestalt als einer Allegorie des jüdischen Volkes behauptet hatte. In Deutsch-
land tritt das Volksbuch bekanntlich erst 1602 auf den Plan, wo ein unbekannter
Verfasser den kurzen Bericht des schleswigscheu Bischofs von Eitzen von einem Er-
lebnis aus seiner Studentenzeit zum Abdruck brachte. In Ergänzung hierzu kann N.
nachweisen, daß der Schleswiger Verleger jenes ersten deutschen Ahasvervolksbuches
durch persönliche Bekanntschaft mit Paul von Eitzen und geschäftliche Gründe zur
Hei-ausgabe veranlaßt wurde. Die angefügte Bibliographie vervollständigt die fiüher
von N. im Zentralblatt für Bibliothekswesen (1893 und 1911) gegebenen Drucklisten.
25
Neben den Volksbüchern ist die prosaische ünterhaltungsliteratur
der Reformationsepoche im Berichtszeitraum wenig behandelt worden.
Zu nennen ist nur die tüchtige Arbeit von Gertrud Fauth über
„Jörg Wickram s Romane" (Straßburg 1916), die aus einer Straßburger
Dissertation über „Jörg Wickrams Romantechuik^' (1915) erwuchs und
in ihrer vervollständigten und vertieften Buchtoi-m als zweiter Band der
von der Gesellschaft für elsässische Literatur herausgegebenen „Einzel-
schriften zur Elsässischen Geistes- und Kulturgeschichte" erschien. Ob-
wohl die textphilologischen Grundlagen in der ausgezeichneten vier-
bändigen Wickramausgabe von J. Bolte und W. Scheel bereits seit
zwanzig Jahren gegeben waren, hat sich die eigentlich literarhistorische
Forschung mit Wickrams Leben und Schaffen noch immer unzureichend
beschäftigt. So ist es zu begrüßen, daß hier mit Glück der Anfang
zu einem tieferen Eindringen in die künstlerische Eigenart Wickrams
und seiner Erzählungsweise gemacht wird, indem die fünf Romane des
elsäsisischen Meistersingers und Stadtschreibers eingehend nach Aufbau,
Stilmitteln und Charakterzeichnung analysiert werden und daran an-
schließend Wickrams Bedeutung als kulturgeschichtliche Quelle unter-
sucht wird.
Dagegen ist die satirische Literatur ihrer Bedeutung innerhalb
dieses Zeitraums entsprechend mehrfach durch Ausgaben und Unter-
suchungen wissenschafthch gefördert worden. Zunächst ist auf zwei
Arbeiten allgemeinerer Art aufmerksam zu machen. Nachdem F. Lepp
1908 in seiner Leipziger Dissertation die „Schlagwörter des Reformations-
zeitalters" behandelt und A. Blatter 1911 mit engerer Einkreisung in
einem Schulprogramm die Schmähungen, Scheltreden und Drohungen
der schweizerischen Reformationsliteratur im besonderen gesammelt hatte,
untersuchte jetzt G. Meier in mehreren Aufsätzen der Zeitschrift für
Schweizerische Kirchengeschichte (1917) nochmals eingehend auf Grund
ausgedehnten Quellenmaterials die „Phrasen, Schlag- und Scheltwörter
der Schweizerischen Reformationszeit", indem er die gegen kirchliche
Personen wie gegen die kirchliche Lehre gewendeten satirischen Worte
sammelt, ferner die als Parteibezeichnungen dienenden Ausdrücke
zusammenstellt und schließlich den gleichgerichteten spi'ichwörtlichen
Redensarten und Wortspielen seine Aufmerksamkeit zuwendet. — Auch
R. Schmidts Straßburger Dissertation (1917) über „Die Frau in der
deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts" schlug neuerdings schon
mehrfach begangene Pfade ein. H. Gattermann hatte 1911 in einer
Greifswalder Dissertation die Rolle der Frau im Fastnachtsspiel behandelt
und F. Brietzmann in einer in der Berliner Palaestra erschienenen Arbeit
1912 die Verwertung des übel- wip- Motivs vom Mittelalter bis zum
1 6. Jahrhundert verfolgt. In Ergänzung und weiterer Ausführung dieser
Vorstudien sucht jetzt Schmidt ein Gesaratbild der Frau, wie es sich
in der Literatur des 16. Jahrhunderts spiegelt, zu entwerfen, indem er
das weibliche Dasein in seinen verschiedenen privaten und öfFenthchen
Erscheinungsformen aus literarischen Zeugnissen rekonstruiert und mit
den historisch wirklichen Zuständen vergleicht. Es zeigt sich, daß die
26
\
vielerwähnte Frauenfeindlichkeit zwar in dieser Epoche in der Tat eine
groISe Rolle spielt, neben den Zerrbildern aber auch oft genug in der
literarischen Zeichnung Idealbilder von einer tieferen Frauenauffassung
Zeugnis ablegen.
Mehrfach haben die drei großen vorreformatorischen Satiriker, die
lange von der Wissenschaft stiefmütterlich behandelt worden waren, die
Forschung beschäftigt. Nachdem uns das Jahr 1913 in den Jahresgaben
der Gesellschaft für elsässische Literatur und in den Publikationen der
deutschen Bibhophilengesellschaft gleich zwei Faksimiledrucke von
Sebastian Brants „Narrenschiff" gebracht hatte, von denen namentUch
der erstere mit seinem gehaltvollen Nachwort von F. Schultz die Brant-
forschung auf neue Bahnen wies, hegt jetzt auch eine vorzügliche Aus-
gabe des niederdeutschen Narrenschiffs vor (Halle 1914). Wie schon
der Titel „H. van Ghetelen: Dat Narrenschipp" andeutet, weist der
Herausgeber H. Brandes die erstmalig 1497 in Lübeck heraus-
gekommene niederdeutsche Umdichtung, die er mit Recht sehr hoch
einschätzt, dem aus setner westfälisch - braunschweigischen Heimat nach
Lübeck übergesiedelten Hans von Ghetelen zu, der auch als Verfasser
einer ganzen Reihe von niederdeutschen, in der Mohnkopfschen Offizin
der Hansestadt erschienenen Werke anzusprechen sei. Der überzeugend
geführte Nachweis wie die damit verbundene Quellenuntersuchung geben
mitsamt dem Anmerkungsapparat und dem sorgfältig gearbeiteten Glossar
dieser Ausgabe dauernde Bedeutung.
Einer freundlichen Aufnahme begegnete auch die von P. Heitz veranstaltete
und von einem Nachwort von F. Schultz begleitete Ausgabe von Brants ,, Flug-
blättern"- (Straßburg 1915), die auf ü2 faksimilierten Blättern aus den Jahren
1492 — 1504 allerhand lateinische und deutsche Gedichte Brants auf seltsame Natur-
erscheinungen , historische Ereignisse , geistliche Themen u. a. biiugt und damit die
Aufmerksamkeit auf eine zu wenig beachtete Seite seiner schriftstellerischen Tätigkeit
lenkt. — Die theologische Dissertation von F. X. Zacher über „Geiler von Kaisers-
berg als Pädagoge (Diss. Freiburg i. Br., 1916) war mir, da nicht dem Austausch-
verkehr unterlegen, nicht zugänglich.
Zu dem dritten vorreformatorischen Satiriker leitet die Marburger
Dissertation (1914) von Th. Maus über, die den Titel „Brant, Geiler
und Murner: Studien zum Narrenschiff, zur Navicula und zur Narren-
beschwörung" führt und vervollständigt auch in den Schriften der Ge-
sellschaft für elsässische Literatur erschien. Der sorgfältige Vergleich
von Geilers 14^98/9 im Straßburger Münster gehaltenen und dann 1511
in lateinischer Übersetzung herausgekommenen Predigten über das Narren-
schiff mit Brants satirischer Dichtung zeigt, daß Geiler zwar im ganzen
sich an die Kapitel- und Gedankenfolge hält und die Vorlage ihm allent-
halben die Grundlage bietet, daß er aber im einzelnen vollständig frei
verfährt und die nach Belieben herausgegriffenen Verse selbständig aus-
deutet sowie mit neuen Beispielen, Sprichwörtern und Gleichnissen ver-
sieht. Dagegen leugnet M., darin vielleicht etwas zu weit gehend, jegliche
literarische Beziehungen zwischen Murner und Geiler, ganz im Gegen-
satz zu K. Otts Dissertation, der seinerzeit (Heidelberg 1895) „Murners
Verhältnis zu Geiler" entschieden überschätzt hatte. Während somit
27
die Predigten des großen Münsterredners für Murner als literarische
Anregung nicht in Frage kommen, bestätigt auch die Untersuchung von
M. den starken Einfluß Brants auf Murner, der zwar die Anordnung
seines Vorgängers aufgibt, dafür aber im einzelnen zahlreiche Verse und
Reimbindungen übernimmt und vor allem von den größtenteils (67) dem
älteren Werke entlehnten Holzschnitten starke Anregungen zu selb-
ständiger Ausdeutung empfangen hat. — Diese letztberührte Frage, die
das Verhältnis von Dichtung und bildender Kunst zueinander unter-
sucht, ist neuerdings erfreulicherweise mehr in den Vordergrund des
Interesses gerückt. Von der Leyen (Abhandlungen für F. Muncker, 1915)
und Simon (Z. f. d. U. , 32. Bd.) gaben Anregungen für das Hochmittel-
alter, F. Schultz betonte die Wichtigkeit des Problems für das be-
sonders illustrationsfreudige Keformationszeitalter, und in der jungen
theatergeschichtlichen Disziplin hat diese wechselseitige Beziehung be-
sonders im Kapitel der Mysterienbühne, aber auch sonst steigende Be-
deutung gewonnen. Eine aus dem Straßburger Seminar erwachsene
Untersuchung von Maria Wolters (1917) geht der Frage nach den
„Beziehungen zwischen Holzschnitt und Text bei Sebastian Brant und
Thomas Murner" im einzelnen nach. Sie bestätigt die Tatsache, daß die
Bilder des N. Seh. zu gemütvoll und lebendig sind, als daß der trockene
Brant dafür als Zeichner in Frage kommen könne. Wohl aber scheint
bei dem zumeist engen Verhältnis zwischen Motto und Bild Brant doch
insoweit persönlich beteiligt zu sein, daß er die Hauptmomente für die
Illustration angab, die z. T. nur bestimmte Textzeilen veranschaulicht,
vielfach aber auch über den Kapitelinhalt hinausgreift und in eigen-
schöpferischer Arbeit dem oft steifleinenen Text Farbe und Gehalt zu-
führt. Anders dagegen bei Murner, wo Text und Illustration eine so
enge Einheit bilden, daß der franziskanische Satiriker nur selbst die
Illustration besorgt haben kann. Die Ansicht, die Merker gleichzeitig
in seiner sofort zu nennenden Murnerausgabe über diese Bilderfrage
vortrug (S. 69 — 78), erhält so eine willkommene Bestätigung.
Nachdem die ältere Forschung, selbst Scherer nicht ausgenommen,
gegen Murner zumeist eine gewisse Voreingenommenheit an den Tag
gelegt hatte, bahnt sich seit geraumer Zeit eine gerechtere Beurteilung
an. Indem mau einerseits manche seiner Schwächen auf Rechnung des
Zeitstiles setzt und andererseits ihn nicht bloß als streitlustigen Krakeeler,
sondern als temperamentvollen Verfechter seiner Überzeugungen und
klarblickenden Kopf wertet, verschiebt sich das Bild zu seinen Gunsten.
Die vortreffliche, schon 1913 erschienene Göttinger Dissertation von
G. Bebermeyer, die unter dem etwas gezwungenen Titel „Murnerus
pseudepigraphus" die Hypothese von zwei neuen, angeblich dem Straß-
hurger Franziskaner zukommenden satirischen Schriften mit solidestem
philologischen Rüstzeug zurückwies, leitete diese neue Richtung ein. Eine
gute Grundlage für die weitere Beurteilung bot dann die kenntnisreiche
und in der Hauptsache zuverlässige Biographie von Th. von Liebenau
(Freiburg 1913), die freilich neben der kirchenpolitischen und wissen-
schaftlichen Bewertung des Straßburger Franziskaners die literarhistorische
28
Seite zu kurz wegkommen ließ. — War dieses Werk zunächst für die
Fachkreise bestimmt, so wendet sich das Buch von G. Schumann
„Th. Murner und seine Dichtungen" (Regensburg 1915) an das weitere
Pubhkum, indem es in einer breiten, überreich mit Zitaten arbeitenden
und vielfach polemisch gerichteten Einleitung ein populäres Bild von
Murners Leben und Schaffen zu geben und in einer Blütenlese aus
seinen satirischen Schriften eine Vorstellung von seiner literarischen
Eigenart zu bieten sucht, die freilich durch das geglättete Metrum und
die modernisierte Sprache verwischt wird. Bei der Textauswahl wird
nach alter Tradition fälschlich noch immer auch der hochdeutsche Eulen-
spiegel berücksichtigt, obwohl nach der überzeugenden Freiburger Disser-
tation von H. Lemcke (1908) längst die Irrtümlichkeit dieser Zuweisung
feststeht. — Der auffallendste Stileindruck, den die Lektüre von Murners
Werken hinterläßt, ist die starke Volkstümlichkeit seiner Sprache. Zwei
Arbeiten der Berichtszeit bringen dies noch deutlicher zum Bewußtsein.
Anna Riese sammelt in ihrer Aufsatzfolge : „ Sprichwörter und Redens-
arten bei Thomas Murner'^ (Z. f. d. U., 31. Bd., S. 215 ff. 289 ff. 359 ff.
450 ff.) das durch alle seine Werke reich verstreute sprichwörtliche Sprach-
gut und ordnet es nach einheitlichen Gesichtspunkten. Besonders fördernd
aber ist die tüchtige, auf fleißigster Materialsamralung beruhende Arbeit
von Joseph Lefftz über „Die volkstümlichen Stilelemente in Murners
Schriften" (Straßburg 1915), die besonders die Formelhaftigkeit und
Fülle, die dramatische Lebendigkeit und GegenständHchkeit, die An-
schaulichkeit und Bildhaftigkeit und schließlich den Stimmungsgehalt
der Sprache Murners herauszuarbeiten sucht und dabei überall die enge
Verbindung mit dem elsässischen Volkstum und der Kultur der Zeit
nachweist. Nur bleibt zu wünschen, daß der Verfasser sich öfters vom
Boden rein philologischer Behandlung zu größeren geistesgeschichtlichen
Weiten erhoben hätte, wodurch neben dem individuellen Moment das Zeit-
stilgebundene der Murnerischen Diktion noch deutlicher geworden wäre.
Wer bisher sprachliche oder metrische Studien über Murner machen
wollte, mußte notwendigerweise auf die zumeist recht selten gewordenen
Originaldrucke zurückgehen, da die meisten Werke Murners noch nicht
in zuverlässigen kritischen Neudrucken vorlagen. So ist es lebhaft zu
begrüßen, daß die Gesellschaft für elsässische Literatur, die erfreulicher-
weise auch nach dem Verlust unserer bisherigen Westmark fortbestehen
bleibt, u. a. auch eine kritische Ausgabe der gesamten deutschen Schriften
Thomas Murners auf ihrem Programm stehen hat. Den Anfang macht
jetzt mit Band 9 ein kritischer Neudruck von Murners Reformations-
satire „Von dem großen Lutherischen Narren" (Straß bürg 1918), den
P. Merk er vorlegt. Die Einleitung stellt in eingehender Erörterung
(84 S.) die Entstehungsgeschichte dieses in architektonischer Hinsicht
recht uneinheitlichen Werkes dar, indem sie aus dem Wandel der zeit-
geschichtlichen Voraussetzungen und Antriebe drei verschiedene Ent-
stehungsphasen mit verändertem Leitmotiv aufdeckt. Neben einer knappen
Zusammenfassung der sprachlichen und metrischen Eigenart dieser größten
antireformatorischen Satire und einem kunstgeschichtlichen Exkurs über
29
die im Neudruck wiederauflebenden Holzschnitte des Werkes, die als
Murners eigene Leistung erwiesen werden, kommt der Herausgeber noch
auf seine Editionsprinzipien zu sprechen. Er tritt bei dem flüssigen
Charakter der Sprache und der zumeist laxen Behandlung der sprach-
lichen und metrischen Außenseite der Texte durch die Autoren des
16. Jahrhunderts im allgemeinen und Murners im besonderen für eine
möglichst konservative Wiedergabe des Grundtextes ein und lehnt alle
schulmeisterlich -uniformierende Textbehandlung, wie sie für andere
Epochen wohlbegründet ist, für jene Zeit ab. In diesem Sinne gibt der
Neudruck die 480Ü Verse des Originaldruckes von 1522 im wesent-
lichen wörtlich wieder und ändert nur, wo offenkundige Druckfehler
vorliegen. Der eingehende Kommentar am Schluß bringt zu zahlreichen
Stellen die sprachlichen, sachlichen und zeitgeschichtlichen Erklärungen
und rückt damit viele Verse erstmalig in die rechte Beleuchtung.
Besonders reichhaltig stellt sich begreiflicherweise aus Anlaß der
vierhundertjährigen Wiederkehr der kirchlichen Reformtat Luthers in
der Berichtsepoche die reformations- und luthergeschichtliche Forschung
dar, die natürlich hier nur soweit Berücksichtigung finden kann, als sie
für den Literarhistoriker mit in Frage kommt, während die zahl-
reichen rein theologischen und dogmengeschichtlichen Publikationen aus-
scheiden.
Doch sei für einen weitergerichteten Interessenkreis wenigstens auf die beiden
vorwiegend auch die theologische Literatur berücksichtigenden Sammelreferate von
"W. Köhler: „ Der gegenwärtige Stand der Lutherforschungen " (Zeitschr. f. Kirchen-
geschichte, Vi. Bd.) und A. Baur (D. Litzeit. 1917, S. 1347 ff. u. lo79ff.) aufmerksam
gemacht.
An der Spitze der engeren Berichtsgruppe mögen zwei Werke
stehen, die ein allgemeines Kulturbild der Reformationszeit geben wollen
und von denen jedes in seiner Art seinen Zweck vortrefflich erfüllt.
Das „Buch der Reformation, geschrieben von Mitlebenden" nennt
K. Kaulfuß-Diesch sein Werk, das aus genauer Kenntnis des ge-
samten Zeitalters heraus die führenden Persönlichkeiten des Geistes und
der Tat aus allen Lagern und Richtungen, aus den verschiedensten Be-
rufen und Ständen in authentischer, jedoch insgesamt in allgemein-
verständlicher deutscher Sprache zu Worte kommen läßt und so in
einer reichen Bilderlülle besonders kulturgeschichtlicher Art eine Vor-
stellung von der Vollsaftigkeit und Vielseitigkeit dieser noch immer zu
wenig und zu einseitig erfaßten Epoche deutscher Volksgeschichte gibt.'
Eine Ergänzung dazu bietet das große Prachtwerk, das P. Schrecken -
bach und F. Neubert unter dem Titel „Martin Luther. Ein Bild
seines Lebens und Wirkens" erscheinen ließen. Mit seinen 384 Ab-
bildungen weit über das von Könnecke u. a. gebrachte Anschauungs-
material hinausgehend stellt es das zur Zeit reichhaltigste Bilderwerk
zur Geschichte dieser Reformationsepoche dar. Der mehr kulturgeschicht-
lichen Einstellung von Kaulfuß-Diesch gegenüber kommt hier vorwiegend
das kuMstgeschichtliche Schaffen der Zeit zum Ausdruck, indem die
besten Maler, Zeichner, Kupferstecher und Vertreter der Holzschneide- \
30
und Medaillenkunst aufmarschieren, um in Portraitköpfen, Stadtbildern,
Lokalwiedergaben, Schriftproben, Büchertiteln, Medaillen usw. das Zeit-
alter neu vor uns erstehen zu lassen. Eine eingehende, anschaulich ge-
schriebene Lebensbeschreibung Luthers, die aus der Feder Schrecken-
bachs stammend das Ganze einleitet, und erklärende Einzelausführungen
am Schluß erhöhen die Bedeutung des Werkes.
Die Grundlage aller wissenschaftUchen Lutherforschung bildet die
Weimarische Lutherausgabe, die mit ihrer Reichhaltigkeit und
sicheren textlichen Fundierung die Wittenberger und Jenaer Ausgabe
des 16. Jahrhunderts, die Altenburger Ausgabe des 17. Jahrhunderts,
die Leipziger und HalHsche Ausgabe des 18. Jahrhunderts und auch
die Erlauger Ausgabe des 19. Jahrhunderts im wesentlichen zu einer
nur noch historischen Bedeutung verurteilt hat. Unter dem Eindruck
der 400jährigen Feier von Luthers Geburtstag ins Leben gerufen und
unter theologischer wie philologischer Ägide mit mannigfachen inneren
Schwierigkeiten kämpfend, hatte sie es in dem Menschenalter bis zum
Ausbruch des Weltkrieges gerade auf ein halbes Hundert Bände ge-
bracht. Das Jahr 1914 sah dann noch den .tO. (Schriften der Jahre
1536 — 1539) und 51. Band (Schluß der Predigten aus den Jahren 1545
und 1546, letzte Psalmauslegungen der Jahre 1534 — 1536, Schriften
der Jahre 1540 — 1541) erscheinen, während 1915 mit dem 52. Bande
noch die Hauspostille von 1544/45 neu hervortreten konnte. Darauf
aber trat wie überall auch in dieser Ausgabe ein vorübergehender Still-
stand ein, bis erst 1920 der die Schriften von 1542 und 1543 enthal-
tende 53. Band das Unternehmen fortführen und nahe an sein Ende
bringen sollte. Erfreulicherweise konnte aber trotz der widrigen Zeit-
umstände auch die der Ausgabe der Werke parallel gehende Neuedition
der Tischreden weiter gefördert werden, indem zu den beiden 1912 und
1913 erschienenen ersten Bänden in den Jahren 1914, 1916 und 1919
drei weitere hinzutraten, so daß nur der Schlußband hier noch aussteht. —
Die gewaltige Bedeutung des Lutherischen Schrifttums für die gesamte
Kultur- und Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts wie der folgenden
Zeit hat es mit sich gebracht, daß man in neuerer Zeit diese geistige
Welt auch über den engen Kreis fachwissenschaftlicher Erforschung und
schuhscher Ausschöpfung hinaus einem größeren Publikum in Auswahl
darzubieten suchte. Die Braunschweiger Ausgabe (1889 ff.) mit ihren
vortreffhchen Einleitungen und guten Verdeutschungen der lateinischen
Originaltexte hatte diese Bahnen erstmalig eingeschlagen, die dann
Clemens' geschickte Auswahl in vier Bänden (Bonn 1912) mit besonderer
Einstellung auf die akademische Jugend weiterverfolgt hatte. In dem
Berichtszeitraum sind dazu noch zwei weitere Ausgaben populärer Art
getreten. In dem Münchener Verlag Georg Müller, der sich durch
eine ganze Reihe gediegener Neueditionen deutscher Klassiker verdient ge-
macht hat, begann H. H. Bor eher dt eine etwa auf 15 Bände berechnete
Auswahl von Luthers Werken erscheinen zu lassen, die weniger die
religionsgeschichtliche als die geistes- und kulturgeschichtliche Bedeutung
des Lutherischen Lebenswerkes zum Ausdruck bringen soll und eine
31
Vorstellung von der Vielseitigkeit dieser für alle Seiten des nationalen
Lebens bahnbrechenden Persönlichkeit wecken will. Für die breiten
Schichten der Gebildeten berechnet wird die Ausgabe die ausgewählten
Werke in einer leise und vorsichtig modernisierten Sprachtorm wieder-
geben und die lateinischen Texte in einer der Sprache Luthers mög-
lichst nahestehenden Übersetzung darbieten. Bisher ist von dieser Aus-
gabe nur der von P. Kalkoff und PL H. Borcherdt gemeinsam bearbeitete
'i. Band erschienen (1914), der die großen Reformationsschriften des
Jahres 1520 zum Abdruck bringt und seinen besonderen Wert durch
eine ausführliche, die entstehungsgeschichtlichen Grundlagen dieser Werke
großzügig zusammenfassende Einleitung erhält. [Dazu 1922 zwei weitere
Bände, vgl. die bibliographische Übersicht am Schluß dieses Berichtes.]
Für den noeli ausstehenden 1. Band schrieb H. Thode (f) eine einleitende und
als Gesamteinführung zur Ausgabe gedachte Skizze, die die gewaltige Nachwirkung
des Reformators auf Wissenschaft und Kunst durch die neuzeitlichen Jahrhunderte
verfolgt und 1915 unter dem Titel „Luther und die deutsche Kultur" vorläufig selb-
ständig hervortrat. — Ähnlichen von der kulturgeschichtlichen "Weltstellung Luthers aus-
gehenden Zielen strebt die dreibändige Ausgabe von Luthers Werken zu, die A. E. Berger
im Bibliographischen Institut erscheinen ließ (1917), nur daß hier der Text nach den
besten ursprünglichen Ausgaben in authentischer Form dargeboten wird und auch
sonst die Erläuterungen und textkritischen Erörterungen offenbar ein Publikum ge-
schulterer Art im Auge haben. Anschließend sei noch auf die ansprechende „Aus-
wahl deutscher Lutherbriefe" von J. Fritz aufmerksam gemacht, die von den rund
850 auf uns gekommeneu deutschen Briefen 64 vorwiegend die menschliche Seite des
Reformators spiegelnde Schriftstücke auswählt und damit einen Einblick in sein Ver-
hältnis zu Eltern, Familie, Freunden, Kollegen und Anhängern bietet.
Allgemeinverständlich, jedoch von wissenschaftlicher Grundlage aus
geschrieben, stellen sich die aus Anlaß des Jubiläums erschienenen Luther-
bücher von Th. Brieger: „Martin Luther und wir" (Gotha 1916),
W. Walther: „Luthers Charakter" (Leipzig 1917), W. Köhler:
„M. Luther und die deutsche Reformation" (Leipzig 1916, N. u. G. 515)
und A. von Harnack: „M. Luther und die Grundlagen der Refor-
mation" (Berlin 1917) dar, haben aber, aus theologischer Feder stammend,
begreiflicherweise mehr den Gottessti'eiter und Kirchenheros als den
geistigen Wegebereiter im Auge. Dagegen nehmen zwei weitere aus
Vorträgen hervorgegangene Jubiläurasschriften germanistischer Verfasser
vorwiegend Luthers Verhältnis zu deutscher Sprache und Dichtung aufs
Korn. In packender Darstellung und mit sprachlicher Meisterschaft
beleuchtet d. Roethe, „D. Martin Luthers Bedeutung für die deutsche
Literatur" (Berlin 1918), besonders das Deutschtum und die Volkstüm-
lichkeit des Reformators betonend und seine großen Verdienste um das
Kirchenlied und die neue Kunst der Prosaschrift, seine überragende
Stellung als Bibelübcrsetzer, sowie seine entwicklungsgeschichtliche Rolle
in der deutschen Sprachgeschichte herausarbeitend, wobei im Gegensatz
zu der vielfach üblich gewordenen Überschätzung seiner künstlerischen
und historischen Bedeutung auf diesen Gebieten auch die Grenzen seiner
Kraft und Wirksamkeit aufgezeigt werden, dafür aber die hohe ethische
und pädagogische Mission dieser einzigartigen Persönlichkeit in um so
hellerem Lichte erstrahlt. — Die hier durchbUckende kritische Ein-
32
schränkung der „künstlerischen" Bedeutung Luthers dehnt P. Merk er
im ersten Teil seiner Schrift „Reformation und Literatur" (Weimar
1918) mit stilgeschichtlicher Einstellung auf das ganze Zeitalter aus,
indem er sich im HinbHck auf das im wesentHchen gleiche oder doch
nur wenig gewandelte Geschmacksempfinden des 15. und 16. Jahrhunderts
energisch gegen die übliche Ansetzung einer neuen literarischen Epoche
mit Beginn der Reformation wendet, da das dichterische Schaffen zwar
zweifellos besonders durch die bibhsche und tendenziöse Dichtung dieser
Jahrzehnte eine starke stoffliche Bereicherung erfahren habe, jedoch
Stil- und geistesgeschichtlich betrachtet nicht auf ein anderes Niveau
gebracht worden sei. Nach einer Würdigung der außerlutherischen
Leistungen der Reforraationsdezennien , wie sie besonders in der volks-
tümhchen Propagandalyrik, in den satirischen Reformationsdialogen und
im reformatorischen Tendenz- und Schuldrama zutage treten, wird auch
hier Luthers Stellung zur Literatur überhaupt, seine Bedeutung als
Kirchenlieddichter und Bibelübersetzer sowie seine Stellung in der deut-
schen Sprachgeschichte behandelt und zum Schluß der überwiegend
protestantische Charakter der neueren deutschen Literatur betont.
Als die beiden wissenschafthch vollwertigen, freilich etwas einseitig
auf das theologische Moment eingestellten Lutherbiographien konnten
jahrzehntelang die beiden Werke von Köstlin (zuerst 1875) und Kolde
(1883 ff.) gelten, während die Bedürfnisse weiterer Kreise neben der treff-
lichen, besonders vom historischen Standpunkt aus geschriebenen Jubi-
iäumsschrift von Lenz (1883) vorwiegend durch die beiden populären Werke
von A. Hausrath (zuerst 1904, in 3. Auflage 1914 von H. von Schubert neu
herausgegeben) und G, Buchwald (zuerst 1901, dann 1914-, zuletzt
in stark umgearbeiteter Form 1917^) befriedigt wurden. Von epoche-
machender Bedeutung war dann die große, auf breitester kulturgeschicht-
licher Grundlage aufgebaute Luthermonographie von Arnold E. Berger,
die seit 1895 erscheinend zunächst in einem einleitenden Teil die all-
gemeinen Kulturaufgaben der Reformation großzügig umriß, um dann
in zwei rasch aufeinanderfolgenden Hauptteilen (1895 und 1898) die
Schilderung vom Leben, Schaffen und Wirken des Reformators bis zum
.Jahre 1532 fortzuführen. Nach zwei jahrzehntelanger, teils in persön-
lichen Verhältnissen des Verfassers, teils in der allgemeinen Zeitlage
begründeten Stockung ist jetzt endhch in zwei umfangreichen Schluß-
bänden (II, 2: 1919 und III: 1921) das Gesamt werk zu Ende gebracht
worden. Die hier allein in Frage kommende zweite Hälfte des zweiten
Teils (1919) sucht, wie schon der Untertitel „Luther und die deutsche
Kultur" angibt, Luthers führende Stellung im geistigen Leben seiner
wie der folgenden Zeit herauszuarbeiten und seine Bedeutung als Kirchen-
stifter und Theologe, als Ethiker und Sozialist, sowie seine bahnbrechende
Einwirkung auf Wissenschaft, Erziehung, Kunst, Sprache und Literatur
zu plastischer Anschauung zu bringen. Man muß die vielseitigen Kennt-
nisse des Verfassers bewundern, der mit hingebender Liebe seinen Heros
in den Mittelpunkt der ganzen Zeit stellt und in dessen Persönüchkeit
wie in einem Brennpunkt die Strahlen der Gesaratkultur auffängt ; und
Wissenschaftliche Forschungsberichte VIU. 3
33
doch kann man sich bei aller reichen Belehrung des Eindrucks nicht
erwehren, daß Luthers eigenschöpferische Bedeutung hier denn doch
stark überschätzt wird. Es schmälert Luthers gewaltige kirchenpolitische
und geistesgeschichtliche Tat durchaus nicht, wenn man seine Ideenwelt
im Sinne der neueren evangelischen Theologie eines Tröltsch u. a. (die
Berger konsequenterweise auch ablehnt) mehr mit der spätmittelalter-
lichen, besonders mystischen Atmosphäre verbindet und andrerseits auch
die Grenzen seiner W'irksamkeit auf die Folgezeit aufdeckt. Hier da-
gegen erscheint Luther als die allüberstrahlende Sonne, der die vorauf-
gehende mittelalterliche Nacht kaum ein schwaches Frührot als Vor-
zeichen sandte und die mit ihrem geistigen Licht all die folgenden Jahr-
hunderte mit Tageshelle umgibt.
Einen Markstein in der Geschichte der Lutherforschung dürfte die
neue Darstellung der Jugendentwicklung Luthers bilden, die nach seinen
früheren eindringlichen Studien über den Keformator O. Scheel unter
dem Titel „Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation", 1. Band:
Auf der Schule und Universität (Tübingen 1916), 2. Band: Im Kloster
(ebd. 1917) erscheinen ließ. Indem das Werk, das sich nicht immer
leicht liest, aber reichste Belehrung spendet, überall auf die Quellen zu-
rückgreift und diese mit kritischen Blicken bewertet, räumt es mit einer
ganzen Reihe biographischer Legenden und traditionell gewordener Irr-
tümer auf. Wertvoll wird es besonders auch durch seine eingehende
Berücksichtigung der Milieu Verhältnisse, die den Werdegang und das
Weltanschauungsbild des jungen Studenten und Mönches auf der Grund-
lage der umgebenden lokalen, akademischen und personalen Verhältnisse
betrachtet.
In die Geschichte der ältesten Lutherforschung führt die Münsterische Disser-
tation von A. Herte mit ihrer quellenkritischen Untersuchung über „Die Luther-
biographie des Johannes Cochläus" (1915) ein. Sie zeigt, wie der aus einem
ursprünglichen Verehrer Luthers zu einem glühenden Verfechter der päpstlichen
Sache sich wandelnde katholische Theologe und Dresdner Hofkaplan schon Anfang
der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts als sein Hauptwerk eine Geschichte des
Lebens Luthers in Angriff nahm, wie aber diese Commentarii de actis et scriptis
M. Lutheri dann ins Stocken kamen und erst unmittelbar nach dem Tode des Refor-
mators wieder kräftiger aufgenommen wurden, und 1549 in einem über 600 Seiten
starken Bande erschienen, der 1565 und ,1568 neu aufgelegt wurde und einige
Dezennien später auch in einer deutschen Übertragung von J. Chr. Hueber hervor-
trat. Nach einer genauen Bibliographie beschäftigt sich die tüchtige Arbeit besonders
mit der Quellenfrage und prüft das Verhältnis zu den von Cochläus als Grundlage
seiner Darstellung angegebenen protestantischen und katholischen Schriftstellern wie
nicht minder zu den nicht ausdrücklich namhaft gemachten Quellenschriften. —
Poi)uIär geschrieben , aber auf gründlichster Sachkenntnis beruhend und mit ihrem
warmen Unterton den vorgesetzten Zweck vortrefflich erfüllend ist die volkstümliche
biographische Darstellung von H. von Schubert unter dem Titel „Luther und seine
lieben Deutschen'^ (Stuttgart u. Berlin 1917).
Eine ebenfalls vom Reformationsjubiläum hervorgerufene Festschrift
wie dieses Werk des Heidelberger Kirchenhistorikers stellt auch das im
Auftrag des deutschen evangelischen Kirchenausschusses verfaßte Jubi-
läumsbuch des Rostocker Bibelforschers W. Walther: „Luthers deutsche
Bibel" (Berlin 1917) dar, in dem der bekannte Verfasser der Geschichte
der mittelalterlichen Bibelübersetzungen für weitere Kreise der Gebildeten
eine Art Einführung in das Bibelstudium dadurch bietet, daß er in sechs
anschaulich geschriebenen Kapiteln die deutschsprachlichen Bibelüber-
setzungen des Mittelalters, Luthers Beweggründe und geistige Ausrüstung,
seine Arbeit an der deutschen Bibel, die zeitgenössischen Rivalen, die
Eigenart und den Wert der Lutherbibel und schließlich ihre Bedeutung
iür das deutsche Volk schildert. — Die hier im 4. Kapitel in volks-
tümlicher Darstellung erscheinende Bewertung der parallelen Bibelüber-
tragungen hatte Walt her zuvor schon in einer zunächst als Aufsatz-
folge in der Neuen kirchlichen Zeitschrift (27. Bd. [1916], Ö. 662 ff.
742 ff. u. 771 ff.) erschienenen, dann auch in Buchform hervorgetretenen
Untersuchung über „Die ersten Konkurrenten der Bibelübersetzung
Luthers" in wissenschaftHcher Form behandelt. Bisher war man zwar
verschiedentlich den nach 1525 herausgegebenen Bibelübersetzungen mit
gebührender Aufmerksamkeit nachgegangen, hatte aber die vor diesem
Jahre erschienenen Übertragungen fast nicht beachtet. Indem Walther
diese Lücke ausfüllt, unterzieht er die Werke von Johannes Böschen-
stein, Caspar Ammann, Othmar Nachtigall, Johann Lang, Nicolaus
Krumpach sowie die anonymen Übersetzer des Markus- und Lukas-
evangeliums und des Galatherbriefs einer eingehenden Untersuchung, die
in übersetzungstechnischer und stilistischer Hinsicht den Abstand von
der Großtat Luthers erweist.
F. Spitta setzt in einer zunächst in der ., Monatsschrift für Gottesdienst und
kirchliche Xunst'^ veröffentlichten, dann auch als Sonderdruck erschienenen Abhand-
lung über ,,Die Lieder Luthers" (Göttingen 1917) seine früheren Studien über dieses
Thema fort. Nach dem Hinweis darauf, wie schon vor Luther in den Jahren 1520
bis 23 das evangelische Kirchenlied, in den verschiedensten Formen und von zahl-
reichen Dichtern (Spitta kann nicht weniger als sechzehn Persönlichkeiten namhaft
machen) gepflegt, eine gewisse Entwicklung erreicht hatte, tritt er, mit Polemik gegen
W. Köhler u. a. , abermals für seine alte These von der früheren und aus persön-
lichen Stimmungen hervorgegangenen Abfassung der lutherischen Lieder ein, die dann
erst 1524 zur Veröffentlichung gekommen seien, ohne daß man immer seiner spitz-
findigen Auslegung der brieflichen Quellen mit genügender Überzeugung folgen könnte —
Unter dem Titel „Enchiiidion geistlicher gesenge und psalmen^' veröffentlicht H. Hof-
mann in einem Osterprogramm (Leipzig 1914) einen Faksimiledruck des ersten
Leipziger Gesangbuches von "W". Blume vom Jahre 1530, dessen hymnologische Ein-
führung sich freilich in der Gesangbuchliteratur der frühreformatorischen Zeit zu
wenig bewandert zeigt. — Mehr von theologischem als literarhistorischem Interesse
ist die Breslauer Dissertation (1917) von M. Frey er, die „Luthers Bußpsalmen und
Psalter" nach ihren jüdischen und lateinischen Quellen untersucht. Ausgehend von
der Tatsache, daß die Ausgaben der Bußpsalmen von 1517 und 1525 und des Psalters
von 1528 und 1531 je starke sprachliche und stilistische Fortschritte aufweisen, kann
der "Verfasser an der Hand der jetzt in der Weimarischen Ausgabe veröffentlichten
ßensionsprotokolle nachweisen, daß die bisherige Ansicht einer alleinigen Abhängig-
keit der Psalmenübersetzung Luthers von Nicolaus von Lyra nicht haltbar ist, sondern
die Verbesserung auch mit auf Rechnung jüdischer Kommentatoren zu setzen sind.
Erfreuhcherweise ist im Berichtszeitraum mehrfach die Sprache
Luthers zum Gegenstande eindringender Untersuchung gemacht worden.
Zu nennen ist hier besonders die grundlegende Umarbeitung, die
C. Frankes 1888 erstmalig erschienene „Grundzüge der Schrift-
sprache Luthers" erfahren haben und die das schon damals verdienst-
3*
35
volle Werk von dreihundert Seiten auf drei starke Bände erweiterte.
Dem 1913 neu erschienenen ersten Band, der die Lautlehre behandelte,
ist jetzt (Halle 1914) die Wortlehre gefolgt, während ein dritter noch
ausstehender Band die Syntax bringen wird. Überall tritt die auf jahr-
zehntelanger Forschung beruhende genaue Kenntnis des Verfassers zu-
tage, so daß man sich trotz mancher Vorbehalte im einzelnen mit
Vertrauen der philologisch fest fundierten und klar geschriebenen Dar-
stellung hingeben kann. Der Gesamteindruck der aufgezeigten sprach-
lichen Entwicklung ist wiederum der (was endlich in das Bewußtsein
aller deutschsprachlichen Lehrer übergehen sollte), daß wir mit der alten
Dreiteilung in Ahd., Mhd. und Nhd. nicht auskommen, sondern eine
besondere frühneuhochdeutsche Mittelstufe von zirka 1350 bis zirka 1650
annehmen müssen, innerhalb deren Luther den Höhepunkt darstellt.
Damit würde auch der immer noch spukenden Lehre von Luther als
dem Begründer der nhd. Schriftsprache der Boden entzogen. — Dem
Verhältnis der Witteuberger Lutherdrucke zu den handschriftlichen
Originalen sind zwei konkurrierende Dissertationen gewidmet worden.
F. Haubold s Jenaer Dissertation (1914) mit dem Titel „ Untersuchung
über das Verhältnis der Originaldrucke der Wittenberger Hauptdrucker
lutherscher Schriften: Grunenberg, Lother, Döring-Cranach und LufFt
zu Luthers Druckmanuskripten" sucht dem Problem fleißig, aber etwas
äußerlich an der Hand eingehender Listen über die Abweichungen der
Rechtschreibung, Interpunktion, Lautlehre, Deklination, Wortbildung,
Textveränderung und Druckfehler beizukommen. Tiefer greift die
Hallesche Dissertation (1915) von E. Giese, die sich auf ihrem Titel-
blatt als „Untersuchungen über das Verhältnis von Luthers Sprache
zur Wittenberger Druckersprache" ankündigt und die die Originaldrucke
Melchior Lothers (1520 — 25) und Michael Lothers, Hans Luffts und
Nickel Schirlentz' in den Jahren 1527 — 31 eingehend in ihrem Ver-
hältnis zu den in der Weimarischen Ausgabe bis 1533 vorgelegten
Druckmanuskripten und den indirekten Quellen der Tischreden und
Predigten besonders auf dem Gebiete der Laut- und Formenlehre, aber
auch einiger Kapitel der Syntax prüft. Das trotz der verschiedenen
Behandlungsweise übereinstimmende und eine Bereicherung unserer bis-
herigen Kenntnisse bringende Resultat beider Arbeiten ist der Nachweis,
daß die Abweichungen zwischen Plandschriften und Drucken infolge
gegenseitiger Annäherung immer geringer werden, daß Luther besonders
seit dem Jahre 1525 immer bewußter sich dem fortschrittlichen Sprach-
typus der Drucktexte anschließt und daß somit die Wittenberger Drucker
in der sprachgeschichtlichen Entwicklung eine immerhin bedeutsame
Rolle spielen, indem sie auf Luther anregend und zur Konsequenz
mahnend einwirkten.
Mehrfache Bereicherung kann auch die Hans Sachs- Literatur auf-
weisen. Das Programm von F. Hintner (Wels 1915), das sich „Bau-
steine zu einer Hans Sachs- Bibliographie 1" nennt, war mir bei den
mangelnden Austauschverhältnissen der Gegenwart nicht zugänglich. —
Recht wertvoll erweisen sich die „Kritischen Studien zu Hans Sachs",
3(i
die P.Kaufmann als Breslauer Dissertation (1915) Lerausbrachte. In
ihrem ersten wesentlichen Teil beschäftigen sie sich mit Hans Sachsens
Verhältnis zum vierten und fünften Band der Nürnberger Folioausgabe.
Diese beiden 1578 und 79 hervorgetretenen Bände faßte man bisher
textkritisch anders auf als die drei früheren, noch bei Lebzeiten des
Hans Sachs erschienenen Bände der Jahre 1558, 1560 und 1561, so daß
sie Götzes Ausgabe denn auch von ihrem fünfzehnten Bande ab nur noch
in den Anmerkungen verwertete. Kaufmann kann überzeugend dartun,
daß auch diese beiden Schlußbände noch von Hans Sachs selbst für
die Folioausgabe hergestellt wurden und ihre Veröffentlichung sich nur
deshalb so herauszog, weil der dichterische Vorrat des Nürnberger
Meisters ziemlich erschöpft war und die besonders in den Jahren
1562 — 66 fruchtbare Neudichtung einen gleichzeitigen Eintrag in die
Spruchgedichtbände und in die Druckgrundlagen der Folioausgabe not-
wendig machte. Von fremder Herausgebertätigkeit kann jedenfalls bei
diesem vierten und fünften Bande nicht die Rede sein, was für ihre
kritische Bewertung natürhch sehr wesentlich ist. Der zweite Teil der
Studien des Verfassers gibt „Beiträge zur Metrik des Hans Sachs", in
denen er sich, zum Teil mit Polemik gegen Götze und Kleinstück, in
dem bekannten Streite der beiden metrischen Prinzipien für die Gültig-
keit des alternierenden Verses mit regelmäßigem Wechsel von Hebung
und Senkung ausspricht, indem er zugleich den Hans Sachsvers in
die historische Versentwicklung einordnet.
Auch der zu früh der Wissenschaft entrissene Plenio kam in einem Aufsatz
in Paul und Braunes Beiträgen (42, 415) innerhalb seiner altdeutschen Strophikstudien
auf den Hans Sachs- Vers zu sprechen mit gleicher Entscheidung für die alternierende
Skansion. Für diese Theorie, die neuerdings gegenüber dem Prinzip von der natür-
lichen Yersbetonung sichtlich immer mehr Boden gewinnt, sprach sich auch L. Pf ann-
müller (-J-) in einem Aufsatz der Beiträge (43. Bd.) „Zur Auffassung des Hans
Sachs-Verses" aus, freilich mehr mit aprioristischen Gründen als auf Grund empirischer
Darlegung, was mit Recht "W. Richter in seinen Erörterungen über „Die Grundlage
des Hans Sachs -Verses " (ebd. 43. Bd.) bemängelt, der zugleich die Notwendigkeit
„einer materialbeherrschenden kritischen Entwicklungsgeschichte des Hans Sachs-
Verses'' betont. — Nachdrücklich sei auch nochmals auf die überaus tüchtige Berliner
Dissei-tation (1913) von S. Wernike über „Die Prosadialoge des Hans Sachs" hin-
gewiesen, die die vier Dialoge von 1524 und diejenigen von 1546 und 1554 in einer
grundlegenden Untersuchung nach ihrer inhaltlichen und formalen Seite hin und in
ihren Zusammenhängen mit der politischen, religiösen und kulturellen Umwelt be-
leuchtet.
Mit einem anderen Vertreter meistersingerischer Volkskunst be-
schäftigt sich eine, auch selbständig in Buchform erschienene Münchener
Dissertation (1914) von R. Pfeiffer, die den Titel führt „Der Augs^
burger Meistersinger und Homerübersetzer Johannes Spreng". Nach
der Schilderung von Sprengs Leben (1524 — 1601) werden die deutschen
Meisterlieder und lateinischen Gedichte besprochen und darauf seine
Übersetzungen des Ovid, der jüdischen Geschichten des Josephus und
des Vergil behandelt, während das Schlußkapitel eingehend die deutsche
Iliasübersetzung in kurzen Reimpaaren vom Jahre 1610 würdigt, als
deren Grundlage eine Baseler gräcolateinische Ausgabe von 1561 er-
wiesen werden kann.
37
Während die Lyrik dieser Epoche und die nachreformatorische
satirische Dichtung von der Forschung dieser Jahre unberücksichtigt
bheben, hat sich die Aufmerksamkeit wiederholt der dramatischen Pro-
duktion zugewendet. An der Spitze steht hier Max Herrmanns
großes und vielfach anregendes Werk „Forschungen zur deutschen
Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance" (Berlin 1914),
das in seinem einleitenden prinzipiellen Teil zwar einen scharfen Strich
zwischen Dramen- und Theatergeschichte ziehen möchte, gleichwohl aber
auch auf die Geschichte der dramatischen Kunst neues Licht wirft. Mit
seiner auf weiten Umwegen vorrückenden und jeden lockenden Seiten-
pfad gern benutzenden Darstellung berührt es zahlreiche kultur-, kunst-
und geistesgeschichtliche Probleme, die aufklärend beleuchtet werden
und das Buch zu einer bedeutsamen Erscheinung machen, auch wenn
die positiven Resultate für die theatergeschichtliche Forschung nicht allzu
ergiebig sind. In seinem ersten Teil beschäftigt es sich, besonders an
der Hand der in den Drucken wie in den alten Handschriften vor-
liegenden Bühnenanweisungen eingehend mit dem Theater der Nürn-
berger Meistersinger. Indem der Verfasser vor unseren Augen eine
Aufführung des „Hürnen Sewfried" v. J. 1557 erstehen läßt, versucht er
— freilich mit zu starkem Vertrauen auf diesen nicht genügend breiten
Unterbau — eine Rekonstruktion der Meistersingerbühne in der Nürn-
berger Marthakirche mit dem Hauptergebnis, daß die Vorstellung im
Altarraum und einem unmittelbar davorliegenden Teil des Schiffes vor
sich gegangen sei, während das Publikum selbst im Schiffsraum Platz
genommen habe. Nachdem dann weiterhin über die bei der Aufführung
verwendeten Dekorationen, Requisiten und Kostüme eingehend und viel-
fach klärend gehandelt worden ist, beschäftigt sich ein besonders an-
regender und interessanter Abschnitt mit dem Problem der Schauspiel-
kunst, besonders des Gebärdenspiels. Weitausholend untersucht H.
Mimik und Gestik in der weltHchen wie geistlichen epischen Literatur
des Mittelalters und kann eine reiche Entwicklung der epischen Aus-
druckskunst erweisen, während für das geistliche Schauspiel des Mittel-
alters eine gewisse Starrheit des überlieferten Stils sich kundgibt und
nur aut selten des Fastnachtsspieles mit seinem realistischen Bühnenstü
eine stärkere Bewegtheit erkennbar ist. Der zweite Teil der Herrmann-
schen Untersuchungen ist den Dramenillustrationen des 15. und 16. Jahr-
hunderts gewidmet und kommt so einer neuerdings stärker hervortretenden
Neigung zur Ausnutzung der historischen Parallelentwicklung dichterischer
und bildender Kunst entgegen. Auch diese bildkritischen Forschungen
fallen freilich in der Hauptsache negativ aus, da der Mangel eines
engeren Konnexes zwischen Text und Illustration bei den vorwiegend
zur Untersuchung stehenden Terenzdrucken keine Rückschlüsse für die
Art der Aufführung erlaubt und nur der Lyoner Terenz von 1493 für
die theatralische Praxis aufhellend ausgebeutet werden kann. — Obwohl
der vorliegende Forschungsbericht im allgemeinen sich nicht mehr auf das
Jahr 1920 erstrecken kann, sei hier gleich auf eine kritische Ergänzung zu
dem Werk Herrmanns aus neuester Zeit hingewiesen. Es ist A. Kösters
kleine, aber in ihrer scharfsinnigen Darlegung ungemein ergebnisreiche
Schrift: „Die Meistersingerbühne des 16. Jahrhunderts. Ein Versuch
des Wiederaufbaus" (Halle 1920). Sie weist einleitend darauf hin, daß
die Herrmannsche Rekonstruktion, selbst wenn sie richtig wäre, keines-
wegs typische Geltung beanspruchen könnte, da aus dem aktenmäßigen
Material eine Verschiedenheit der Aufführungslokalität wie der dar-
stellenden meistersingerischen Truppen zu belegen ist und gerade die
Spezialtruppe des Hans Sachs gewöhnlich im Remter des Prediger-
klosters und nicht in der Marthakirche spielte. Der Hauptteil der Schrift
aber kann unter vorsichtigster Verwertung und Ausdeutung aller in
den alten Texten liegenden Anweisungen überzeugend dartun, daß die
von Herrmann angenommenen Platzverhältnisse gerade umzukehren sind
und die Vorstellung im Schiff vor sich ging, während die Zuschauer
vom Chorraum aus zusahen. Vor den Augen des Lesers ersteht lang-
sam von neaem in diesen Ausführungen die Meistersingerbühne mit
Nebenraum, Aus- und Eingängen, Treppen, Requisiten, Vorhang usw.,
bis zum Schluß gewissermaßen zur Probe die Inszenierung zweier Hans
Sachsischer Dramen auf dieser neuerschlossenen Bühne vorgeführt wird.
Gehen wir zum Drama selbst über, so sei zunächst auf die tüchtige
Hallesche Dissertation (1914) von K. Mechel hingewiesen, die sich
mit der „Historie von vier Kaufmännern und deren dramatischen Be-
arbeitungen in der deutschen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts"
befaßt. Die auch bei Boccaccio sich findende, aber nach Deutschland
aus französischer Quelle gekommene Erzählung von der Wette um die
Ehrbarkeit einer Frau wird in den deutschen und ausländischen Drucken
sowie in den dramatischen Bearbeitungen von Hans Sachs (1548),
Zacharias Liebholdt (1596), Michael Kongehl (1663), Jacob Ayrer und
Shakespeare eingehend untersucht.
AVährend Forschungen, die sich mit dem Stil und der Eigenart ganzer drama-
tischer Gnippen und Richtungen befassen, im Berichtszeitraum gänzlich fehlen, ist
eine Reihe von Sonderuntersuchungen üher einzelne Dramatiker dieser Epoche zu
nennen. Eine Münchener Dissertation (1914) von "W". Brand! (= Forschungen z. u.
dtsch. Litg., 48. Bd.) beschäftigt sich mit der dramatischen Tätigkeit des Augsburger
Meistersingers Sebastian Wild. In seinem besonders eingehend behandelten Weih-
uachtsspiel, das auch dem legendarischen Element sich nicht verschließt, und in seineu
übrigen geistlichen Dramen sowie in den nach Volksbüchern gearbeiteten Stücken
zeigt er sich im allgemeinen als eine geringe dramatische Begabung, wenn auch B.
in den Fällen, wo "Wild mit Hans Sachs konkurriert, dem Augsburger den Preis vor
dem Nürnberger Meistersinger zuerkennen möchte, — Dem Leben und Schaffen von
Valentin Boltz, der als geborener Elsässer nach württembergischen Pfarrjahren von
1542 bis zu seinem 1560 erfolgten Tode in der Schweiz lebte und einen Höhe-
punkt der Baseler Dramatik darstellt, ist eine Baseler Dissertation (1916) von F.Mohr
gewidmet, die den Gang seines äußeren Lebens, sowie die Stoffe, den Zeitgehalt, den
iStil und die dramatische Form seiner Volksschauspiele ansprechend behandelt. —
„Untersuchungen zu den Dramen Wolfhart Spangenbergs" betitelt J. Schw^aller
seine von guter Schulung und Belesenheit zeugende Straßbuiger Dissertation (1914).
Nach dem ersten biographischen Kapitel mit seinen Aufklärungen über Spangenbergs
Leben (1597—1611 in Straßburg als Korrektor, t 1636 als Pfarrer in Buchenbach)
beschäftigt sich das zweite Kapitel mit seinen elf Übersetzungen lateinischer Dramen,
die als Textbücher für die Aufführungen der Straßburger Schulbühne gedacht waren,
und deren Abweichungen vom Original, wie als Hauptergebnis gebucht werden kann,
39
schon in dem vermittelnden Bahnenexemplar zu finden sind. Das Schlußkapitel ist
den sechs für Meistersingeraufführungen bestimmten Originaldramen Spangenbergs
gewidmet, die mit ihrer guten Komik und plastischen Charakterzeichnung den scharfen
Beobachter volkstümlichen Lebens verraten. — Nachdem seinerzeit (1909) Franz
Wegner mit seiner Arbeit über den „Trewen Eckharf die Spezialforschung über
Bartholomäus Ringwaldt eingeleitet hatte, behandelt E. K rafft das dramatische Haupt-
werk des Langenfelder Pfarrers, das „speculum mundi'' nach der sprachlichen, text-
kritischen , literarhistorischen und stilistischen Seite in einer auch in den Breslauer
germanistischen Abhandlungen (H. 47) selbständig erschienenen Breslauer Dissertation
(1915). Nach einem einleitenden Forschungsbericht über das Fortleben des Dichters
vom 17.— 19. Jahrhundert analysiert der Verfasser zunächst die Sprache des Werkes,
die sich im wesentlichen als übereinstimmend mit der Luthersprache erweist, nur
einen schärferen dialektischen Eiusclilag des Schlesischen verrät. Nach einer genauen
Charakteristik der drei Ausgaben des sp. m. (zwei von 1590 und eine von 1645) zeigt
die dai'an sich anschließende literarhistorische Betrachtung, daß in diesem protestan-
tischen Teudenzdrajua das vorgeführte Pastorenschicksal nicht Spiegel persönlicher
Erlebnisse ist, wohl aber offenkundig zeitgeschichtliche Verhältnisse verweilet sind.
Besonders interessant sind dann die weiteren Untersuchungen, die das Drama mit der
mittelalterlichen Tradition verankern, es mit der Dramatik des 16. Jalirhunderts in
lehrreiche Beziehungen stellen und seinen nach Kontrastwirkung und Volkstümlich-
keit strebenden Stil näher ins Auge fassen. — Recht lehrreich ist auch die ßostocker
Dissertation (1914) von C. Ni essen über „Schul- und Bürgeraufführungen in Köln
bis zum Jahre 1700". Nachdem etwas .summarisch die weltlichen und geistliclien An-
fänge dramatischen Lebens in Köln gestreift worden sind, werden die humanistisch-
dramatischen Vorführungen an den Kölner Bursen (Schottenius, Broelmanu u. a.) nach
Inhalt der Stücke und Aufführungsart und dann im zweiten Teil entsprechend die
Bürgerstücke nach Stoff, Form und Inszenierung behandelt. — Eine Auslese aus den
Werken des Wiener Schottenschulmeisters Wolfgang ScLmeltzl, die Ella Triebnigg
(Wien 1916) mit Anmerkungen herausgegeben haben soll, war mir nicht zugänglich. —
Neben diesen individualistisch und lokalgeschichtlich gerichteten Arbeiten sucht die
Straßburger Dissertation (1917) von M. Spenle den Rahmen mit größerer provinzieller
Betrachtung weiter zu spannen, indem sie „Die Lebeusdarstellung im elsässischen
Volksschauspiel des 16. und 17. Jahrhunderts" aus der Analyse von 28 Dramen in
dem Zeitraum von 1531 — 1616 zu einem Gesamtbilde zusammenzufassen sucht. Frei-
lich bietet sie mehr als der Titel besagt, da sie vor der im zweiten Teil behandelten
Darstellung des physischen und psychischen Lebens in den Dramen von Wickram,
Frey, Boltz, Montanus, Rasser u. a. auch eingehend die aus volkstümlichen und ge-
lehrten Elementen bestehende äußere und innere Technik jener Stücke vorführt.
Wenn an sich die Forschungen über das literarische Leben des
16. Jahrhunderts im Vergleich mit dem für das 18. und 19. Jahrhun-
dert geltenden Hochbetrieb auffallend zurücktreten, so wird von dieser
stiefmütterlichen Behandlung leider noch immer die humanistisch - neu-
lateinische Welt besonders empfindlich getroffen. Seitdem um 1890 sich
ein verheißungsvoller Aufschwung in diesen Studiengebieten bemerkbar
zu machen schien, sind zwar mannigfache wertvolle Beiträge auch auf
diesem beschränkten Gebiete aufzuweisen, die aber meistens auf Rech-
nung von textkritischen Neudrucken und biographischen Einzelforschungen
kommen. Größere wirklich literarhistorische und geistesgeschichtliche
Einstellungen, die die Fäden durch ganze Dezennien hindurch und auch
nach der ausländischen Literatur hin ziehen, sind fast nirgends anzutreffen.
Und doch soll auch hier energisch betont werden, daß diese neulateinische
Welt, gleichviel ob sie humanistischer oder jesuitischer Herkunft ist, bei
ihrer gewaltigen stofflichen und formalen Bedeutung für die gesamte
Geistes- und Bildungsgeschichte dieser Jahrhunderte auch von dem deut-
40
sehen Literarhistoriker ungleich mehr als bisher beachtet werden muß
und das lateinische Gewand keine Entschuldigung für die meistens ge-
übte Ignorierung sein kann. Es ist dringend zu wünschen, daß dem
neueren Aufschwung der mittellateinischen Studien, wie er auch in Paul
Lehmanns Münchener Akademiebericht „ Aufgaben und Anregungen der
lateinischen Philologie des Mittelalters" (1918) zutage tritt, eine ent-
sprechende Belebung und Vergeistigung der neulateinischen Forschung
auf den Fuß folgt. Leider fehlt es ja freilich an einem besonderen
Organ für Untersuchungen dieser Art, aber das erfreulich aufblühende
„ Münchener Museum für Philologie des Mittelalters und der Renaissance ",
die Z.f. d.A., die Z.f.d.Ph., das Archiv für Kirchengeschichte, die Histo-
rische Zeitschrift und andere periodische Erscheinungen sind erfahrungs-
gemäß immer bereit, auch solchen „undeutschen" Untersuchungen ihre
Pforten zu öffnen. Freihch scheint die Zeitstimmung solcher Vertiefung
in die lateinische Welt der Frühneuzeit nicht eben günstig zu sein;
geht doch eher ein unverkennbarer Zug unserer Tage zur ,, gotischen"
Welt des Spätmittelalters, wie sich in der Kunstgeschichte, in der Kir-
chengeschichte und in anderen Disziplinen deutlich zeigt. In den ger-
manistischen Reihen machte sich, noch unter dem Eindruck des stark
belebten Nationalbewußtseins der ersten Kriegsjahre, R. Benz zum uner-
schrockenen und begeisterten Verfechter solcher Anschauungen, indem
er in seinen Blättern „Für deutsche Art und Kunst" (1915 ff.) die Re-
naissance als „das Verhängnis der deutschen Kultur" bezeichnete und
eine Rettung aus den geistigen Nöten unserer Zeit nur in der unmittel-
baren Anknüpfung an die spätmittelalterliche Geistes- und Kunstwelt zu
finden meinte, während gleichzeitig Worringer u. a. die gotische Kunst
zu neuen Ehren brachten. So sympathisch manches an dem stürmerisch-
drängerischen Hinstreben von Benz zu echt deutscher Art berührt, so
wenig kann man sich der Einseitigkeit und Überspanntheit seiner Auf-
fassung verschließen, die auch die romanisierte höfische Kunst des Hoch-
mittelalters nicht gelten lassen will und nur die frühmittelhochdeutsche
Zeit (z. B. Eilharts, nicht Gottfrieds Tristan) und die spätmittelalter-
liche Epoche (Volksbücher!) anerkennt. — Als bedeutsamer und doch
maßvoller Wortführer für die gegnerische, humanistische Seite trat vor
allem K. Burdach auf den Plan, der nach seinen grundlegenden For-
schungen über den böhmischen Frühhumanismus und jene für Jahrhun-
derte entscheidungsvolle Wegbiegung der deutschen Bildungsgeschichte
wie kein anderer berufen war, dem gotischen Ungestüm die Zügel an-
zulegen und die positiven Werte des Renaissanceeinschlages zu wür-
digen. In seinem schönen Aufsatz „Deutsche Renaissance" (in den
„Deutschen Abenden" des Berliner Zentralinstituts für Erziehungs-
geschichte, Berlin 1916) machte er vor allen Dingen geltend, daß auch
das von Benz in so verklärtem Lichte geschaute Mittelalter keineswegs
eine volkhafte, einheitliche und naiv - künstlerische Kultur aufzuweisen
habe, sondern sich ebenfalls schon überall von der Kluft zwischen höherer
und niederer, fremder und einheimischer Bildung erfüllt zeige. Nach-
drücklich wies er die alte Legende von dem gemeineuropäischen und
41
vorwiegend aus der Wiederbelebung der Antike geflossenen Ursprung
der Renaissance zurück, die vielmehr zunächst eine vaterländische Sonder-
angelegenheit der Italiener gewesen sei und anfangs nicht in internatio-
nalen, sondern direkt nationalistischen Bahnen sich bewegt habe. Nach
alledem erscheint die Renaissance, wie neuerdings auch von Singer u. a.
angenommen wird, nicht als ein äußerliches Ilinstreben zu antiker Geistes-
bildung, sondern vielmehr als grandioser Versuch einer Amalgamierung
antiken und mittelalterlichen Geistes. — Lehrreich ist in dieser Hinsicht
auch die tiefschürfende Aufsatzfolge von Burdach, die er unter dem
Titel „Über den Ursprung des Humanismus" in der „Deutschen Rund-
schau" (158. Bd.) erscheinen ließ und die unter Zurückdrängung des
bisher einseitig hervorgehobenen antikisierenden Zuges den Zusammen-
hang der Renaissance mit der religiösen Reformbewegung und der Sehn-
sucht nach neuen idealistischen Grundlagen herausarbeitet. Schließlich
sei allen denen, die sich für diese Probleme interessieren, die Schrift
Burdachs „Reformation, Renaissance, Humanismus" (Berlin 1918) emp-
fohlen, die unter neuem Titel zwei ältere Vorträge dieses Forschers von
neuem zum Abdruck bringt, nämlich die 1910 vor der Berliner Aka-
demie der Wissenschaften dargebotene wort- und geistesgeschichtliche
Studie über „Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Refor-
mation" mit ihrer Darlegung des engen Zusammenhangs beider Begriffe
miteinander und die 1913 vor der Marburger Philologen Versammlung
entwickelten Gedanken „Über den Ursprung des Humanismus", die mit
weltgeschichtlicher Einstellung die Keime jener religiös - kulturellen Re-
formbewegung vom italienischen Trecento bis in altgriechische und früh-
christliche Zeiten zurückverfolgen.
Daß im zweiten Band der gesammelten Schriften W. D i 1 1 h e y s die epoche-
machende Untersuchung des Berliner Philosophen über „ Weltanschauung und Analyse
des Menschen seit Renaissance und Reformation" jetzt bequem zugänglich ist, sei kurz
erwähnt. — Willkommen war ein kritischer Neudruck der seinerzeit von Wunderlich in
den M. Bernays gewidmeten „Studien zur Literaturgeschichte" untersuchten ersten Te-
renzübersetzung des vorübergehend auch als Ulmer Bürgermeister nachweisbaren Hans
Neidhart (1486), die H. Fischer in den Publikationen des Stuttgarter literarischen
Vereins erscheinen ließ (Tübingen 1914) und die neben dem Text ein ausführliches
Glossar der gutschwäbischen Sprache dieser Eunuchusübersetzung bringt. — Als nicht
besonders tief eindringend und vielfach nur Bekanntes zusammenstellend erweist sich
die pädagogische Dissertation (Leipzig 1915) von P. Dittrich mit dem Titel „Plautus
und Terenz in Pädagogik und Schulwesen der deutschen Humanisten", die die Auf-
fühning der antiken Lustspiele mit der Gesamttendenz und Organisation des Unter-
richtswesens jener Epoche in Zusammenhang bringen will, aber mit ihren im einzelneu
recht brauchbaren Hinweisen und urkundlichen Nachrichten dieses Ziel nur teilweis<-
erreicht.
Von den sog. Frühhumanisten an dem Ende des 15. Jahrhunderts
hat nur Heinrich Steinhövel Anlaß zu einer besonderen Untersuchung
gegeben, indem W. Borwitz in seiner 1914 erschienenen Hallischen
Dissertation (vollständig als 13. Bd. der Hermaeaj „Die Übersetzungs-
kunst H. St., dargestellt auf Grund seiner Übersetzung des Speculum
vitae humanae von Rodericus Zamorensis" stihslisch analysierte. Die
tüchtige Arbeit, die über die alte Heidelberger Doktorschrift von K. Karg
42
(1884) über die Sprache Steinhövels mit ihrer nur laut- und flexions-
grammatischen Einstellung wesentlich hinauskommt, stellt sich so würdig
der zwei Jahre zuvor veröffentlichten Berliner Dissertation von B. Strauss
über den Übersetzer Nicolaus von Wyle würdig zur Seite. Ais Vorlage
der im Originalmanuskript erhaltenen und 1475 erschienenen Übertragung
wird ein vier Jahre zuvor hervorgetretener Druck der lateinischen Schrift
des spanischen Geistlichen erwiesen. Die stilanalytische Betrachtung
gipfelt in dem Nachweis eines einfachen, sinnlichanschaulichen, dem Arzt-
beruf Steinhövels entsprechenden Ausdrucks, der mit seiner Bevorzugung
volkstümlicher Stilmittel und dem sichtlichen Streben, sich von Lati-
nismen frei zu halten, gute Ansätze zu einem rein deutschen Sprachstil
aufweist.
Aus der Periode des engeu Zusamraenstehens von Humanismus und Eeformation
ist, abgesehen von dem schönen Neudruck der Huttenbiographie von D. F. Strauß,
den 0. Giemen für den Inselverlag herausgab, nur die recht wenig ertragreiche Greifs-
walder Dissertation von L. Kuchanny, (1915) über „Die Synonyma in Ulrich von
Huttens Vadiscus'' zu nennen. In ihrem Streben, darzulegen, in welchem Verhältnis
Huttens deutscher Vadiscus und die spätere Straßburger Übersetzung der Satire von
U. Varnbüler zum lateinischen Original hinsichtlich der Synonyma steht, kommt sie
zu dem nicht eben weltbewegenden Resultat, daß beide Übersetzungen den Schmuck
der Synonymik des lateinischen Textes beizubehalten, ja zu vermehren suchen, wobei
aber natürlich die eigene Verdeutschung des fränkischen Ritters von der trockenen
üngewandtheit des zweiten Übersetzers sich vorteilhaft abhebt. — Die Studie von
A. Knellwolf über den „Weltlichen Reformator U. von Hütten'' war mir nicht zu-
gänglich.
Eine bibliographisch wichtige Entdeckung machte dagegen A. Bömer,
indem er „einen unbekannten Frühdruck der Epistolae obscurorum vi-
rorum" fand, über den er im 32. Bd. des Zentralblattes f. Bibliotheksw.
berichtet (1916). Nachdem derselbe Verfasser schon drei Jahre zuvor
in der Festschrift für P. Schwenke aufhellend über fünf Frühdrucke
der berühmten Humanistensatire gehandelt hatte, weist er hier aus den
Beständen der Berliner Staatsbibliothek einen Druck des ersten Teils
mit Anhang nach, der sich als Nachdruck der Editio III ergibt, dessen
typographische Herkunft aber trotz einer gewissen Verwandtschaft mit
den Druckwerken der Straßburger Offizin Grüningers unbestimmt bleiben
muß.
Die zweifellos tiefgehendste Forschung zur Geschichte des deutschen
Humanismus innerhalb des Berichtszeitraums stellt das schöne Buch von
P. Mestwerdt über „Die Anfänge des Erasmus" (Leipzig 1917) dar.
Der Verfasser, der als vielversprechendes und eigendenkerisches Talent
(vgl. die beigegebene warmempfundene Lebensskizze von C. H. Becker)
leider auch zu den Opfern des Weltkrieges gehört, hat sich in seiner
zunächst theologisch gerichteten, aber allgemein geistesgeschichtlich fun-
dierten Untersuchung die Aufgabe gestellt, die Frömmigkeit und Theo-
logie des Erasmus, wie sie sich auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung
darstellt, aus seinem geistigen und religiösen Werdegang zu erklären.
Die tiefschürfende, aus lebendiger Erfassung des gesamten spätmittel-
alterlichen und frühneuzeitlichen Geisteslebens erwachsene Untersuchung
legt so zunächst eingehend die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen
43
des erasmischen Frömmigkeitsideals dar, wie sie sich namentlich im ita-
lienischen und niederländischen Humanismus finden, um daran anschließend
die seelisch- geistige Welt des jüngeren Erasmus bis zum Jahre 1499 zu
schildern. Bei der im ganzen zu einseitig philologisch und zu wenig
geistesgeschichtlich gerichteten Forschungsart vieler Arbeiten zum deut-
schen und ausländischen Humanismus wäre zu wünschen, daß dem früh
dahingegangenen Neubahner bald tüchtige Nachfolger seiner Methode
und Betrachtungsweise erstünden.
Sonst ist die Erasmusliteratiu- nur durch die schmucke Ausgabe der deutscheu
Übersetzung des „Lobes der Torheit" vertreten, die der Münchener Verlag von
G. Müller in seiner bibliophilen Sammlung „Bücher der Abtei Thelem" 1918 ver-
anstaltete.
Bei der Veröffentlichung von „Zwanzig Briefen des Herforder Fraterherm
J. Montanus an W. Pirkheimer", die K. Löf fler im 72. Bande der Zeitschr. f. vat.
Gesch. u. Altertumsk. (1915) aus den Beständen der Nürnberger Stadtbibliothek gibt,
ist zu bedauern, dal! diesen aus den Jahren 1524 — 30 stammenden und im wesent-
lichen über Pirkheimers gesundheitliches Befinden und seine literarischen Bestrebungen
handelnden Briefen nicht die verschollenen Antwortschreiben des Nürnberger Huma-
nisten beigegeben werden konnten. — Fleißig-sorgsame, freilich etwas kleingeistige
Forschung bietet E. König in seinen „ Peutingerstudien " dar, die er 1914 im 9. Bd.
der Studien und Darstellungen aus dem Gebiet der Geschichte erscheinen ließ. Der
Verfasser, der besonders auch dem handschriftlichen Nachlaß seine Aufmerksamkeit
zuwendet, entwirft ein nicht eben neues, aber in Einzelheiten vielfach vertieftes Bild
von dem Humanisten, Büchersammler und Politiker Peutinger sowie seiner Stellimg
zur handelspolitischen und kirchlichen Umwelt. — Ein etwas breit geratenes, aber
verdienstvolles Bild von dem Luxemburger Humanisten N. Mameranus, der sich be-
sonders durch seine historisch-statistischen Handbücher um die Mitte des 16. Jahr-
hunderts einen Namen machte und, ohne direkten Beamtencharakter zu haben, wahr-
schemlich der kaiserlichen Kanzlei zugeteilt war, entwirft unter gleichzeitiger Berück-
sichtigung der geistigen Umwelt die Dissertation von N. Didier {Freiburg i. d. Schw.
1915), die freilich mit ihrem Auseinanderfall in einen biographischen und einen lite-
rarischen Teil von neuem zeigt, wie wenig organisch das Gesamtbild bei dieser be-
sonders früher vielfach üblichen Zweiteilung der Anlage wird. — Zum Leben des
ersten deutschen Homerübersetzers Simon Scbeidenreißer, von dessen Odysseeüber-
tragung F. Weidling 1911 einen sorgfältigen Neudnick vorlegte und dessen Mittlerrolle
zwischen Homer und Hans Sachs ein Jahr später M. Betz ip einer Müncheuer Dis-
sertation behandelte, weiß ein kurzer Aufsatz von R. Pfeiffer (Z. f. d. Ph., 46. Bd.)
wichtige Ergänzungen zu bringen. Er zeigt, daß Seh. zwar kein geb. Müuchener war,
wohl aber nach einigen anscheinend in Tirol verbrachten Jahren dort besonders durch
seine Beziehungen zu dem Müuchener Eatsherrn Schrenk eine zweite Heimat fand.
Über seine pädagogische Lehrstellung zu Simon Lemnius, Wolfgang Hunger u. a.
hatte schon frühe]- Merkers Lemniusbiographie (S. 11 ff.) neues Material dargelegt.
Erfreulicherweise regt sich jetzt auch das Interesse für die beiden
führenden neulateinischen Dramatiker Deutschlands, Frischlin und Nao-
georg. Auf Grund der Ausgabe von 1589 gab W. Jan eil als 19. Band
der lateinischen Literaturdenkmäler des 15. und 16. Jahrhunderts (BerUn
1914) einen sorgfältigen und von einer genauen Bibliographie begleiteten
Neudruck des Julius Redivivus, dessen Wert sich durch die gehaltreichen
Einleitungen erhöht. Der Herausgeber und W. Hauff behandeln in
zwei einführenden Abschnitten Frischlins Lebensgang und seine philo-
logische Stellung, wobei sie mehrfach über die ungemein verdienstvolle,
aber doch mehr den äußeren Lebensschicksalen des württembergischen
Humanisten nachgehende Biographie von D. F. Strauß hinauskommen,
44
Auf breitester Grundlage der neulateinischen Dramatik Deutschlands
untersucht dann G. Roethe die dramatische Bedeutung Frischlins,
wobei als Quellenanregung für den Julius Redivivus die Schrift des Aneas
Sjlvius über Germanien vom Jahre 1589 nachgewiesen wird.
Das Straßburger Lokalkolorit dieses Frischlinschen Dramas arbeitet B. A. M ü 1 1 e r
in einem Aufsatz im 135. Bd. des Archivs f. d. Studium d. neueren Spr. (1917)
heraus.
Nachdem schon 1913 A. Hübner im 54. Bd. der Z. f. d. A. recht
fordernde Studien zum „Pammachius" und „Mercator" des Naogeorg
gegeben hatte, untersuchte P. H. Diehl in seiner Münchener Dissertation
(1915) „Die Dramen des Th. Naogeorgus in ihrem Verhältnis zur Bibel
und zu Luther", wobei er besonders den Unterschied zwischen der
früheren und spätei-en Schaffensperiode des Dichters betont. Die ersten
drei ganz unter dem Einfluß der neuen Lehren Luthers stehenden Dra-
men (Pammachius, Mercator, Incendia) stellen sich als aktuelle Kampf-
und Tendenzdichtungen dar und zeigen dementsprechend drastische Kraft,
genialen Schwung und Neigung zu übertriebener Charakteristik. Die
folgende biblische Gruppe (Hieremias, flamanus, Judas) streitet weniger
tendenziös und ohne Polemik für die reine evangelische Lehre, weist
engeren Anschluß an die Bibel, doch mit mehrfach selbständiger Weiter-
bildung der Motive auf, bekommt aber aus der objektiven Haltung des
Dichters seinem Stoff gegenüber im allgemeinen bessere Grundlagen zu
künstlerischer Gestaltung.
Nur genannt seien die flüchtige Übersicht von R. F. Kaindl über die deut-
schen Humanisten in Polen (Internationale Monatsschrift 8. Bd., 1588 ff.) und der
Aufsatz von F. Boehm über „ Voikskundliches aus der Humanistenliteratur des 15.
und 16. Jahi-h." im 25. Bd. der Z. f. Volksk. — Nicht zugänglich waren mir die Lu-
cianstudien des Italieners N. Caccia, die unter dem Titel „Note su la fortuna di Lu-
ciano nel rinascimento '' 1914 in Mailand erschienen sein sollen und indirekter Kunde
zufolge besonders auch den Nachahmungen von Erasmus und Hütten nachgehen.
Der neulateinische Bogen spannt sich, gestützt von Gelehrtendich-
tung in den protestantischen Ländern und Jesuitenpropaganda in den
kathohschen Gegenden auch ins 17., ja ins 18. Jahrhundert hinüber,
obwohl gerade dieser Späthumanismus von der wissenschaftlichen Be-
achtung fast ausgeschlossen ist. Mehr aus äußeren sprachlichen als
inneren Gründen — denn Geist und Stil sind dort bereits ganz anders —
sei hier gleich die einzige Arbeit angeführt, die sich mit einem lateinischen
Poeten der Barockzeit beschäftigt, nämlich die vortreffliche Untersuchung
von A. Henrich über „Die lyrischen Dichtungen Jakob Baldes", die 1912
der Straßburger philosophischen Fakultät als Habilitationsschrift vorge-
legen hatte (der Verfasser ist unterdessen wieder aus dem akademischen
Lehrberuf ausgeschieden) und 1915 in den „Quellen und Forschungen"
(122. Bd.) erschienen ist. Unter Verzichtleistung auf die biographische
Seite, die in den Büchern von Westermayer und Bach im wesentlichen
geklärt vorlag, sucht sie die lyrische Dichtung des bayrischen Hofpre-
digers als Ganzes und nach ihrer künstlerischen Seite hin zu erfassen,
indem sie — ohne der Frage nach dem Zusammenhang mit der Antike
nachzugehen — die charakteristischen Eigenzüge des Dichters an der
45
Hand einer eingehenden inhaltlichen und formalen Analyse mit Kenntnis
und feinem Geschmack herauszuarbeiten weiß.
Über Fischart, der den Abschluß dieser volkstümlich-demokratischen
Periode bildet, wenn auch manches bei ihm bereits in die neue Welt
des Barock weist, ist die Forschung nach langer Vernachlässigung in
letzter Zeit ebenfalls erfreulicherweise lebendiger geworden, nachdem
jahrzehntelang fast nur A. Hauffen in unermüdlicher Kleinarbeit den
Spaten angesetzt hatte. [Auf den soeben erschienenen 1. Band seiner
Fischartbiographie sei wenigstens kurz hingewiesen.] Einen originellen
Weg, der mit seinen großen Bogen scheinbar müßig ist und doch
schheßlich zu einem netten, wenn auch kleinen Resultat führt, schlägt
W. Quentin in seinen „Studien zur Orthographie Fischarts*' (Mar-
burger Diss. 1915) ein. Ausgehend von der orthographischen Zwie-
spältigkeit in den beiden Teilen des „Glückhaften Schiffes", die schon
1901 Baesecke in seiner kritischen Ausgabe aufgedeckt hatte, weist
Quentin nach, daß nur der zweite Teil mit der Schreibart der Hand-
schriften Fischarts übereinstimmt. Indem er dann diese orthogra-
phische Untersuchung auf 16 weitere Schriften Fischarts ausdehnt, die
in derselben Jobinschen Druckerei erschienen, kommt er zu dem Er-
gebnis, daß nur die Drucke der Jahre 1576 — 1578 die persön-
liche Orthographie des Dichters zeigen, wogegen sie bei vorher und
nachher herausgekommenen Werken fehlt. Gegen den Schluß, daß
Fischart also in diesen Jahren als Korrektor oder sonstwie in der Druckerei
seines Schwagers tätig war, während er bei den übrigen Schriften nur
die Manuskripte einsandte , wird sich - nichts einwenden lassen. — Die
Greifswalder Dissertation von E. Rühr m und (1916) würdigt „Johann
Fischart als Protestanten", indem sie in drei Kapiteln den antikatho-
lischen Standpunkt, die protestantischen Anschauungen und Fischarts
Stellung innerhalb des Protestantismus in fleißig zusammengetragenen,
freilich nicht überall verarbeiteten Belegstellen darzustellen sucht. —
Recht interessante geistesgeschichtliche Längsschnitte können auch Unter-
suchungen über das Nachleben einzelner vielgelesener Dichter geben.
Einen Beitrag zu dieser Art der Behandlung, wie sie früher z. B. Eichler
in seiner Schrift über die Hans Sachsische Tradition anstellte, gibt
H. A. Bob in seiner 1916 ei'schienenen Straßburger Dissertation mit
dem Titel „Johann Fischarts Nachleben in der deutschen Literatur",
wo in fünf Kapiteln das Echo des Fischartschen Schaffens in Poesie und
Wissenschalt von den Mitlebenden bis zur Gegenwart aufgezeigt wird. —
Einen tüchtigen, auf Heranziehung der gesamten Schriften Fischarts be-
ruhenden grammatischen Beitrag lieferte schließlich A. Geyer mit seiner
als Hallische Dissertation erschienenen Untersuchung über die ntarke
Konjugation im Sprachgebrauch dieses Dichters (1912).
§ 5. Das Zeitalter des Barock
Auch Zeitalter und Stilrichtungen erleben in der ästhetischen wie
wissenschaftlichen Beurteilung ein Steigen und Sinken ihrer Wertschätzung
46
je nach der Geistesart und seelischen Struktur der bewertenden Gene-
ration. Die beiden klassischen Epochen um 1200 und 1800, die lange
kanonartig fast alles Interesse absorbierten, sind bei aller Anerkennung
ihres einzigartigen künstlerischen und bildungsgeschichtlichen Wertes
aus ihrer alleinherrschenden Vorrechtstellung zurückgetreten. Wie vor-
her der gotischen Welt des ausgehenden Mittelalters beginnt man
auch der Barockkultur mit gerechteren Maßstäben entgegenzutreten.
In literargeschichtlicher Hinsicht macht sich dabei verschiedentlich auch
die Neigung zu veränderter Bezeichnung bemerkbar. Wir haben früher
die gegen Ende des 16. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der
Verschiebung der gesamten kulturellen Verhältnisse liegende Reform-
bewegung und die aus ihr entspringende Gelehrtendichtung nach dem
Beispiel der bildenden Kunst „Renaissanceliteratur" genannt und dann
gewöhnlich erst die literarischen Erscheinungen der zweiten Hälfte
des 17. Jahrhunderts als Barockliteratur bezeichnet. Ganz abgesehen
davon aber , daß diese Renaissance aus zweiter und dritter Hand als
Nachzügler der echten großen Renaissancebewegunj- im 14. und 15.
Jahrhundert, die sich bei uns fast nur in pädagogisch -humanistischer
Form auslebte , eine Verwirrung der Begriffe nahelegte , hat man
neuerdings auf den Gebieten der bildenden Kunst wie des litera-
rischen Lebens mehrfach betont, wie stark doch von Anfang an die
barockalen Elemente waren, die dieser ganzen früher als deutsche Re-
naissance bezeichneten Kulturstufe innewohnen , und so scheint es rat-
sam, diese ganze Epoche nach Schluß der volkstümlichen Reformations-
literatur bis zum Beginn der Aufklärungsreaktion im letzten Viertel
des 17. Jahrhunderts als Barockliteratur zu bezeichnen. Von solchen
Anschauungen geht auch der bedeutsame und mit Recht vielbeachtete
Aufsatz von F. Strich über den „Lyrischen Stil im 17. Jahrhundert •'
aus, der in den F. Muncker zum 60. Geburtstag dargebrachten Abhand-
lungen zur deutschen Literaturgeschichte (S. 21 — 53) zum Abdruck kam
(1916). Manches in diesen Ausführungen halte ich für schief, wie z. B..
die Anknüpfung an die altgermanische Literatur u. a. Im ganzen be-
trachtet aber hat dieser Aufsatz seine hohen Verdienste. Niemals bis-
her ist der großlinige, bewegungsfrohe, superlativische, beziehungsreiche,
antithetische Stil und das Momentane, Ringende, Mystische, Lastende
dieser Geistesrichtung so deutlich zum Ausdruck gebracht worden. Vieles
wird sich anders fassen und tiefer herausarbeiten lassen. Aber die An-
regungen werden und müssen bleiben. Mit der alten, achselzuckenden
Bewertung der Gelehrten- und Kavaliersdichtung dieses Jahrhunderts,
deren Mißkredit letzten Endes noch aus den Tagen der Aufklärung
stammte, muß aufgeräumt werden. Von neuem aber wird mit Ar-
beiten dieser Art deutlich zum Bewußtsein gebracht, daß wir mit
der reinen Philologie bei der literarhistorischen Bewertung nicht aus-
kommen, sondern notwendigerweise dazu eine historische und vor
allem kulturphilosophische Einstellung brauchen, die ein genügend
weites Blickfeld auch zur Bewertung der Einzelerscheinung an die
Hand gibt.
47
Von allgemeineren Arbeiten, die diesen Zeitraum betreffen, ist noch F. Schräm ms
tüchtige wortgeschichtliche Studie über die „Schlagworte der Alamodezeif zu nennen,
die 1914 als Freiburger Dissertation und gleichzeitig als Beiheft zum 15. Bd. der Z.
f. d. Wortforschung erschien.« Sie untersucht das historische Auftreten, die Verbrei-
tung und die Ableitungen der Worte Mode , Kavalier , Monsieur , Galan , Dame , Mä-
tresse, Compliment, Baselman, favor, Repiitation. — Bei dem rocht unbedeutenden
Programm von K. Wagner (Stendal 1914) n)it dem Titel ,, Das deutsche Mittel-
alter in den Vorstellungen der gebildeten Kreise von der Mitte des 17. Jahrhunderts
bis zum Beginn der altd.-romant. Bewegung" kann man bei dem zumeist ganz anders
gerichteten Inhalt nur einen unbegreiflichen Auseinanderfall von Problemstellung und
Ausführung feststellen.
Fördernd ist dagegen das aus Anlaß der dreihundertjährigen Wie-
derkehr des Begründungsjahi'es der Fruchtbringenden Gesellschaft ver-
faßte Buch von O. Denk „Fürst Ludwig zu Anhalt -Cöthen und der
erste deutsche Sprachverein'* (Marburg 1917), das nach einem nicht
recht zur Sache gehörigen Überblick über die anhaltinische Dynasten-
geschichte in der Biographie des Fürsten Ludwig wie in der Darstellung
der Gründung, Entwicklung und des Bestandes der Gesellschaft manches
Neue bringt, wobei mit Recht die üblich gewordene Bezeichnung „Pal-
menorden" abgelehnt wird, da dieses Emblem erst 1668 auftaucht.
Der Opitzforschung kamen nur zwei kleine Aufsätze von K. H. Wels zugute,
der sich schon in seiner Dissertation über ,,Die patriotischen Strömungen in der
Literaturgeschichte des 30jährigen Krieges'- als guter Kenner der Zeitverhältnisse
erwiesen hatte und jetzt über „Opitzens politische Dichtungen in Heidelberg" (Z. f.
d. Ph. 46. Bd.) und „Opitz und die stoische Philosophie" (Euphor. 21. Bd.) schrieb.
Die nachopitzische Kuustlyrik weltlichen Schlages hat im Berichts-
zeitraum keine Forschungsbereicherung erfahren. Dagegen war die
volkstümliche und religiöse Lyrik mehrfach Gegenstand besonderer
Untersuchungen. Besonders ist da auf die gehaltvolle Arbeit von
R. Veiten über „Das deutsche Gesellschaftslied unter dem Einfluß der
italienischen Musik" (Heidelberg 1914) hinzuweisen, die einen guten
Beitrag zu der im allgemeinen noch recht wenig angebauten Forschung
über die Zusammenhänge deutschen und fremdländischen Kulturgutes
gibt. Sie zeigt, wie der seit ca. 1575 besonders in der Villanellenform
eindringende neue musikalische Stil die Dichtung neuer literarischer
Texte nach sich zieht. Nach einer vorübergehenden Erholung des älteren
volkstümlichen Geistes veranlaßt dann die um 1590 eindringende Form
der Chanzonette eine zweite italienische Welle, die in ihrer Hochflut um
16C0 eine Überschwemmung mit italienischen Liedsammlungen bringt,
bis ein Jahrzehnt später eine Erstarrung sich zeigt und eine gewisse
deutsche Reaktion eintritt, die durch Opitz in andere Bahnen gelenkt
wird. Ein völliges Absterben dieses italienischen Liedtypus ist aber erst
um die Jahrhundertmitte zu erkennen, wo die Schäferdichtung in den
Vordergrund tritt. Die Arbeit, die auf reicher Kenntnis der beiden
Kulturgebiete aufgebaut ist, beweist von neuem — was in den Kreisen
der Kenner ja längst erkannt ist, aber erfahrungsgemäß noch immer
nicht zum festen Lehrstoff der Schulliteraturgeschichte gehört — daß
längst vor Opitz im Zusammenhang mit der allgemeinen Kulturumstel-
lung bereits im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts sich allenthalben
48
Umbildungserscheinungen des literarischen Stiles geltend machen. —
Die Geschichte der Volksliedforschung erfuhr eine Bereicherung durch
die Marburger Dissertation von E. Schroeder über „Das historische
Volkslied des 3üjährigen Krieges" (1916), die im Gegensatz zu der
1904 hervorgetretenen Promotionsschrift von J. Becker,, Über historische
Lieder und Flugschriften aus der Zeit des 30jährigen Krieges" zu einer
Gesamterfassung und vor allem formalen Erkenntnis dieser literarischen
Erscheinungen zu kommen sucht. So werden nach einer Betrachtung
über die Spiegelung des öffentlichen und privaten Volkslebens in diesen
Liedern hauptsächlich die Stil- und Verselemente eingehend untersucht,
wobei der rhetorisch-rationalistische Gehalt, die starke Tendenz, die Un-
ausgeglichenheit von Form und Inhalt und die Mischung volkstümlichen
und kunstmäßigen Stiles besonders deutlich werden.
Bei der Übersicht über die geistliche Lyrik dieses Zeitraums sei mit
besonderer Freude der Abschluß des grüßen Kirchenliedcorpus von Al-
bert Fischer begrüßt, das freilich den Namen dieses hochverdienten
Hymnologen nur bis zu einem gewissen Grade mit Recht trägt. Denn als
1902 der erste Band dieses gi'oßen Werkes (Das deutsche evangelische
Kirchenlied des 17. Jahrhunderts) hervortrat, war Fischer, auf dessen
]\Iaterialien sich das Ganze freilich aufbaute, schon seit sechs Jahren nicht
mehr unter den Lebenden. Der mit hingebender Arbeit sich in den Dienst
dieses Unternehmens stellende Vollender und Herausgeber war der Pfarrer
W.Tümpel, der 1905 (IL u. IIL Bd.), 1908 (IV. Bd), 1911 (V. Bd.) mit
der Sammlung der Erbauungslieder von 1648 — 1750 das Werk zu blei-
bender wissenschaftlicher Bedeutung brachte. Auch der 1916 erschie-
nene VI. und letzte Band stammt noch von Tümpel, wenn es diesem
infolge seines Ende 1915 erfolgten Todes auch nicht mehr vergönnt war,
die ganze Reihe abgeschlossen vor sich liegen zu sehen. Dieser für die
Forschung ungemein wichtige Schlußband enthält neben Nachträgen und
Berichtigungen eine nicht weniger als 1020 Nummern umfassende Bi-
bliographie aller in der Sammlung als Quellenschriften benutzten Werke,
ferner ein Verzeichnis der verwerteten Liederdichter (415), sowie ein
Verzeichnis der Liedanfänge, das mit seinen 58 Druckseiten noch ein-
mal die Reichhaltigkeit des Gesamtwerkes verdeutlicht. Ein Glossar
und ein kui'zer grammatischer Anhang beschließen das Ganze. Nach-
dem nunmehr in Wackernagels großem Sammelwerk die Kirchenlied-
dichtung des 16. Jahrhunderts und durch Fischer-Tümpel die des 17. Jahr-
hunderts in die Scheuern gebracht worden ist, bleibt nur der Wunsch,
daß sich auch für das 18. Jahrhundert, an dessen beabsichtigter Bear-
beitung nunmehr Tümpel verhindert ist, die entsprechende sammelnde
Kraft finden möge. — Zu den wertvollsten monographischen Erschei-
nungen des ganzen Berichtszeitraums gehört die große Paul Gerhardt-
Biographie von Hermann Betrieb (Gütersloh 1914), die schon in
ihrem Untertitel „ Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes "
die starke Berücksichtigung der zeit- und geistesgeschichtlichen Umwelt
zu erkennen gibt. Das Ganze, eine auf neuem handschriftlichem und
urkundlichem Material beruhende und vor allem formanalytisch berei-
Wissenschaftliche Forschungsbericlite VIIL 4
49
cherte Umarbeitung des sieben Jahre zuvor erschienenen kürzeren bio-
j^raphischen Werkes desselben Verfassers, hat sich zu fast abschließender
Bedeutung aufgeschwungen, indem philologische Exaktheit, psychologi-
scher Feinsinn und geistesgeschichtlicher Weitblick sich hier in vorbild-
licher Weise die Hände reichten.
Einem wenig gekannten Gebiet wendet sich die Münsterische Dissertation von
(;. AVaters zu, die sich eine Untersuchung der ?, Münsterischen katholischen Kircheu-
liederbücher vor dem ersten Diözesangesangbuch 1677" zur Aufgabe setzt (191 *>).
Nach einem einleitenden Überblick über die grolie Zahl deutscher katholischer Ge-
saugbücher am Niederrhein bespricht die Arbeit eingehend zwei in Münster gedruckte
Andachtsbücher mit deutschen Hymnen und Sequenzen.
Für die als Vorstufe für die kulturpsychologische Umwälzung des.
18. Jahrhunderts nicht schwer genug zu bewertende mystische Bewegung
des 17. Jahrhunderts wollen die von W. von Schröder begonnenen
,, Studien zu den deutschen Mystikern des 17. Jahrhunderts" grund-
legende Forschung bringen, die sich in dem ersten (Heidelberg 1917
erschienenen) Bande dem berühmten Verfasser der Unparteiischen Kirchen-
und Ketzerhistorie, Gottfried Arnold, zuwenden, der hier im Gegensatz
zu der vorwiegend individualistisch angelegten Darstellung von Dibelius
(1878) im Zusammenhang mit den gesamten irrationalistischen Tendenzen
dieses Zeitalters erfaßt wird. Sind die ersten beiden der Bedeutung
Speners für die Entwicklung Arnolds und den Zusammenhängen zwi-
schen Leben, Geschichtschreibung und Dichtung dieses pietistischen
Theologen nachgehenden Kapitel mehr von allgemeinerem Interesse, so
kommen für den Literarhistoriker besonders die beiden letzten Kapitel
in Frage, die der Lyrik und allegorischen Dichtung Arnolds gewidmet
sind.
In einer Jenaer Dissertation (1915) gibt R. Zwetz ein gutes Bild von der
., Dichterischen Persönlichkeit Gerhard Tersteegens ". Nach der Schilderung der
religiösen Milieuverhältnisse in Mühlhausen a. d. Ruhr, des äußeren Lebensganges
und einer Darlegung der Grundanschauungen seiner mystischen Theologie werden die
verschiedenen Dichtungsgruppen eingehend behandelt. Die Sprachdichtung Tersteegens
übernimmt vieles von Silesius , kommt aber in etliischer Hinsicht auch über diesen
hinaus. Die „ Betrachtungen " zeigen eine Fortführung der biblischen Anregungstexte
in selbständiger Denkarbeit. Unter gleichzeitiger Würdigimg der Dichtungen Arnolds,
Schefflers, Gerhardts und Neanders wird besonders die Lieddichtung eingehend behan-
delt, freilich mehr mit philologisch-äußeren Mitteln als mit einfühlender Betrachtungs-
weise. Zum Schluß werden kurz die Übersetzungen und Prosawerke Tersteegens
untersucht.
Etwas abseits von dieser pietistischen Welt führt die Dissertation
der Amerikanerin Adah Blanche Roe (Bryn Mawr 1915) mit dem
Titel „Anna Owena Hoyers, a poetess of the seventeenth Century".
Denn der Gesamteindruck dieser kenntnisreichen und fördernden Ar-
beit, die weit über die früheren Würdigungen Erich Schmidts und
Paul Schützes hinauskommt, zeigt, daß die holsteinische Dichterin in
ihren religiösen Anschauungen wie im Inhalt und Stil ihrer Dichtungen
zwar manches von der mystischen Art übernommen hat, daß sie im
Grunde ihres Wesens aber eine rationalistisch - nüchterne Natur war,
die bereits auf die lehrhafte und praktische Weltanschauung und Dicht-
50
weise des folgenden Aufklärungsalters hinweist. Nach der offenbar
guten philologischen Schulung der Verfasserin kann man der von ihr
geplanten vollständigen Ausgabe der zu Unrecht vergessenen Dichterin
mit Vertrauen entgegensehen.
Erfreulicherweise beginnt neuerdings auch der Roman der Barock-
zeit mehr in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses zu treten,
nachdem jahrzehntelang nur die Resultate der großen zusammenfassenden
Werke von Bobertag und Cholevius das literarhistorische Wissen über
diese Materie, soweit es nicht auf eigener Lektüre beruhte, gespeist
hatten. Die Würzburger Dissertation von J. Prys über den Staats-
roman des 16. und 17. Jahrhunderts (1913), an die hier kurz erinnert
sei, hatte besonders in ihrem Kapitel über Johann Valentin Andreas
von Campanella beeinflußter pädagogischer Utopie „Reipublicae christiano-
politanae descriptio" die Kenntnis gefördert. Schon ein Jahr zuvor
hatte H. Körnchens Buch über Zesens Romane (Palaestra 115) ein gutes
Stück weitergeführt. Eine Ergänzung dazu gab jetzt Margarete
Gutzeit, indem sie in ihrer Greifswalder Dissertation (1917) die „Dar-
stellung und Auffassung der Frau in den Romanen Philipps von Zesen"
besonders untersucht. Das Resultat der Arbeit, die zunächst die äußeren
Erscheinungsformen der dargestellten Frauengestalten und einige daran
sich anschließende Fragen behandelt, um dann im zweiten Teil der
psychologischen Analyse sich zuzuwenden, konnte nicht eben viel Neues
bieten. Es bestätigt an diesem herausgegriffenen Einzelpunkte der kör-
perlichen und seelischen Zeichnung das sichthche Bestreben Zesens, über
den Konventionahsmus seiner Zeit hinauszukommen, zeigt aber auch,
wie dieser Versuch vielfach mit unzureichenden Mitteln unternommen
wurde. Das fleißig zusammengestellte Material wird dabei nicht genügend
ausgewertet, da der Verfasserin der entsprechende stilgeschichtliche Weit-
bhck abgeht; immerhin aber bietet die Untersuchung gute Vorarbeit
und einen brauchbaren Beitrag zur stilanalytischen Erforschung der
Barockhteratur. — Bei dieser Gelegenheit sei auch auf die im Berichts-
zeitraum hervorgetretene Bonner Dissertation (1916) der Holländerin
Cornelia Bourmann über ,, Philipp Zesens Beziehungen zu Holland"
hingewiesen. Die Bedeutung der holländischen Literatur und Kultur
für die deutsche Dichtung seit dem ausgehenden Mittelalter, besonders
aber im 17. Jahrhundert, ist ja in ihren tieferen Wirkungen bei weitem
noch nicht erkannt, wie mir überhaupt der deutsch-fremdländische Aus-
tauschverkehr erst in den Anfängen wissenschaftlicher Erforschung zu
stehen scheint. Bei der Tatsache, daß Zesen den größten Teil seines
Lebens in Holland verbrachte, nicht weniger als 33 Werke in Amster-
dam erscheinen ließ und selbst gelegentlich in holländischer Sprache
dichtete, erscheint dieses Thema, das gut, wenn auch nicht erschöpfend
hier behandelt ist, von vornherein recht ergiebig. Nach einer Schilderung
der niederländischen Renaissancekultur seit der zweiten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts werden Zesens persönliche und Uterarische Beziehungen zu
dieser seiner zweiten Heimat behandelt. Der Einfluß des holländischen
Milieus auf seine Dichtung scheint etwas geringer als man erwarten
4"
51
möchte, dagegen gewinnt Zesen als sprachlicher Vermittler noch an
Bedeutung, wenn man die fleißig zusammengetragenen Wortlisten im
4. Kapitel der Arbeit betrachtet, die neben vielen erfolglosen Sprach
bildungen nicht weniger als 53 ins deutsche SprachbewulJtsein über-
getretene Übersetzungen holländischer Worte verzeichnen können. —
Eine Arbeit des verdienten holländischen Germanisten J. H. Schölte
über Zesen im 14. Jahrbuch (1916) der „Vereeniging Amstelodamum''
war mir nicht zugänglich. — Einem längst fühlbar gewesenen Be-
dürfnis kam die Marburger Dissertation (1918) von F. Stöffler über
„Die Romane des Andreas Heinrich Buchbolz ^' entgegen. Nach einem
kurzen Überblick über die Grundtypen des Idealromans der Barock-
literatur werden die beiden großen Romane des Braunschweiger Super-
intendenten eingehend behandelt, indem neben ausführlichen Inhalts-
wiedergaben besonders die Quellen- und Vorbildfrage, der Ideengehalt,
Komposition und Technik, sowie Charakteristik und Stil erörtert wer-
den. Ihre literargeschichtliche Bedeutung wird in der Übergangsstellung
vom alten Amadisroman zu dem späteren Volltypus des heroisch -
galanten Romans richtig erkannt.
Bereits in die Anfänge des Aufklärungszeitalters hinüber führt dann der neue
Typus des politischen Bildungsromans, wie ihn Ch. Weise begründet. Mit einem
wenig bekannten Nachfolger des Zittauer Rektors auf diesem Gebiete, dem Schlesier
Paul Winckler, beschäftigt sich die solide Rostocker Dissertation von W. van der
Briele (1918), indem sie besonders an der Hand autobiographischer Aufzeichnungen
(die freilich leider nur bis zum Jahre 1679 reichen) eingehend das Leben des 1686
(falsch bei Goedeke 1679) verstorbenen , übrigens nahe mit Gryphius verwandten
Glogauers erzählt, um dann ausführlich den posthum erst 1696 erschienenen großen
Roman „Der Edelmann" nach Inhalt und Form zu behandeln. — Mit einem anderen Ver-
treter dieser Richtung beschäftigt sich die Heidelberger Dissertation von A. F. Kölmel
über Johannes Riemer.
Wenn die jahrzehntelang trotz einiger tüchtiger Ansätze nicht recht
vorwärts kommende Grimmeishausenforschung neuerdings stark in Fluß
gekommen ist, so ist dies neben anderen besonders das Verdienst von
A. Bechtold und H. Schölte. Ersterer hat vorwiegend durch archivalische
Studien und Aufdeckung unbekannten biographischen Materials die
Kenntnis vom Leben des Simplicissimusdichters stark gefördert und alte
Irrtümer kritisch beleuchtet, letzterer ist besonders textkritische Wege
gegangen. Seine in verschiedenen Zeitschriftenaufsätzen vorgelegten
Einzelforschungen faßte Bechtold in seinem Buche „Johann Jakob
Christoph von Grimmeishausen und seine Zeit" zu einem biographischen
Gesamtbilde zusammen (Heidelberg 1914, dazu eine Titelauflage von
1920), das seinen Namen freilich nicht ganz mit Recht führt, indem
neben der in allen Einzelheiten dargelegten individuellen Lebensliuie
das kulturgeschichtliche Milieu nur ganz nebenbei zur Behandlung kommt.
Die persönlichen Lebensumstände von Grimmeishausen aber werden hier
mit kritischer Neubahnung und mit einer Ausführlichkeit behandelt, die
dieses Werk zu einer bleibenden Grundlage aller weiteren Forschung
stempeln. Noch freilich bleiben einige Punkte ungeklärt. Ob statt des
auch von Bechtold als Gebui'tstermin angenommenen Jahres 1G25 nicht
52
das Jahr 1610 einzusetzen ist, für das Witkowski Beweise geben zu
können meint, muß bis zur Vorlegung der angekündigten urkundlichen
Notizen eine offene Frage bleiben. Auch das konfessionelle Problem u. a.
harrt noch der endgültigen Lösung. Im ganzen aber naht sich die Er-
forschung der biographischen Seite einer Vollständigkeit, über die man
kaum noch wird hinauskommen können, und es scheint an der Zeit,
der bisher noch stark vernachlässigten ästhetisch- literarhistorischen Wür-
digung der Werke nunmehr die gebührende Aufmerksamkeit zuzuwenden. —
Dafür haben die langjährigen textkritischen Studien des holländischen
Forschers Schölte, die bereits in seinem 1912 vorgelegten Buche über
„Probleme der Grimmeishausenforschung" in ihrer grundlegenden Be-
deutung zur Erscheinung kamen, die Wege gebahnt. NamentUch hat
die veränderte Ansetzung der Reihenfolge der Simplicissimusdrucke
für verschiedene philologische Fragen neue Gesichtspunkte ergeben. Vor
allem hat die jahrzehntelang als älteste erreichbare Fassung geltende
Ausgabe A, für die schon W. A. Holland und H. Kurz eingetreten waren
und die auch Kögel in seinem Neudruck (1880) als „älteste Original-
ausgabe" ansah, die Prioritätswürde an die Ausgabe B abtreten müssen,
die schon vor Jahrzehnten ganz richtig der alte A. von Keller in ihrer
textkritischen Stellung erkannt hatte. Damit im Zusammenhang stehend
mußte der zwei Generationen lang als hypothetische Grundlage ange-
nommene angeblich verlorene Urdruck X (1668) endgültig aus der
ganzen Rechnung gestrichen werden. Sowohl der Druck A wie der
Druck B ist echt und bei Felsecker in Nürnberg herausgekommen,
womit sich bei dem starken Unterschied beider Drucke weitere Pro-
bleme ergeben. Dies und eine Reihe anderer damit zusammenhängender
Fragen hat Schölte dann neuerdings in ergänzenden Aufsätzen weiter
ausgeführt, besonders im 40. Band von Paul und Braunes Beiträgen,
im 12. Jahrgang der „Zeitschrift für Bücherfreunde", N. F., neuestens
in der Februar- und Aprilnummer 1920 der Modern Language Notes. —
Angeregt von dieser schon 1912 von Schölte angeschnittenen Frage
hat dann der Schwede G. Einar Törnvall dieses Problem in einem
besonderen Buche „Die beiden ältesten Drucke von Grimmeishausens
Simphcissimus sprachlich verglichen" (Upsala 1917) mit gründlicher
methodischer Schulung (wie sie zumeist in schwedischen Universitäts-
arbeiten zutage tritt) behandelt, die Scholtes Ansetzung durchaus bestätigt,
mit ihrer vergleichenden sprachlichen Betrachtung aber zugleich weitere
allgemein sprachgeschichtliche Ausblicke bietet. — Ganz neuerdings ist
dann dieser ganze Problemkreis wiederum ein gut Stück weiter durch
die gründliche Untersuchung von H. H. Borcherdt, „Die ersten Aus-
gaben von Grimmeishausens Simphcissimus" (München 1921) gefördert
worden, der die Resultate von Schölte vielfach bestätigen kann, in zwei
Punkten aber überzeugend darüber hinausführt. Einmal wird die seit
Kurz in der Grimmeishausenphilologie spukende Ausgabe AU des Sim-
phcissimus als überhaupt nicht vorhanden nachgewiesen, vor allem aber
wird die nach Borcherdts Zählung die Nummer III führende, bisher
mit A bezeichnete Ausgabe, die in typographischer und sprachlicher
53
Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt, sonst aber eine überraschende
Korrektheit aufweist, gegen iScholte überzeugend als Nachdruck er-
kannt, womit sich bei der Bedeutung dieses Druckes für die folgenden
(Originalausgaben eine neue Gruppierung ergibt.
F. Stern bergs Studie ..Grimmelsbausen und die deutsche satirisch-politische
literatur seiner Zeit" (1^5) war mir nicht zugänglich und sei deshalb nur genannt.
Nicht sehr zahlreich stellt sich die Literatur über die dramatische
Dichtung dieser Epoche dar. Besonders bedauerlich ist, daß die reiche
jesuitische Produktion in lateinischer und deutscher Sprache, aber auch die
reich entwickelte Volksdramatik noch der genaueren Durchforschung harren.
Nadlers Aufsatz über „Bayrisches Barocktheater und bayrische Volks-
bühne" in den „Süddeutschen Monatsheften" (11. Bd.), dessen Aus-
führungen freilich im wesentlichen nur eine Wiederholung der entsprechen-
den Partien seiner großen Literaturgeschichte geben, läßt von neuem in
diesen unerschlosseuen Reichtum hineinbHcken. — Einen allgemeinen,
namentlich auch für die Theatergeschichte fruchtbaren Gesichtspunkt
griff E. Hövel heraus, wenn er in seiner etwas reichhch flott und bilder-
froh geschriebenen, aber kenntnisreichen Münsterischen Dissertation (1916)
den „Kampf der Geistlichkeit gegen das Theater in Deutschland im 17. Jahr-
hundert" untersucht. Weit ausholend wirft er zunächst einen Blick
auf das Verhältnis von Kirche und Theater in antiker und mittelalter-
licher Zeit, und zeigt dann, wie trotz der im allgemeinen herrschenden
Eintracht im 16. Jahrhundert sich bereits einzelne Übereiferer besonders
von calvinistischer Seite melden, wie sich weiterhin das Vorurteil durch
das Aufkommen eines schauspielerischen Berufsstandes, der Verwelt-
lichung der Stoffe und der steigenden Konkurrenz gegen das Schuldrama
verschärft, wie vor allem in der Schweiz eine erhöhte Theaterfeindlich-
keit sich geltend macht und eine Beschränkung der alten Spielfreudig-
keit auf die katholischen Orte zur Folge hat. Mit der zunehmenden
Verwilderung des Schauspielerstandes während des 30jährigen Krieges
und der Erstarkung sektiererischer Strömungen nimmt man diese feind-
seüge Gesinnung auch in Norddeutschland überall zu, wo besonders der
Rostocker Pfarrer Schröder als zelotischer Vorkämpfer eine bedeutungs-
volle Rolle spielt. Auf Grund lokalgeschichtlicher Darstellungen und
urkundUcher Nachrichten wird dieser zum Teil auch in Süddeutschland
recht erfolgreiche Kampf der Geistlichkeit in einer Reihe namhafter
Städte aufgezeigt. Einen Führer erhielt dann diese ganze Bewegung
in Spener, der während seines langen Lebens die calvinistischen An-
schauungen von der Verwerflichkeit des Theaters vertrat. Eine neue
Verschärfung in dem Verhältnis beider Momente machte sich dann mit
dem Überhandnehmen der Barockoper geltend, die mit ihrem Prunk
und ihren Frauenrollen die pietistischen Eiferer von neuem reizte. Die
große Fehde gegen die Hamburger Oper, bei der sich besonders die
Pastoren Anton Rei.ser und J. F. Mayer hervortaten, ist auf dieser Linie
nur eine wichtige Etappe. Später findet dieser Kampf, durch Speners
Schüler G. Arnold u. a. fortgeführt, besonders in Halle einen neuen
Vorposten.
54
Einer von den wenigen Jesuitendichtern; deren Gestalt dem literar-
historischen Bewußtsein bisher etwas näher gerückt worden ist, tritt uns
in dem österreichischen Hofpoeten Nicolaus Avancini entgegen. Schon
1899 hatte N. Scheid in einem Feldkircher Programm den äußeren
Lebensgang des 1611 in einem Dorfe bei Trient aus adeügem Hause
geborenen Dichters vorgeführt, der nach seinen Studien in Graz, und
Wien als hochangesehener Theologieprofessor und akademischer Prediger
fast zwei Jahrzehnte in Wien lehrt und in den beiden letzten Dezennien
seines Lebens hohe Verwaltungstellen innerhalb seines Ordens bekleidet,
bis er 1686 in Rom stirbt. Neben den Nachrichten über das äußere
Leben hatte Scheid noch aufschlußreich über die von kräftigem Vater-
landsgefühl getragene Odendichtung gehandelt, die neben hoher Begabung
freilich auch eine allzustarke Neigung zur Rhetorik erkennen läßt und
deshalb an die Bedeutung der Lyrik Baldes nicht heranzureichen ver-
mag. In erwünschter Ergänzung zu jener biographischen und lyrik-
analytischen Studie gab derselbe Verfasser 1913 in einem Feldkircher
Programm eine Fortsetzung, die sich mit der reichen und in fünf Bänden
zusammengefaßten Dramendichtung Avancinis beschäftigt. Indem er
den pädagogischen Grund char akter der jesuitischen Dramenkunst betont,
werden die zum Teil (6) aus dem Italienischen übersetzten, zumeist (21)
aber eigenschöpferischen Dramen des fruchtbaren Jesuitenpaters nach den
stofflichen Gruppen allegorischer, biblischer, legendarischer, sagenhafter
und geschichtlicher Stücke besprochen und von den wichtigsten der
Inhalt dargelegt. Die starke Neigung zur Rhetorik sehen wir auch
hier wiederkehren.
Die junge theatergeschichtliche Wissenschaft beginnt, abgesehen
von ihrer allgemeinen kulturhistorischen und stilgeschichtlichen Be-
deutung auch in ihrem Wert als Hilfswissenschaft für die Literatur-
imd besonders Dramengeschichte immer deutlicher zu werden. Für das
17. Jahrhundert, wo unsere literarhistorischen Kenntnisse ja überhaupt
zumeist noch recht dürftig bestellt sind, mußte bei der engen Verbindung
von Drama und Theater in dieser Epoche und der Ungeklärtheit der
bühnentechnischen Verhältnisse eine so eingestellte Untersuchung be-
sonders fruchtbare Ausbeute erhoffen lassen. Von solchen Gesichts-
punkten ging die zunächst als Marburger Dissertation (1914) erschienene
Arbeit von W. Flemming, „Andreas Gryphius und die Bühne" aus.
In methodisch vorbildUcher Weise geht sie den Theatereindrücken des
Dichters während seiner schlesischen und Danziger Jugendzeit, sowie
während der Jahre seiner holländischen Studien und Wanderungen in
Frankreich und Italien nach, um so festzustellen, welche bühnentechni-
schen Vorstellungen und Erfahrungen für die eigene Produktion zu
Gebote standen und als formgebende Anregungen von Einfluß sein
konnten. Die vielversprechende Erstlingsleistung liegt unterdessen auch
unter demselben Titel in vollständigem Druck und erweiterter Gestalt
in einem 436 Seiten umfassenden Gesamtwerke vor, das jene erfahrungs-
und vorstellungsgeschichthche Untersuchung auch auf die Jahre der
Reife des Dichters ausdehnt und dann auf dieser so gewonnenen Basis
O'o
in einem II. und III. Teil die Tragödien und Komödien des Gryphius
nach bühnentechnischen Gesichtspunkten analysiert. Da dieses Werk
aber erst 1921 hervortrat, liegt es jenseits des hier zum Referat stehen-
den Zeitraums, doch sei nachdrücklich auf diese Neuerscheinung hin-
gewiesen.
Von bühnenbildlichen Gesichtspunkten zeigt sich auch die Göttinger Dissertation
von H. Stein berg über „Die Reyhen in den Trauerspielen des Andreas Gryphius''
(1914) beherrscht. Nachdem die Einleitung den abweichenden Charakter des'antiken
Chores betont und den Unterschied des Zvvischenaktreyhens von dem auch sonst vor-
kommenden chorischen Lied hervorgehoben hat, geht die tüchtige Arbeit darauf aus,
das Element des Zwischenaktchores vom Gesamtgefüge der Dramen aus zu erfassen
und den organischen Aufbau des Gedankeninhalts der Reyhen aufzudecken. Zu diesem
Zwecke werden im ersten Teil diese Reyhen im engsten Zusammenhang mit dem
inneren Entwicklungsgang der dramatischen Handlung analysiert, worauf im zweiten
Teil diese Giyphschen Dramenelemente in Vergleich gesetzt werden mit den Chören und
chorartigen Gebilden vor Gryphius (mittelalterliches Drama, Schuldraraa, schweize-
risches Bürgerdrama, Meistersängerdrama, Jesuitendrama, italienische, englische, hol-
ländische Bühnenpraxis). — Auf einen Neudruck von Rists allegorischem Drama „Das
Friede wünschende Deutschland", den H. Stümcke besorgte (Gotha 1915), sei nur
kurz verwiesen, da er in seiner sprachlich erneuerten und bearbeiteten Form für
philologische Zwecke nicht in Frage kommt.
Die unverkennbare Vernachlässigung der didaktisch - satirischen
Literatur, die für die Literaturforschung aller Epochen gilt und besonders
ja auch für das 16. Jahrhundert fühlbar wird, läßt auch in der Barock-
zeit Untersuchungen dieser Gattung zurücktreten. Dafür wiegen die
beiden im wesentlichen nur in Frage kommenden Untersuchungen in-
haltlich um so schwerer. Vor allem ist hier die vorzügliche aus einer
Berliner Dissertation (1916) hervorgegangene Arbeit von P. Hempel
über „Die Kunst Friedrichs von Logau" zu nennen, die den 130. Band
der Sammlung Palaestra bildet (Berlin 1917). Hatte man bisher vor-
wiegend die inhaltliche Seite seiner epigrammatischen Dichtung beachtet
und die kulturgeschichtliche Bedeutung seiner satirischen Angriflfe wie
ihre vielfache stoffliche Abhängigkeit von Martial, Euricius Cordus,
Owen u. a. ins Auge gefaßt, so war es bei der immerhin freischöpferi-
schen Stellung, die Logau seinen Quellen gegenüber einzunehmen pflegt,
eine lohnende Aufgabe, nun auch einmal die in diesen Epigrammen
steckende Formkunst zu analysieren und damit eine Forschungsrichtung
einzuschlagen, die bei der literarhistorischen Würdigung des 17. Jahr-
hunderts leider immer noch arg vernachlässigt wird und erst ganz
neuerdings — im Zusammenhang mit dem steigenden Verständnis, das
man der Barockkultur überhaupt entgegenbringt — mehr in den Vorder-
grund des Interesses tritt. In einer Reihe von Kapiteln wird mit ein-
fühlendem Verständnis und gutem Blick für form analytische Probleme
die Kunst Logaus, wie sie sich in der plastischen Gestaltung, in der
Struktur der Gedichte, im Stil und anderen Momenten bewährt, vor-
geführt. — Als nicht ganz auf der Höhe dieser Leistung stehend,
aber gleichwohl eine sehr ansehnliche Leistung darstellend erweist
sich die Heidelberger Dissertation von L. Pfeil (1914), die den Titel
führt: „Gottfried Wilhelm Sacers Reime dich oder ich fresse dich",
56
Nordhausen 1676. Im Gegensatz zu dem Buche Hempels liegt hier
das Schwergewicht durchaus auf der inhaltlich -philologischen Seite.
Die Autorfrage des pseudonym erschienenen Werkchens, bei der man
längere Zeit infolge einer irreführenden Angabe Morhofs zwischen Jo-
hann Riemer und Gottfried Wilhelm Sacer schwankte, wird überein-
stimmend mit der neueren Annahme endgültig zugunsten des letzteren
geklärt, während die im Titel erscheinende Druckortangabe als falsch er-
wiesen wird, ohne daß dafür mit sicherer Bestimmtheit eine andere An-
nahme eingesetzt werden könnte. Nach einer Darlegung der äußeren
Lebensverhältnisse Sacers wird dann besonders eingehend und fördernd
die Quellenfrage erörtert, wobei neben dem auffallend starken Einfluß
Baldes der Einwirkung Moscheroschs , Schupps, Andreaes, Sorels u. a,
nachgegangen, aber auch ein Nachklingen Fischarts festgestellt wird.
Recht aufschlußreich sind dann auch die weiteren Ausführungen, die das
Verhältnis Sacers zur zeitgenössischen Poetik und zu anderen Literatur-
satirikern aufzeigen.
§ 6. Aufklärung
Wie Sacer 1673 scharf gegen den marinistischen Dichtungsstil vor-
ging, so sehen wir just zur selben Zeit, wo Lohenstein und Hofmanns-
waldau im Zenit ihres Ruhmes standen, die vorwiegend in den späteren
Schlesiern zutage tretende literarische Geschmacksrichtung des extremen
Barock bereits allenthalben aus ihrer maßgebenden Stellung verdrängt
werden, solange auch noch ihre Nachwirkung in einzelnen Kreisen und
Gattungen zu beobachten ist. Seit rund 1670 aber drängt, wie schon
etwas früher in Frankreich und England, auch in Deutschland die neue
Welt- und Kunstanschauung der Aufklärung auf der ganzen Linie sieg-
reich vor. Damit geht eine Verschiebung der literarischen Zentren
nach dem ober- und niedersächsischen Gebiet, der eigentlich klassischen
Stätte der Aufklärung, vor sich.
Dem Führer dieser Richtung, Christian Weise, der in allen drei
Gattungen den neuen Stil mit zuerst anwendet, ist seiner zwar nicht
ästhetischen, aber entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung entsprechend
neuerdings eine stärkere Aufmerksamkeit zugewandt worden. Nachdem
1910 R. Beckers tüchtige Berhner Dissertation Weises Romane und
ihre Nachwirkung auf den poHtischen und pikarischen Roman der Folge-
zeit untersucht hatte, füllte M. von Waldberg eine empfindliche Lücke
unserer Neudrucke aus, indem er 1914 einen kritischen Neudruck von
Weises „Überflüssigen Gedanken" nach der Ausgabe von 1678 vorlegte,
deren Einleitung sorgfältig die textkritischen Grundlagen festlegt. Be-
sonders zu begrüßen ist, daß in dem Neudruck auch das in der Original-
ausgabe der Gedichte angehängte Erstlingsdrama des fruchtbaren Zittauer
Schulrektors „Die triumphierende Keuschheit**' zur Auferstehung kommt,
das bisher nur in einer modernisierten Bearbeitung von K. Halling in
neuerer Form zugänglich war. — Im selben Jahr legte dann auch der un-
serer Wissenschaft viel zu früh entrissene W. von Unwerth einen Neu-
57
druck der bisher unveröffentlichten beiden nordischen Dramen Weises
„Regnerus" und „Ulvilda'' vor (Germanistische Abhandlungen, hrsg.
von F. Vogt, 46. Heft, Breslau 1914), der von einer gehaltvollen Ab-
handlung über die Quellen- und IStoffgeschichte dieser Dramen begleitet
war und des Verfassers Vertrautheit mit der nordischen Welt zeigte.
Ob freilich seine Annahme, daß Weise neben dem Studium skandinavi-
scher Chronisten und Historiographen einem dramatischen Archetypus
verpflichtet sei, der (heute nicht mehr nachweisbar) sich nach einem
Drama des schwedischen Dichters Messenius in der Praxis deutscher
Komödianten ausgebildet habe, muß zum mindesten zweifelhaft bleiben.
Immerhin hat sich von Unwerth, dessen jäh abgebrochene Lebensarbeit
sonst auf dem Gebiet der altdeutschen und nordischen Philologie lag,
mit dieser Arbeit auch um die neudeutsche Literaturgeschichte verdient
gemacht. — Bereits jenseits dieses Berichtszeitraums liegt die tüchtige
Leipziger Dissertation von H. Schauer über „ Christian "\A'eises biblische
Dramen", die in überarbeiteter Fassung als Buch 1921 in Görlitz er-
schien und die Voraussetzungen, die Technik und den pädagogischen
Ertrag dieser Dramengruppe eingehend untersucht.
Aus dem Boden der Aufklärung erwuchs auch das satirische Schaffen
Christian Reuters, den vor nunmehr fast schon vierzig Jahren Zarnckes
archivalischer Spürsinn zu neuem Leben erstehen ließ. Nachdem früher
die satirischen Dramen und vor allem der „Schelmuffsky" mehrfach in
Einzelneudrucken bekanntgeraacht worden waren und vor dem Kriege
auch der „Graf Ehrenfried" in einem Liebhaberdruck des Leipziger
Bibliophilenabends wenigstens in 100 Exemplaren einen Neudruck erlebte
(1911), erwarb sich der Insel vorlag ein großes Verdienst damit, daß er die
zerstreuten und immer noch vielfach kaum zugänglichen Werke Reuters
in einer zweibändigen Ausgabe vereinte, die unter dem Titel „Christian
Reuters Werke" in vornehmer Ausstattung 1916 hervortrat und von
G. Witkowski besorgt wurde, der unter Verzicht auf alles rein
philologische Beiwerk den zwei starken, fast 800 Seiten füllenden Bän-
den nur ein knappes, in die Persönlichkeit einführendes Nachwort beifügt.
Die Ausgabe, die zum erstenmal das immerhin reichhaltige Schaffen
Reuters vereinigt vorführt, enthält von den aus dem Leipziger Erlebnis
hervorgegangenen Arbeiten die beiden der „Ehrlichen Frau" geltenden
Dramen und das daran sich anschließende „Denk- und Ehrenmal".
Das Singspiel „Ilarlequins Hochzeitschmauß ", dessen Autorschaft nach
Boltes Nachweis für Reuter nicht mehr in Frage kommt, wurde kon-
sequenterweise ausgelassen, während das ebenfalls stark verdächtige
Singspiel „Ilarlequins Kindbetterin Schmauß" wenigstens im Anhang
beigegeben wurde. Zu begrüßen ist, daß dann nicht nur der satirische
Ilauptroman in beiden Fassungen zum Abdruck kommt, sondern auch
die weniger bekannte Oper „Seigneur Schelmuffsky" nunmehr leicht
zugänglich ist. Vor allem aber wird durch diese Ausgabe das spätere
Dresdner und Berliner Schaffen Reuters erst klar, so sehr auch der
Abfall dieser mittelmäßigen Hofpoetenleistungeu von der einstigen sa-
tirischen Höhe des Dichters zu beklagen ist. Erst durch diese Aus-
58
gäbe seiner gesammelten Werke hat sich die Wiedergeburt Reuters
vollendet.
Der seit Beginn des neuen Jahrhunderts immer deutlicher zur Er-
scheinung kommende englische Einfluß tritt vor allem in den Wochen-
schriften und den Robinsonaden zur Erscheinung. Beide literarische
Gebilde sind im Berichtszeitraum behandelt worden. Nicht eigenthch
in die Literaturgeschichte im engeren Sinne gehört die vorwiegend er-
ziehungsgeschichtlich orientierte, aber auch dem Literarhistoriker viel
bietende Arbeit von M. Stecher, die in ungemein sorgfältiger Forschung
„Die Erziehungsbestrebungen der deutschen moralischen Wochenschriften"
(Langensalza 1914) untersucht. Die Einleitung freilich beruht auf ver-
alteten Anschauungen über die geistige Entwicklung des 17. Jahrhunderts
(die hergebrachte These von dem nahezu alles geistige Leben vernich-
tenden Einfluß des Dreißigjährigen Krieges sollte endlich einmal aus
wissenschaftlichen Darstellungen verschwinden). Die Art, wie aber dann
die Grundideen der Aufklärung überhaupt und besonders ihrer erziehungs-
technischen Anschauungen aus den früheren Wochenschriften heraus-
gearbeitet werden, verdient volle Anerkennung. — Als eine besonders
bedeutsame Leistung stellt sich daneben F. Brüggemanns Buch
„Utopie und Robinsonade" dar, das 1914 als 46. Nummer der „For-
schungen zur neueren deutschen Literaturgeschichte" erschien. Nach den
grundlegenden Forschungen von H. Ullrich Tl 8 9 8 ff.) war neuerdings vor allem
Kjchnabels „Insel Felsenburg" in den Vordergrund des Interesses gerückt,
die neben den übrigen Romanen des Stoiberger Vielschreibers in den
beiden Dissertationen von F. K. Becker (Bonn 1911) und K. Schröder
(Marburg 1912) behandelt worden war. Nach der mehr individualisti-
schen Einstellung dieser beiden Untersuchungen geht B. mit allgemeinerer
geistesgeschichtlicher Betrachtung an seine Aufgabe. Sie gipfelt in dem
überzeugenden Nachweis, daß für die „Insel Felsenburg", auf die sich
das Hauptaugenmerk des Verfassers richtet, aber auch für die übrige damit
im Zusammenhang stehende sog. Robinsonadenliteratur der Einfluß des
englischen Originalromans stark überschätzt worden ist und für die ganze
Gruppe von ungleich größerer Bedeutung die reiche utopistische Literatur
ist, deren Motive in ihrer Nachwirkung auf die „Insel Felsenburg" mit
großer Sorgfalt und Belesenheit nachgewiesen werden. Vielleicht über-
schätzt B. die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung der Gefühls- und
Humanitätselemente des Schnabelschen Romans etwas. Jedenfalls aber
zeigt auch diese Untersuchung, wie sehr die hterarhistorische Würdigung
eines Dichtwerkes bei größerer geistesgeschichtlicher Einstellung an
problematischem Weitblick gewinnen kann und daß bei genügend fester
philologischer Fundierung die Bedenken aufklärerischer Kleingeister gegen
solche kulturhistorische Methode unberechtigt sind. Unsere moderne
Literaturgeschichte bedarf neben der natürlich unerläßhchen philolo-
gischen Grundarbeit und der in den letzten Jahrzehnten erfit-eulicherweise
stärker betonten ästhetisch- psychologischen Analyse und der Einfühlung
in den Sondercharakter des Einzelwerkes notwendigerweise als dritten
ergänzenden und vielfach die Untersuchung krönenden Momentes dieser
59
geistes- und stilgeschichtlichen Betrachtungsweise, die vieles in ganz,
anderer Beleuchtung zeigt, als es die herkömmliche Literaturgeschichts-
betrachtung sieht.
In seiner tüchtigen Greifswalder Dissertation „Die Welt- und
Lebensanschauung in dem Irdischen Vergnügen in Gott von B. H.
Brokes'' (1914) betont F. von Manikowsky gegenüber der bisher
geübten meist aburteilenden literarischen Wertung die relormatorische
Bedeutung des Hamburger Dichters. Vor allem vermag er in dem
Nachweis, daß Brokes' Vorstellungsweise von Gott, Welt und Mensch
in den wesentlichen Punkten auf Shat'tesbury zurückgeht, mit dessen
Anschauungen er als Übersetzer Thompsons und anderer englischer Di-
daktiker bekannt wurde, eine wertvolle Berichtigung der bisherigen An-
nahme zu erbringen, daß die Ideen Leibnizens von entscheidender Ein-
wirkung gewesen seien. Im Gegenteil lehnt Brokes den Mittelpunkt
der Leibnizschen Lehre, die Monadologie, scharf ab. Gewonnen hätten
diese Darlegungen noch, wenn sie die zeitgenössische Literatur stärker
herangezogen hätten und allgemeines Zeitgut und individuelles Eigentum
dadurch deutlicher geschieden worden wäre.
Hinsichtlich der beiden Lyriker des frühen 18. Jahrhunderts, die mehr oder
weniger den Spuren von Brockes folgen, vermag Fr. Meyer in seiner Münchner
Dissertation (19Hi) durch eine eingehende Prüfung und Vergleichung der zeitgenössi-
schen Hallerbiographien untereinander sowie an der Hand autobiographischer Angaben
und handschriftlicher Notizen Hallers aus dem Besitz der Stadtbibliothek in Bern
neue „Beiträge zur Biographie A. von Hallers" zu erbringen, während Bertha
Reed Coffman in einer mir nicht zugänglich gewordenen Abhandlung in Modern
Philology XIII und XIV „The influence of English Literature on Fr. v. Hagedorn"
(1916) untersucht.
Noch immer will sich die Einzelforschung über Gottsched nicht
recht entwickeln, obwohl sich neuerdings ein gerechteres Urteil über den
Leipziger Geschmacksdiktator durchzusetzen beginnt, ohne daß man des-
halb nun gerade in E. Reicheis dithyrambische Begeisterung zu ver-
fallen braucht. So ist es zu begrüßen, daß J. Hülle in seiner Arbeit
„Joh. Valentin Pietsch. Sein Leben und seine Werke" (Forsch, z. n.
Litg., 50. Bd., 1916) eine alles irgend erreichbare biographische Material
sorgsam ausschöpfende Lebendarstellung des Lehrers von Gottsched,
sowie ein bibliographisches Verzeichnis der Einzeldrucke und Ausgaben
seiner Gedichte gibt und seine Entwicklung von den ersten Anfängen
in Lohensteinschem Geschmack zu der nüchternen, am französischen
Klassizismus geschulten Art Neukirchs und den unter Neumeisters Ein-
fluß stehenden geistlichen Gedichten verfolgt. — Wertvoll für die Er-
kenntnis Gottscheds selbst ist die scharf und klar dui'chdachte, aus einer
Heidelberger Dissertation hervorgegangene Arbeit von E. Lichten -
stein: „Gottscheds Ausgabe von Bayles Dictionnaire" (Beitr. z. n. Litg.
VIII, 1915). Sie stellt sich die Autgabe, aus den Beziehungen Gott-
scheds zu Bayle, soweit sie ihren Niederschlag in den zahlreichen und
umfänglichen Anmerkungen gefunden haben, die Gottsched der von ihm
herausgegebenen Übersetzung des großen Bayleschen Wörterbuches hinzu-
fügte, einen Beitrag zur Erkenntnis Gottscheds als eines Repräsentanten
60
■der Aufklärung zu geben. Nacheinander werden seine Beziehungen zur
Theologie und Philosophie, zur Literatur., zum Theater und zu natio-
nalen und kulturellen Zeitfragen erörtert, ungefähr im Anschluß an die
Gruppierung, die er selbst in der Vorrede zum ersten Bande des Wörter-
buches seinen Anmerkungen gegeben hat. Während die philosophischen
Versuche ihrer ganzen Natur nach zur Fruchtlosigkeit verurteilt waren,
sind die literarischen Anmerkungen nach zwei Seiten hin bedeutsam:
als ästhetische Äußerungen setzen sie sich mit den Anschauungen Bod-
mers und Breitingers auseinander, als literargeschichtliche suchen sie die
Gleichwertigkeit des deutschen Geistes mit dem der Nachbarvölker zu
erweisen und so das deutsche Nationalgefühl zu heben, ebenso wie ihm
die deutsche Sprache ein Mittel zur Verherrlichung des Vaterlandes
wird; rein und unvermischt kommt dieses schöne vaterländische Gefühl
dann auch in zahlreichen Anmerkungen zum Ausdruck, die die Laster
und Schwächen seiner Landsleute scharf geißeln und die Deutschen auf-
stacheln sollen, sich von fremdländischem Wesen frei zu machen und
ihre eigene Art zu erkennen und zu entwickeln. — Über die unmittel-
baren Trabanten und Mitkämpfer Gottscheds liegen aus den Berichts-
jahren keine eingehenderen Darstellungen vor. Dagegen sind einigen
Gottsched immerhin nahestehenden Persönlichkeiten aus dem Kreise der
Bremer Beiträge Dissertationsarbeiten zugute gekommen.
Während W. Lippe rt als Vorstudie zu einer in Aussicht gestellten umfassen-
den Untersuchung der dichterischen Tätigkeit N. D. Giesekes eine ausführliche bio-
graphische Behandlung seiner Persönlichkeit bietet (Greifswald 19 i5), gibt K. Kühnes
Berliner Dissertation (1914): „Studien über den Moralsatiriker G. W. Rabener" wert-
volle Forschungen zu Rabeners literarischer Tätigkeit, Nachdem ein erstes Kapitel
vielfach unbekannte Beziehimgen menschlicher und literarischer Art zwischen dem
Bremer Beiträger und zeitgenössischen Autoren wie Gramer, Gieseke, Hagedorn, Bod-
mer, Gottsched, Gleim u. a. neu aufgedeckt oder bisher Bekanntes berichtigt hat, geht
das zweite Kapitel mit umsichtiger philologischer Kritik daran, Eabeners Anteil an
den Leipziger periodischen Schriften aufzuzeigen und den Nachweis seiner Autorschaft
für die anonymen Satiren der ,, Belustigungen des Verstandes und Witzes'' zu
führen. Ein dritter Teil der Arbeit präft die Satiren nach Theorie, Stoff und Form
und unterscheidet vier Entwicklungsperioden derselben: die Abhängigkeit der ersten
Versuche von den Kunstsatiren Günthers und Neukirchs, die Anlehnung der Produkte
der Leipziger Studenten] ahre an Swift, die Periode des „Zuschauers", und die deutsche
Moralsatire mit sächsischen Lokalstoffen in englischer Technik. Der Anhang bringt
erstmalig abgedruckte Briefe Rabeners aus dem Gleimstift, der preußischen Staats-
bibliothek in Berlin und der Hamburger Stadtbibliothek. — Die Gießener Dissertation
von G. Paul über „Die Veranlassung und die Quellen von J. E Schlegels Canut"
(1916) sucht die bisher unbekannte Anregung zur Wahl dieses Stoffes aus der dä-
nischen Geschichte in einer Arbeit Hans Granis über Canuts Reise nach Rom fest-
zustellen, die 1745 erschienen war und zu deren Verfasser Schlegel auch in nach-
weisbaren persönlichen Beziehungen stand. Die etwas breite und äußerliche Unter-
suchung über die Quellen des Dramas ergibt, daß zu den im „Vorbericht" angeführten
Schriften noch einige mittelalterliche englische Geschichtschreiber hinzuzufügen sind.
Die Quellen selbst sind z. T. ziemlich frei verwertet; besonders ist verschiedentlich
das Bestreben nachzuweisen, zur Erregung stärkerer Gemütsbewegungen einzelne Tat-
sachen aus anderen Zusammenhängen auf die Figuren des Dramas zu übertragen.
Mit Lessing wird die Aufklärung auf den Höhepunkt ihrer Ent-
wicklung geführt. Seiner Bedeutung entsprechend beschäftigt sich auch
im Berichtszeitraum eine ganze Reihe von Arbeiten direkt oder indirekt
61
mit ihm. Allen voran aber sind zwei Erscheinungen zu nennen. Mit
den beiden 1915 und 1919 erschienenen Teilen des 22 Bandes seiner
Lessingausgabe schließt Franz Muncker die Arbeit eines vollen Menschen-
alters ab! 1886, als dritte Auflage der ursprünglich von Karl Lach-
mann herausgegebenen und in zweiter Auflage von Maltzahn verschlech-
terten Ausgabe begonnen, lagen bis 1 907 bereits 21 Bände vor. Der Schluß -
band bringt nunmehr die Berichtigungen und Nachträge zu den voraus-
gegangenen Bänden und ein Verzeichnis aller irgendwie beachtenswerten
Drucke Lessingscher Schriften. Damit ist für alle - Lessingforschung
nunmehr die abschließende und bleibende Grundlage gegeben. Das in
Aussicht gestellte ausführliche Namen- und Sachregister, das die Be-
nutzung der Ausgabe wesentlich erleichtern und ihre Brauchbarkeit el*-
höhen soll, wird hoffentlich nicht mehr lange auf sich warten lassen. —
Mit W. Oehlkes zweibändigem Werk „Lessing und seine Zeit" reiht
sich der auch heute noch wertvollen Lebensbeschreibung Th. W. Danzels
(1850 — 53) und Erich Schmidts Meisterdarstellung eine dritte biogra-
phische Schilderung an, die dem „scheinbar so Spröden, Unpersönlichen*'
zuförderst „von der rein menschlichen Seite" sich nahen will. Im
Sinne des vorangestellten Mottos aus Dichtung und Wahrheit sucht
Oehlke den Menschen Lessing in seinen Zeitverhältnissen darzustellen
und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt , inwiefern es ihn
begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet
hat, und wie er sie nach außen abspiegelt, womit gleichzeitig eine Kultur-
und Geistesgeschichte des Lessingschen Zeitalters gegeben wird. In ge-
schickter und sicherer Gliederung wechseln zeitlich und örtlich bedingte
Abschnitte (Heimat, Vaterhaus und Schule, Universität usw.) mit abge-
rundeten Kulturbildern ab, die sich um Gruppen Lessingscher Werke
oder Höhepunkte seines Schaffens (In der Schule der Weltliteratur. —
Die Umgestaltung des dichterischen und religiösen Lebens. — Der Sieben-
jährige Krieg. — Minna von Barnhelm usw.) ordnen und den Zeitungs-
schreiber und Kunstrichter, den Gelehrten und Dichter, insonderheit
aber den Menschen Lessing wirklich lebendig werden lassen, wozu
die flüssige Darstellungsweise ihr Teil beiträgt. Die über hundert
Seiten umfassenden Anmerkungen bieten besonders kulturgeschichtliche
Nachweise und machen die wertvollsten neueren Schriften zur Lessing-
literatur namhaft.
Mit Lessings Minna von Barnhelm eröffnet E. Meyer- Beufey eine Samm-
lung, die ästhetisch hervorragende, ausnahmsweise auch historisch bedeutsam ge-
wordene Dramen der verschiedenen Völker mit besonderer Betonung der deutschen
aus allen Zeiten bis zur Gegenwart behandeln soll. Die tief schürfende, freilich
auch nicht selten zu sehr in die Breite gehende analytische Beti achtungsweise dieses
Autors ist aus seinem großen Kleistwerke wie aus seiner Einzeluutersuchuug der
Hebbelschen Judith zur Genüge bekannt. — K. Behschnitt behandelt in einer
Breslauer Dissertation „Lessings Ansichten von der deutschen Sprache" (191G) und
kommt zu dem Ge.samturteil , daß Lessing auf dem Gebiete der Grammatik und der
Etymologie wenig über den allgemeinen Standpunkt der Zeit hinauszukommen ver-
mochte, daß er dagegen in stilistischen Fragen durch den Kampf gegen den über-
mäßigen Fremdwortgebrauch der Zeit, durch den Hinweis auf die Ausdruckskraft von
gcwis.sen Provinzialismen, durch die Betonung von Kürze, Klarheit und "Wahrheit und.
62
besonders durch das Vorbild seiner eigenen Prosa fördernd eingewirkt habe. — Eine
Züricher Dissertation von R. Dikenmann (1915) mit dem Titel „Beiträge zum Thema
Diderot und Lessing" weist in einer Reihe von Parallelen auf die engen Beziehungen
zwischen den Gedankengängen Diderots und Lessiugs hin, aus denen die starken An-
regungen, die der Begründer der deutschen Ästhetik von dem französischen Kunst-
feuilletonisten erfahren hat, deutlich werden, zugleich aber auch die Selbständigkeit
Lessings in der Lösung der Probleme hervortritt.
Während sich die eben genannten Arbeiten verschiedenen ab-
gegrenzten Sonderfragen zuwandten, gruppiert sich eine ganze Reihe
von z. T. tiefeindringenden Untersuchungen um einen der Zentralpunkte
Lessingscher Weltanschauung: den Toleranzgedanken. In ihm gipfeln
die beiden Beantwortungen, die das von der Mendelssohn-Toleranzstiftung
gestellte Thema: „Der Toleranzgedanke in der deutschen Literatur zur
Zeit Moses Mendelssohns" erhalten hat (1914). J. Horowitz erörtert,
nachdem er einleitend den Toleranzgedanken aus den religiösen Ten-
denzen des Deismus und der Aufklärung abgeleitet hat, Lessings, Men-
delssohns, Herders, Kants und Schillers Stellungnahme; A. Wolffs
Arbeit dagegen, die denselben im Preisthema festgelegten Titel trägt,
stellt einen ersten Versuch dar, eine Entwicklungsgeschichte des Toleranz-
gedankens aufzuzeigen, der mit dem Auftreten Lessings seinen Höhe-
punkt und seine endgültig abschließende Formulierung erreicht. — Auch
T. C. van Stockums Abhandlung „Spinoza — Jacobi — Lessing"
(Groningen 1916) kommt auf die Schilderung einer Art von Betätigung
des Toleranzprinzips heraus, indem sie die alte Streitfrage der großen
Literaturfehde der Mitte der achtziger Jahre, den „Pantheismusstreit",
in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung stellt, mit dem Resultat, daß
der Lessing der siebziger Jahre vielfach unter dem Einflüsse Spinozas
stehe, aber doch nicht Spinozist in unserem modernen Sinne gewesen
sei. — Endlich liegen auch alle religiösen Bestrebungen Lessings nach
ihrer positiven Seite hin in der erstrebten Stärkung des Toleranz-
gedankens. Auf diesem Gebiete legt G. Fittbogen verschiedene ein-
gehende Untersuchungen vor. In seiner Halleschen Dissertation „Die
Religion Lessings" versucht er eine neue Deutung der Ringparabel: sie
sei eine Weissagung auf die kommende Menschheitsreligion, welche die
positiven Religionen überwinden wird. Damit lehnt er auch die Be-
zeichnung des Dramas als Toleranzdrama ab, da es sich nicht mehr
um gegenseitige „Duldung" verschiedener Religionen handle, sondern,
die (aufgeklärten) Glieder verschiedener Religionsgemeinschaften in Wirk-
lichkeit Anhänger derselben Humanitätsreligion seien. Das Kapitel der
Dissertation über „Reimarus' Religion" wurde im Juniheft 1918 der
Preußischen Jahrbücher unter der Überschritt „Lessings Entwicklung
bis zur Bekanntschaft mit Reimarus" in einer Inhalt und Stil der Rei-
marusschen Schrift klar kennzeichnenden Abhandlung fortgeführt, die her-
vorhebt, wie Lessing hauptsächlich die negative Kritik positiver Glaubens-
dokumente bei Reimarus zu schätzen wußte, selbst aber in den Wolfen-
büttler Fragmenten über den Deismus und die natürliche Religion hinaus-
wuchs, um damit sowohl der Begründer der Religionswissenschaft als
der Dichter des Nathan zu werden. Ob dieser Aufsatz Fittbogens ebenso
63
wie die Darstellung von „Leasings Anschauung über die Seeleuwandrung"
(G. R. M. 1914, 6;i2/55) Teile des in der Dissertation angekündigten
Gesaratwerkes darstellen, vermag ich nicht zu überblicken, da ich nicht
festzustellen vermag, ob die ganze Arbeit bisher im Druck erschienen ist.
Adolf Bartels' "Werk „Lessiiig und die Juden" stellt auf fast 40t) Seiten alles
irgendwie unter diesen Gesichtspunkt Fallende zusammen , wobei es sich besonders
mit Erich Schmidt einerseits und Dühring andrerseits auseinandersetzt. Das Buch
ist natürlich im Sinne der bekannten antisemitischen Tendenz des Verfassers ge-
schrieben, versucht aber, sich in den Grenzen sachlicher Erwägungen zu halten, so
daß es gleichfalls einen Beitrag zur Geschichte des Toleranzgedankens zu erbringen
vermag.
Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch Wolfgang Liepes
Werk „Das Religionsproblem im neueren Drama von Lessing bis zur
Romantik" (Halle 1914) mit Auszeichnung genannt, das scharfsinnig
und klar in flüssigem Stil und einprägsamer Formulierung die hervor-
ragenden Dramen dieser Epoche auf ihre Stellung zur positiven Religion
untersucht und den Entwicklungsgang des religiösen Geistes vom reinen
dogmenlosen Vernunftglauben der Aufklärung über das klassische Evan-
gelium der Humanität zur persönlich erlebten Religion der Romantiker
verfolgt. Vielleicht ist die Aufklärung etwas zu einseitig vom Stand-
punkt der Romantik aus eingeschätzt; auch die Einteilung der Romantik
in drei Entwicklungsphasen ist nicht ganz frei von Konstruktion. Als
Ganzes aber sowie besonders in der Charakteristik Zacharias Werners,
dessen geistesgeschichtliche Bedeutung hier zum erstenmal eingehend zur
Geltung gebracht wird und dessen Dramen eine musterhafte Analyse
erfahren, gehört das Buch mit zu den beachtungswertesten Neuerschei-
nungen der letzten Jahre.
Wenn die Wielandforschung immer noch auf weite Strecken hin
unbebautes Feld aufweist, so liegt dies in erster Linie an dem Fehlen
einer kritischen Gesamtausgabe, da die von der deutschen Kommission
der preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen „Ge-
sammelten Schriften", die nach Seufferts sachkundigen und ziel-
sicheren „Prolegomena zu einer Wieland - Ausgabe " (Abhandlungen
der Berhner Akademie d. W. 1904 — 1909) auf etwa fünfzig starke
Bände berechnet sind, heute erst in neun Bänden vorliegen. Im Be-
richtszeiträume sind von der ersten Abteilung der „Werke" als vierter
Band die prosaischen Jugendwerke, hrsg. von F. Homeyer und Hugo
Bieber (1916), erschienen, die eine Fülle neuen Materials besonders zu
den Kämpfen der Schweizer gegen Gottsched und zu Wielands ana-
kreontischer Jugenddichtung erbringen. — Von den vorliegenden Eiuzel-
studien gibt die aus einer Straß burger Dissertation hervorgegangene
Arbeit von Emilie Marx „Wieland und das Drama" (1914) l]eißige
Analysen und Vergleichungen mit den Quellen sowie eine Darstellung
der Singspieltheorie Wielands, die aber mehr mit den Bestrebungen des
zeitgenössischen Musik- und Opernwesens hätte verknüpft werden
müssen. — Für „Wielands Gandalin" vermag die tüchtige Leipziger
Dissertation von R. G ermann (Probefahrten, 26. Bd., 1914) eine
Novelle Scarrons aus seinem Roman comique, betitelt „Histoire de
64
l'Amante invisible" als Quelle nachzuweisen, wobei eingehend die Arbeits-
weise Wielands aufgezeigt wird. — P. Groschwald unterzieht in
seiner Gießener Dissertation (1914) „Das Bild des klassischen Alter-
tums in Wielands Agathon" einer sorgfältigen Prüfung hinsichthch
der antiquarischen Richtigkeit der Schilderung der Landschaften und
Orte, des Volkscharakters, des staatlichen und religiösen, häuslichen
und gesellschaftlichen Lebens, wobei er zu dem Resultate gelangt, daß
Wieland durchaus geeignet war, ein historisch richtiges Bild dieses
Zeitalters zu geben. Das vereinzelte Vorhandensein unrichtiger An-
gaben beruhe nur zum kleinsten Teil auf Mangel an entsprechenden
Kenntnissen, sondern sei zur Erreichung künstlerischer Ziele vor-
genommen worden. — Handelt es sich bei diesen Untersuchungen um eng-
umkreiste Probleme, so ist IL Wahl s „Geschichte des deutschen Merkur"
(Palaestra 127, 1914) aus eingehendster Kenntnis eines vier Jahrzehnte
umspannenden Zeitraumes hervorgegangen. Die Arbeit verfolgt die Ent-
wicklung des Journalisten Wieland von seinen moralphilosophisch-
ästhetischen Anfängen über die antiklerikalen und antisupranaturalisti-
schen Kämpfe der achtziger Jahre bis zu seinen stegreifpublizistischen
und tagesschriftstellerischen Äußerungen in den Jahren nach der Revo-
lution. Durch die zahlreichen Charakteristiken der verschiedenen Mit-
arbeiter und ihrer Beiträge, sowie durch das Hineinstellen der Zeitschrift
in die journalistische Gesamtlage der Zeit gelingt es dem Verfasser,
nicht nur ein gutes Bild des literarischen Lebens zu entrollen, sondern
gleichzeitig ein Stück Zeitgeschichte zu anschaulicher Darstellung zu
bringen.
Dem österreichischen Nachahmer "Wielands, Joh. Baptiste von Alxinger, ist die
Dissertation K. Bullings (Leipzig 1914) gewidmet, die nach einer allgemeinen
Schilderung des damaligen geistigen Milieus in Wien dem Leben und den Werken
eine eingehende Untersuchung zuteil werden läßt, wobei die verschiedenen Verände-
rungen und Verbesserungen bei der Aufzeigung von Alxingers Stilprinzipien mit Ge-
schick verwertet werden. — Der ausgezeichnete Vertreter des Wiener Volksdramas,
Philipp Hafner, dessen Schriften bisher nur in der hundert Jahre zurückliegenden
seltenen Samleithnerschen Ausgabe zugänglich waren, ist in einer von E. Baum be-
sorgten schönen Ausgabe der Werke in den Schriften des literarischen Vereins in
Wien (1914 und 1915) nunmehr wieder weiteren Kreisen zugänglich gemacht worden.
Bisher sind zwei Bände in zeitlicher Anordnung der Werke mit der ganzen Willkür
und Mannigfaltigkeit der Erstdrucke erschienen, mit einer ausführlichen biographischen
Einleitung, die vielfach über die früheren Biographien von Wurzbach und Schlossar
hinauszukommen vermag und die treffend die literarische Eigenart dieses Vorgängers
Raimunds auf die Formel bringt : „uralter Wust der Hanswurstkomödie neben frischen
Anfängen eines neuen Volksdramas, platte Routine neben kräftiger Eigenart''.
Mit Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nicolai nimmt die
Aufklärung ihren Kampf gegen die neue Richtung der Empfindsamkeit
und des Sturmes und Dranges auf. Zu diesem Thema liegen zwei
wertvolle Arbeiten vor. R. Kleineibst untersucht auf Grund um-
fassender Lektüre der Schriften, Briefe und Tagebücher „G. Ch. Lichten-
berg in seiner Stellung zur deutschen Literatur" (Straßburg 1915). In
vier Kapiteln werden nicht nur die verschiedenen Beziehungen dieses
geistreichen Aphoristikers (der erst durch Leitzmanns in fast zehnjähriger
"Wissenschaftliche Forschungsberichte VIII. 5
65
Arbeit fertigf];estellte mühevolle Ausgabe seiner Aphorismen in die rechte
literarische Beleuchtung gerückt worden ist) zu den schriftstellernden
Zeitgenossen zur Darstellung gebracht, sondern auch eingehend die
Gründe dieser Stellungnahme aufgezeigt. Lichtenberg blieb eben allen
Erscheinungen gegenüber der kühle, scharfblickende Rationalist, der
jedem Aufklärerischen freundlich, allem Genialen, Empfindsamen,
Schwärmerischen feindlich gesinnt war. So wurde er zum laudator
temporis acti, zum Verteidiger der Geliert, Rabener, Gottsched, Ramler,
Nicolai usw. und zum heftigen Gegner Klopstocks, des Hains und vor
allem des jungen Goethe sowie alles religiösen und wissenschaftlichen
Schwärmertums, wie es sich ihm besonders in Lavater, Zimmermann,
Hamann und Jakob Böhme verkörperte.
Die Arbeit von V. Bouiller „G. Ch. Lichtenberg. Essai sur sa vie et ses
OBUvres" (Paris 1914) war mir nicht zugänglich.
In dieselbe geistige Atmosphäre führt M. Sommerfelds durch
sachliche Gründlichkeit wie Klarheit und Übersichtlichkeit gleich aus-
gezeichnetes Werk „F. Nicolai und der Sturm und Drang", das aus
einer Münchener Dissertation (1918) hervorgegangen nunmehr in einem
Umfange von 400 Seiten vorliegt (Halle 1921). Nachdem die Einleitung
in systematischer Analyse die Grundlagen von Nicolais kritischem Ver-
halten festgelegt hat, wird seine Stellung zu Klopstock und dessen Kreis,
zu Hamann, Jacobi und Herder dargelegt. Ohne daß eine „Rettung"
Nicolais versucht wurde, erhellt doch, daß dieser durchaus nicht nur
als der unbedingte Gegner des Sturmes und Dranges anzusehen ist. Er
hat sehr wohl die künstlerische Bedeutung dieser literarischen Leistungen
einzuschätzen gewußt; in seiner weltanschaulich gebundenen Position
aber mußte er, besonders von der moralischen Seite her, zur Negation
gelangen. Sommerfeld hat den umfangreichen Nachlaß Nicolais ein-
gehend herangezogen und zeigt überall eine sichere Beherrschung des
ausgedehnten Materials, so daß sein Werk, aus derselben wissenschaft-
lichen Einstellung hervorgegangen wie Ungers Hamannbuch, eine wert-
volle Ergänzung zu diesem und einen weiteren Beitrag zur Geschichte
der deutschen Aufklärung bietet.
Schließlich sind in diesem Zusammenhange noch i-inige Untersuchungen zu er-
wähnen, die hauptsächlich der Erkenntnis des Prosastiles zugute kommen. Zu be-
giüßen ist es, daß R. Abekens trotz sorgfältiger Edition heute doch veraltete und nur
noch antiquarisch zu beschaffende Ausgabe der Werke Justus Mosers (1842 — 43) er-
.setzt werden soll durch eine von H. Schierbaum besorgte Ausgabe der „Gesammelten
Werke", von der aber (soweit ich sehen kann) erst der erste die „Patriotischen
Phantasien" umfassende Band vorliegt (München 1915). Die folgenden Bände sollen
den Briefwechsel Mosers mit seinen Zeitgenossen, die „ üsnabrückische Geschichte",
die Jugendwerke und kleineren Schriften bringen und von einem die Biographie,
Bibliographie, Kegister, Verzeichnisse und Beilagen enthaltendem Bande beschlossen
■werden. — „Justus Mosers Prosa" wird in einer tüchtigen Kieler Dissertation von
A. Lagin g (1915) sprachlich - stilistisch betrachtet. Von den zwei Hauptperioden
ihrer Entwicklung ist die erste (bis 1760) erfüllt von einer immer wachsenden Auf-
lehnung gegen die französische Mode, die aber erst in der zweiten in Theorie und
Praxis zum endgültigen Siege der Muttersprache führt. Dabei entwickelt sich diese,
schon von Anfang an verhältnismäßig frei von den alten Formen des Kanzleistils,
über den Konversationston hinaus zu frischer Volkstümlichkeit und rhetorischer Kraft
66
und bedeutet damit einen wesentlichen Fortschritt in der Erzäbliingskunst des 18. Jahr-
hunderts. — J. M. Bopps Arbeit „G. K. Pfeffel als Prosaschriftsteller'' (Einzel-
schriften zur elsässischen Geistes- u. Kulturgesch. H. 4) lag mir leider nur in dem
Teildruck der Straßburger Dissertation (1918) vor, aus dem für die Gesamterfassung
des Stoffes wenig zu ersehen ist. — F. Rummelt hat sich für seine Hallesche
Dissertation (1914) : ,,A. H. J. Lafontaine von den Anfängen bis zur Höhe seines
Schaffens 1785 — 1800'- verdienstüch und fleißig der Lektüre von zirka 200 Werken
dieses gelesensten Modeschriftstellers seiner Zeit unterzogen und wendet sich mit
guten Gründen gegen die allgemeine Auffassung, in Lafontaine immer nur den Ver-
fasser sentimentaler Familienromane zu erbücken. "Wenn man die Entwicklungsjahre
seines Schaffens von 1785 bis zum Höhepunkte um die "Wende des 18. Jahrhunderts
überblickt, so muß man seine Fähigkeit, in kurzen Novellen mit nur wenigen Per-
sonen gar nicht so üble dichterische Gebilde darzubieten, anerkennen, ebenso wie
seine pädagogischen Romane das rege Interesse an Rousseauschen Erziehungsgedanken
durchblicken lassen. In seinen historischen Romanen vollzieht sich dann allmählicli
der Übergang zum Familienroman, der aber ebenfalls bis 1800 nicht die durchweg
absprechende Beurteilung verdient. — Erwin Jahn untersucht „Die Volksmärchen
der Deutschen von J. K. A. Musäus" (Probefahrten 25, 1914) eingehend nach Stoff
und Form, nach der Stellung im Lebeu ihres Verfassers und in der Märchendichtung
der Zeit mit dem literarhistorischen Ergebnis, daß sie einmal als die wichtigste Er-
scheinung auf dem "S\^ege zu dem reinen Volksmärchen vor der Sammlung der Brüder
Grimm anzusehen sind, zugleich aber auf der anderen Seite eine Voraussetzung zur
Entstehung des romantischen Kunstmärchens bilden. — Für „Heinrich Zschokkes
Jugend- und Bildungsjahre (bis 1798)" vermag K. Günthers Züricher Dissertation
(1917/18) mannigfache Berichtigungen und wertvolles neues Material für die Grau-
bündener Zeit, besonders mit Hufe des Tscharnerschen Familienarchivs zu erbringen,
wobei auch die Schilderung von Umgebung und zeitgenössischen Zuständen gut ein-
geflochten wird und der junge Zschokke eine treffende Charakteristik als ehrgeiziger,
schaffensfreudiger, anpassungsfähiger und journalistisch begabter Jüngling erfährt, der
aber daneben wenig Originalität und keine tiefe künstlerische Begabung aufzuweisen hat.
§ 7. Empfindsamkeit und Sturm und Drang
Während die Aufklärung von ihrer einstigen beherrschenden Ober-
stellung zu einer die neuen Geistesströmungen nicht mehr verstehenden
und sie bekämpfenden Unterströmung herabgesunken war, die aber noch
weithin ihren Einfluß mehr oder weniger offen oder versteckt geltend
machte, war seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue junge Generation
und mit ihr eine neue Geistesrichtung auf den Plan getreten. Mit
ihrem vertieften Gefühlsleben und echter Leidenschaft beinflußte sie
als „Empfindsamkeit" und „Sturm und Drang" (zwei trotz des schein-
baren Gegensatzes innerlich eng zusammengehörende Erscheinungs-
formen) bald entscheidend das gesamte literarische Leben. Am An-
fange dieser neuen literarischen Epoche, die wenig später dann durch
Herder zu voller Entfaltung gebracht wurde, steht Klopstock, der in
der literarhistorischen Forschung — offenkundig im Zusammenhang
mit der expressionistischen Kunstanschauung der Gegenwart — nach
jahrzehntelang vielfach unzulänglicher Beurteilung eine Renaissance er-
fährt und endlich langsam in seiner entwicklungsgeschichtlichen Bedeu-
tung voll erkannt zu werden beginnt. Von den Klopstock gewidmeten
Arbeiten bringt A. Piepers Marburger Dissertation über „Klopstocks
Deutsche Gelehrtenrepubhk" (1915) nur eine fleißige Zusammenstellung
der Entstehungsdaten und eine systematisch geordnete Inhaltsübersicht. —
5*
67
Dagegen verdient die Arbeit von Emil Brooks mit dem Titel „Klop-
stocks ISilbenmaße des „gleichen Verses" (Kiel 1918) Beachtung. Er
sucht — ohne Rücksicht auf die heutigen metrischen Theorien — aus
Klopstocks eigenen metrischen Bemühungen und Ansichten die Gesetze
zu ermitteln, nach denen der Dichter die Strophen der Triumphgesänge
des Messias und den seit 1764 in den „neuen" Silbenmaßen gedichteten
Oden geformt hat, und kommt dabei zu dem interessanten Ergebnis,
daß die „Wortfüße", aus denen der Dichter sein neues Versmaß ge-
bildet hat, dieselben sind wie die des deutschen Hexameters. — Auch
H. Wo hl er ts Bemühungen, „Das Weltbild in Klopstocks Messias"
(Bausteine 14, Halle 1915) zur Darstellung zu bringen, können im
ganzen als wohlgelungen bezeichnet werden. In den einzelnen Ab-
schnitten: Himmel, Weltraum, Erde, Hölle, leerer Raum, menschliche
Seele wird nachgewiesen, wie der Dichter versucht, dem kopernikanischen
Weltbilde gerecht zu werden, ohne aber sich ganz dem Einfluß von
Bibel, Gnosis und mittelalterlich-theologischer Überlieferung entziehen zu
können. Mit Recht wird Erich Schmidts Annahme von der völligen
Unanschaulichkeit dieses Weltbildes zurückgewiesen als eine von dem
naturalistischen Wirklichkeitssinn der neunziger Jahre diktierte falsche
Fragestellung, die Klopstocks ganz auf Gefühl und Empfindung ge-
richtetem Streben niemals gerecht werden könne.
Wieweit F. H. Adlers New Torker Publikation „Herder and Klopstock. A
comparative study" (1916) die wertvolle Problemstellung des Titels in der Darstellung
zu erschöpfen vermag, kann ich leider nicht nachprüfen.
Diese von Klopstock angeführte Richtung löst sich vorwiegend in
zwei Zentren aus : der gemäßigten , noch vielfach in der Konvention
der Geßnerschen Idyllen und der Gleimschen Anakreontik befangenen
Göttinger Hain-Bewegung und der literarischen Revolution des südwest-
deutschen Sturmes und Dranges. Ehe auf diese beiden Gruppen und
ihre literarische Bearbeitung im einzelnen eingegangen werden soll, seien
einige Arbeiten angeführt, die sich dem Gesamtproblem zuwenden. Dabei
zeigt sich freilich, wie gefährlich es ist, wenn Erstlingsarbeiten ihr Ar-
beitsfeld zu weit abstecken und wie nahe Entgleisungen liegen, wenn
sie dabei nicht nur Stoffmassen zu bewältigen suchen, sondern die
geistigen Strömungen ganzer Perioden zu zusammenfassender Darstel-
lung bringen möchten. So sind denn auch von den vier Dissertationen,
die allgemeine Tendenzen der Sturm- und Drangperiode behandeln,
die Züricher Arbeit von J. Ernst, „Der Geniebegriff der Stürmer
und Dränger und der Frühromantiker" (1916) und die Leipziger
„Beiträge zur Ethik der Sturm- und Drangdichtung" von Ulrike Garbe
(1916) als wenig fördersam und im wesentlichen nur Bekanntes wieder-
holend abzulehnen. Dagegen führt H. Grußendorf in seiner Münchner
Dissertation „Der Monolog im Drama des Sturmes und Dranges" (1914)
in dankenswerter Weise Friedrich Düseis Abhandlung „Der dramatische
Monolog in der Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts und in den Dramen
Lessings" (1897) weiter durch die Sturm- und Drangperiode bis zu
Schillers Jugenddramen. Nach Aufzeigung der Unterschiede zwischen
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dem ängstlich die Wahrscheinlichkeit wahrenden, kühl abgezirkelten
Verstandesmonolog der Aufklärung und dem Monolog des Sturmes und
Dranges als lyrischer Ausdrucksform im Dienste der Charakteristik und
der Handlung untersucht das zweite Kapitel die Monologe des Götz und
der ßitterdramen, das dritte die Monologe der bürgerlichen Dramen von
Leisewitz, Goethe, Klinger, Lenz, Wagner, Maler Müller und der Jugend-
dramen Schillers, während das Schlußkapitel die Monologe des Urfaust
und der Goetheschen Satiren behandelt. Dabei werden die Monologe
stets im Zusammenhang mit der Eigenart des betreffenden Dramas, dem
Wesen des Dichters und dem Charakter der jeweiHgen Zeitströmung
gesehen, so daß tatsächlich in diesem Ausschnitt ein „Abbild der großen
Entwicklung der deutschen Poesie im 18. Jahrhundert" gegeben wird.
Eine wirkliche Bereicherung unserer Literatur dieses Zeitraumes
liegt auch in H. Schnorfs umfangreicher Züricher Dissertation „Sturm
und Drang in der Schweiz" (1914) vor. Hier wird zum erstenmal ein-
gehend nach den Gründen gesucht, warum in der Schweiz, trotz der
zahlreichen Beziehungen zu den deutschen Stürmern und Drängern,
trotz des regen geistigen Lebens dieser Jahre und trotz der vielfach
vorhandenen Sturm- und Drang- Stimmung, keine eigentliche Sturm-
und Drang -Dichtung nachzuweisen ist. Einmal sind es äußere Ver-
hältnisse mit der Zensur als schlimmster Feindin aller geistigen Ent-
wicklung an der Spitze; dann aber wurden — wie dies wohl nur in
einer Republik möglich ist — die besten Kräfte des Volkes, durch das
Bestreben der politischen Not der Zeit zu wehren, in einer Weise ab-
sorbiert, daß sie entweder, wie Füßli und Pestalozzi, in künstlerischer
Betätigung eine unnütze Spielerei erblickten, oder aber ihre Kunst in
den Dienst des Staates stellten und in erster Linie das Ideal des Bürgers
herauszuarbeiten suchten, der sich seiner Freiheit würdig erweist, indem
er sich dem Gesetz unterwirft, strenge Selbstzucht übt und ein brauch-
bares Glied des Staates wird. Neben diesen sorgfaltig aus weithin zer-
streutem Material zusammengearbeiteten allgemeinen Zusammenhängen
ist die dem bedeutendsten Schweizer Künstler dieser Zeit, Heinrich Füßh,
und seiner Stellung zu der neuaufblühenden deutschen Dichtung ge-
widmete, zum großen Teil auf der Verwendung bisher ungedruckten
Materials fußende Untersuchung besonders zu begrüßen.
Von den Mitghedern des Göttinger Hains hat das liebenswürdigste
und echteste Talent, Hölty, endlich eine kritische Edition seiner Werke
erhalten in der zweibändigen, von W. Michael besorgten Hölty- Aus-
gabe der Gesellschaft der Bibliophilen (Weimar 1914 und 1918). Der
erste Band bringt in chronologischer Anordnung die Gedichte und
Übersetzungen (mit Ausnahme von vier größeren Stücken), der zweite
Band gibt in seiner ersten Hälfte Rechenschaft über die Prinzipien der
Ausgabe sowie ein sorgfältiges Verzeichnis der Lesarten mit zahlreichen
wertvollen Hinweisen, während die zweite Hälfte Höltys Briefwechsel
(vorwiegend mit Voß, Miller und Boie) darbietet.
Merkwürdigerweise legt Georg Bormann diese Ausgabe nicht seinen „Bei-
trägen zum Wortschatze Höltys" (Dissertation Greifswald, 1916) zugrunde, im übrigen
69
besteht das einzig Brauchbare dieser einfach aneinandergereihten Auszettelarbeit höchstens
in dem ali)habetischen Register, das weiterer Forschung zugute kommen kann.
Mit den „Qellenstiidien zu J. H. Voß' Oden" von E. Meyen-
burg (Dissertation Berlin 1916) wird dagegen eine Lücke ausgefüllt,
da bisher neben dem Idyllendichter der Odensänger Voß noch kaum
eingehender beachtet worden ist. In erster Linie wird dabei das Ver-
hältnis zu Horaz und zu Klopstock in den gedanklichen, stilistischen
und metrischen Entlehnungen und Beeinflussungen aufgezeigt, während
die Beziehungen zur Bibel, zu Ramler, Homer, Virgil und Ovid, ent-
sprechend ihrer Ergiebigkeit, eine kürzere Behandlung erfahren.
Von F. L. Stolberg legt K. Lüffler (Münster 1918) eine bisher unbekannte
Psalmenübersetzung vor, die eine handschriftliche Fortsetzung der gedruckten Psalmen-
übersetzung des Hildesheimer Professors Joseph Gramer darstellt und in reimlosen
Versen von verschiedenen Silbenmaßen die Psalmen 78 — 150 in gewandter Über-
tragung als "Widmung für den Fürstbischof von Hildesheim wiedergibt.
Im weiteren Sinne gehört zu dieser Gruppe von Arbeiten auch
eine Reihe von Untersuchungen, die sich mit Persönlichkeiten befassen,
die in mehr oder weniger engem Zusammenhange mit dem Göttinger
Hain stehen. In erster Linie seien hier zwei biographische Darstel-
lungen genannt, von denen A. M. Wagners Gerstenbergbiographie
(Heidelberg 1920) leider erst mit ihrem ersten Bande vorliegt, aber
wenigstens bibliographisch verzeichnet sei. — W. Stammlers Lebens-
bild des Wandsbeker Boten Matthias Claudius (Halle 1915) dagegen
dürfte, wenigstens nach seiner biographischen Seite hin, abschließende
Bedeutung zukommen. Auf Grund reichen handschriftlichen oder bisher
unbekannt gebliebenen gedruckten Materials sind hier in sorgfältigster
Detailarbeit alle irgend erreichbaren Lebensdaten und Beziehungen zu-
sammengetragen und eingehende Analysen aller Schriften gegeben.
Stammler betont ausdrücklich, daß sein Werk das schöne Lebensbild
von Wilhelm Herbst nicht überflüssig machen wolle, sondern daß er es
hauptsächlich nach der literarhistorischen Seite ergänzen möchte. So
verfolgt er die Entwicklung von Claudius vom Redakteur einer unschein-
baren Tageszeitung bis zum ernsten religiösen Schriftsteller, von den
ersten jugendlich-konventionellen dichterischen Anfängen bis zum eigenen
originalen Ton, den er bis an sein Lebensende beibehielt. Besonders
sei auch auf die z. T. grundlegende Forschung bietenden Anmerkungen
verwiesen, deren Verwertung freilich leider durch das Fehlen des Re-
gisters (das der Verfasser wegen seiner Teilnahme am Kriege nicht
mehr anfertigen konnte) erschwert wird.
Nach der theologischen Seite bieten H. Loofs Ausführungen „Die religiösen
Anschauungen des Dichters Matthias Claudius" (Theologische Studien und Kritiken
1915, S. 173/223 u. 273/366) eine gute Ergänzung.
Von dem bedeutendsten Gesinnungsgenossen des Hains, Gottfried
August Bürger, liegt die ausgezeichnete mit reichhaltigen Anmerkungen
versehene „kritisch durchgesehene und erläuterte" Ausgabe der Gedichte
von E. ConsentiuB in zweiter vielfach verbesserter und vermehrter
Auflage (1915) vor. — W. Stammlers Ausgabe von „Bürgers Ge-
70
dicht Die Nachtfeier der Venus" (Lietzmanns Kl. Texte, H. 128, 1914)
ermöglicht durch die Vorführung der dreifachen Überarbeitung, die
Mitteilung der lateinischen Vorlage und der wichtigsten Belege zur Ent-
stehungs- und Textgeschichte einen guten Einblick in die Arbeitsweise
und Technik des Dichters. — Bürgers Übersetzungstätigkeit, der er
sich trotz aller Hemmungen durch die eigene starke Originalität immer
wieder zuwandte, sind zwei Arbeiten gewidmet. Mit weniger gutem
Gelingen gibt H. Fluck „Beiträge zu G. A. Bürgers Sprache und
Stil mit besonderer Berücksichtigung seiner Iliasübersetzung" (Dissertation
Münster 1914), indem er besonders die Archaismen Bürgers, sein Ver-
hältnis zur Sprache Klopstocks und zum niederdeutschen Sprachgut auf-
zeigt. — Eine sehr ansprechende textkritische und dramaturgische Wür-
digung von „G. A. Bürgers Macbeth -Bearbeitung" steuert dagegen
K. Kauenhovenbei (Dissertation Königsberg 1915), der aufgedrängtem
Raum in klarer Zusammenfassung die Entstehungsgeschichte und die
Wirkung der erfolgreichsten und für die Einführung Shakespeares in
Deutschland bedeutendsten vorschillerschen Bearbeitung in voller Ab-
rundung der bisherigen lückenhaften Kenntnisse vorführt.
Eine Ergänzung zu diesen beiden Untersuchungen bietet Adolfine Pevelings
Münsterische Dissertation über ..Bürgers Beziehungen zu Herder'- (1917), die in
ihrem zweiten Kapitel die Übersetzungen im Zusammenhang mit Herders Anregungen
betrachtet, wähi'end nach einer Erörterung des persönlichen Verhältnisses das erste
Kapitel den Einfluß Herders auf den Dichter untersucht und das letzte die Urteile
Herders über das literarische Schaffen Bürgers zusammenstellt.
Für die „literarischen Beziehungen zwischen den Erstlingsdramen
Klingers und Schillers" gibt eine ausgezeichnete Berner Dissertation
von A. Keller (1913/14) überzeugende Nachweise. In methodisch
einwandfreier Weise, mit feiner psychologischer Bewertung von bewußter
und unbewußter Anlehnung und über dem Stoffe stehender kritischer
Beherrschung reicher Literatur wird zunächst die Vorgeschichte und
die literarhistorische Stellung von Klingers „Otto" aufgezeigt; daran
anschließend werden die hterarischen Beziehungen zu den „Räubern"
nach den äußeren Daten sowie den inneren Beziehungen untersucht,
wobei die gemeinsamen Elemente in der Charakteristik des Intriganten,
der Väter, der Frauen und der Helden herausgearbeitet werden, mit
dem Ergebnis, daß das Klingersche Erstlingswerk unbedingt unter die-
jenigen Dramen einzureihen ist, die als Übergang zu den Räubern
betrachtet werden müssen.
Elsa Sturms Freiburger Dissertation (1916) „F. M. Klingers philosophische
Romane", die kurze Analysen unter den Oberabteilungen „Abenteurerromane'' und
„BUdungsromane" aneinanderreiht, vermag kaum etwas Neues zu tieferer Kenntnis
dieses zehnbändigen Romanzyklus beizutragen.
Mit Schubart findet die neue Dichtung ihren Weg nach Süddeutsch-
land. Durch ihn wird der Klopstocksche Enthusiasmus nach Schwaben
verpflanzt; er ist der wichtigste unter denjenigen, durch welche diese
Stimmung dann auf den jungen Schiller überging. Diesem Banner-
träger und begeisterten Herolde Klopstocks ist W. Brüstles Münchner
71
Dissertation „Klopstock und Schubart" (1917) gewidmet. Der erste
Teil der Arbeit gibt eine ausführliche historisch - chronologische Dar-
legung der menschlichen Beziehungen, wie sie aus den brieflichen und
autobiographischen Äußerungen Schubarts, aber auch aus den Äuße-
rungen in der „Deutschen Chronik" und in der „Vaterlandschrouik"
deutlich werden und in diesem Umfange bisher noch nicht erkannt
worden sind. Der zweite Teil untersucht den Einfluß der Gedanken-
und Emptindungswelt Klopstocks auf die Schubartschen Gedichte. —
Neben dem Dichter Schubart ist es von je der Chronikschreiber, der
Kämpfer für geistige und politische Freiheit, für künstlerische und
dichterische Ideale, der Gefangene von Hohenasperg, der Märtyrer der
politischen Publizistik gewesen, dem sich das Interesse der Zeitgenossen
wie der folgenden Generationen zugewandt hat. Für das Thema „Chr.
Fr. D. Schubart als politischer Journalist" liegt nunmehr eine erfreu-
liche Tübinger Arbeit von F. Schairer (1914) vor, die die Deutsche
Chronik von 1774/77 und die in Stuttgart herausgegebene Chronik von
1787/91 eingehend untersucht und damit nicht nur das Bild eines der
bedeutendsten deutschen JournaHsten zeichnet, sondern einen wertvollen
Beitrag zu einer Geschichte der Journalistik im 18. Jahrhundert liefert.
Den Arbeiten über J. M. R. Lenz fehlt immer noch eine kritische
Grundlage der Werke und eine eingehende wissenschaftliche Lebens-
beschreibung. Diesen Mangel vermag auch die von E. Lewy besorgte
Ausgabe der „Gesammelten Schriften von J. M. R. Lenz" (Leipzig 1917)
nicht zu beheben, da sie, ohne allen kritischen Apparat, nur das bringt,
„was noch lebendig ist an Lenz" und „das psychologisch Interessante"
auswählt. Immerhin ist sie der Ausgabe von Fianz Bley (München
1910 ff.) vorzuziehen. — Für eine zukünftige Biographie liegt in der
schönen Publikation „Briefe von und an J. M. R. Lenz" von K. Fr eye
und W. Stammler ein reiches Forschungsmaterial vor, das von K. Freye
in langer Vorarbeit gesammelt von Stammler allein zu Ende geführt
werden mußte; der Tod in Feindesland hat dem genauesten Kenner des
Dichters die Feder aus der Hand genommen, die sein Leben zu be-
schreiben am berufensten gewesen wäre.
In dankenswerterweise sucht eine Erlanger Dissertation (1917) von Ilse Kaiser
eine gerechtere "Würdigung der drei eng zusammengehörigen Dramen „Die Fi'eunde
machen den Philosophen'-, „Der Engländer" und „Der Waldbruder" anzubahnen,
indem sie — methodisch in der Art von Sarans „Bausteinen" geschult — nach einer
eingehenden Analyse der einzelnen Charaktere den Gedankengehalt der drei Dramen
aufzeigt und in der Liebe den Mittelpunkt alles Geschehens nachweist. Damit werden
diese Dichtungen aus der bisher einseitigen Verarteilung als pathologische Erschei-
nungen über das persönlich Erlebte hinaus zu Äußerungen des Sturmes und Dranges,
was besonders deutlich bei einem Vergleich mit Rousseaus Neuer Heloise hervor-
tritt. — Wertvoll ist auch die Veröffentlichung der bisher nur durch einen Brief
an Jacobi bekannten Schrift Lenzens „Briefe über die Moralität des jungen Werthers",
die von L. Schmitz-Kallenberg aufgefunden und herausgegeben wurde (Münster
1918).
Der eigentliche Führer und Begründer der Sturm- und Drangbewegung
ist Herder, in dessen Jugendschriften sich die Ideen und Tendenzen der
Geniezeit am eindringlichsten und wirksamsten verkörpern. Doch liegen
72
über diese Epoche seines Lebens und Schaffens keine Sonderstudien vor.
Dagegen gibt G. Schmidt in seiner Berliner Dissertation „Herder
und August Wilhelm Schlegel" (1917) einen erwünschten und wohi-
gelungenen Beitrag zu dem großen noch ungeschriebenen Werke „Herder
und die Romantik". Nachdem einleitend der Geschichte ihrer persön-
lichen Beziehungen nachgegangen ist, wird die Übernahme Herderscher
Ideen in A, W. Schlegels Schriften untersucht, sowie ihre nachhaltige
Wirkung auf das gesamte Denken und Schaffen des Romantikers ein-
gehend zur Darstellung gebracht. Dabei wird im Gegensatz zu Walzel,
der angesichts der feindlichen Stellung der Romantiker zu Herder nur
eine mittelbare Kenntnis Herderscher Schriften anzunehmen geneigt war,
für A. W. Schlegel eine „durch gründliches Studium genau erworbene
Kenntnis" nachgewiesen, deren inhaltlicher und formaler Einfluß auf
Schlegels historische Methode und Geschichtsauffassung, auf seine Kunst-
lehre, seine kritische Tätigkeit, seine sprachlichen, stilistischen und metri-
schen Bestrebungen aufgezeigt wird. — Als Ergänzung zu A. Koschmieders
Arbeit „Herders theoretische Stellung zum Drama" (Bresl. Beitr. 35, 1913)
behandelt A. Treutiers Buch mit dem Titel „Herders dramatische
Dichtungen (ebd. H.45, 1915) die gesamten praktischen Versuche Herders
auf dem Gebiete des Dramas sowie der Kantaten und Oratorientext-
dichtungen. Ob es freilich eines gar so umständlichen Verfahrens be-
durft hätte, um nachzuweisen, daß Herder kein dramatischer Dichter
sei, mag billig " bezweifelt werden. Doch muß die Herder- Forschung die
Mitteilung ungedruckter Skizzen aus der Berliner Bibliothek begrüßen.
Eine philosophische Dissertation von Elisabe th Ho ff art über „Herders ,Gott'"
(Erlangen 1917, vollständig: Bausteine XVI. Bd.), untersucht dieses schöne, für das Ver-
ständnis der „ Ideen "' sowohl wie der Persönlichkeit Herders überhaupt so wichtige Spinoza-
gespräch, indem sie die von Herder hier entwickelte Weltanschauang unter den Gesichts-
punkten : Gottesbegriff, Natur, Mensch, Erkenntnistheoretisches und Gottesbeweise ana-
lysiert und ihre Abweichung von Spinozas Anschauungen, sowie ihre Beziehungen zu
Leibnizschen und Shaftesburv'schen Ideen darlegt. — Gleichfalls von fachphilosophischer
Seite augeregt ist W. Sturms ßreslauer Dissertation „Herders Sprachphilosophie in
ihrem Entwicklungsgangund ihrer historischen Stellung '-(1917). Nach einem kurzen Über-
blick über die Entwicklung der vorherderschen Bestrebungen wird das fast zwei Jahr-
zehnte umfassende sprachphilosophische Interesse Herders verfolgt mit seinem wider-
spi-uchsvollen dilettantenhaften Hin- und Herschwanken, das zu keiner Klarheit kommen
konnte, so daß der positive Gewinn für die unmittelbare Förderung des Problems
nicht aUzu hoch zu veranschlagen ist. Doch hebt die tiefere Auffassung vom AVesen
des Menschen und der Sprache Herder weit über seine Vorgänger, und hier hat er
zuerst die Bahn eingeschlagen, auf der sich die spätere Sprachphilosophie weiter ent-
wickelt hat, wie er denn überhaupt durch seine Behandlung sprachphilosophischer
Probleme die Diskussion darüber erst recht eigentlich in Fluß brachte. — Zwei
umfangreiche ausländische Arbeiten können leider nur bibliographisch verzeichnet
werden: A. Bessert, Herder, sa vie et son oeuvre (Paris 1916) und I. M. Andress,
Herder as an educator (New York 1917).
Wie Herder dem deutschen Sturm und Drang die Wege gewiesen
hatte, so sollte er auch Offenbarer und Erwecker dessen werden, was
in dem jungen Schweizer Lavater aus der verständigen Nüchternheit
und stofflich befangenen Religiosität seiner Züricher Umgebung nach
Ausdruck rang. Diesen „Sturm und Drang Lavaters im Zusammen-
73
hang seines religiösen Bewußtseins'^ sucht C. Janentzky in einer an
Ungers Hamannbuch geschulten umfangreichen und weitblickenden Unter-
suchung zur Darstellung zu bringen (Halle 1916). Historisch- genetisch
vorwärts schreitend zeigt J. in den ersten vier Kapiteln die Entwick-
lung Lavaters von jener Sammlung seiner Briefe an J. G. Zimmermann
in den „Aussichten in die Ewigkeit" über Herder zu der Höhe der
Physiognomischen Fragmente auf, die wie Herder ein neues Menschen-
tum predigen : einen christlichen, ästhetisch-religiösen Pantheismus. Nach-
dem dann in den folgenden Kapiteln die Gründe dargelegt sind, die
zunächst den Bruch mit Herder, dann die Entfremdung Goethes ver-
anlassen, werden besonders eingehend die Beziehungen zu Jacobi und
die Magielehre behandelt, während der Schluß eine Reihe von Urteilen
verzeichnet und Linien der Fortwirkung andeutet. Vielleicht ist Lavater
etwas zu sehr auf dieselbe Linie mit Jacobi gestellt, vielleicht hätte der
spezifisch schweizerische Einschlag sowohl als Staramescharakter wie
im Sinne der früher erwähnten Arbeit von H. Schnorf „Sturm und
Drang in der Schweiz" stärker herausgearbeitet werden können, womit
dann auch eine leise durchklingende Überschätzung Lavaters als Ver-
treter der neuen Zeitideen auf das gebührende Maß eingeengt worden
wäre. Ln ganzen aber liegt hier eine entwicklungsgeschichtHche Leistung
vor, die warm begrüßt werden muß.
§ 8. Klassizismus
Die Aufgaben und Ziele des vorliegenden Literaturberichts bringen
es mit sich, daß die Berichterstattung nicht in allen Perioden der lite-
rarischen Entwicklung mit der gleichen Vollständigkeit vor sich gehen
kann. In Zeitaltern, wo die Forschung verhältnismäßig selten ihren
Spaten ansetzt, gewinnt auch die kleinste Neuerscheinung und eine viel-
leicht nicht allzu belangreiche Dissertation als Beitrag zu der noch
wenig vorgeschrittenen Erkenntnis ihre Bedeutung. Dagegen liegt es
auf der Hand, daß in den Epochen, denen die Forschung wegen ihrer
ästhetischen und entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung besonders starkes
Interesse entgegenbringt, aus der Fülle der neuerschienenen Literatur
eben nur das mehr oder weniger Wichtige und Fördersarae zur Be-
urteilung herausgehoben werden kann, während im übrigen auf die hier
schon verschiedentlich vorhandenen Sammelkritiken verwiesen werden
darf. Vgl. besonders die folgenden Goethereferate:
Literari-sches Echo, Jahrgang 18 und 20. — Zeitschrift für den deutschen Unter-
richt, Jahrgang 1914, 1916, 1918, 1919. — Österreichische Rundschau 76, 36 u. 37. —
Stimmen der Zeit 68, 8. — Goethe Jahrbuch 1917 u. a.
Bei einem Gesamtüberblick über die G o e t h e literatur der letzten
Jahre werden zwei Tendenzen der Forschung deutHch. Einmal das
Streben nach möglichst vollständiger philologisch-historischer Erschließung
der Quellen, andererseits das Suchen nach einer Synthese der von der
letzten Forschergeneration geleisteten Einzelarbeit. Beide Mühungen
haben wertvollste Resultate aufzuweisen.
74
Im Jahre 1914 ist der Schlußstein zu dem gewaltigen, 1887 be-
gonnenen, nahezu 150 Bände umfassenden Bau der großen Weimarer
Goetheausgabe gelegt worden, an der fast alle hervorragenden Goethe-
forscher mitgewirkt haben Mit Band 53 der I. Abteilung ist 1914,
von J. Wähle herausgegeben, der letzte Textband erschienen mit wich-
tigen, zum Teil ungedruckten Nachträgen, darunter 66 dem Kreise der
venezianischen Epigramme angehörigen Gedichten, sowie Berichtigungen
und Zeugnissen in bezug auf Goethes amtliche Tätigkeit. Ebenso sind
nunmehr die Registerbände (Bd. 54 und 55 der I. Abt., Bd. 14 der II. Abt.,
Bd. 14 und 15, 1 und 2 der III. Abt.) in unendlich mühsamer und
-entsagungsvoller Arbeit von M. Hecker zu Ende geführt worden. —
Gleichfalls seinen Abschluß erreichte nach zwanzigjähriger hingebungs-
voller, bewundernswert zuverlässiger Arbeit Hans Gerhard Grafs Haupt-
werk „Goethe über seine Dichtungen", dessen neunter Band (Frankfurt
1914) die Äußerungen über die lyrischen Dichtungen aus den Jahren
1827/32 umfaßt, dazu ein über 250 Seiten füllendes Register über die
Gedichtanfänge, Überschriften, Gruppen und Sammlungen, die Namen
von Personen und Orten sowie sachliche Stichworte bringt und eine Reihe
aufschlußreicher Tabellen enthält. Am wichtigsten ist eine chronologische
Aufzählung sämtlicher lyrischen Gedichte Goethes, deren philologische
Exaktheit ihre schönste lebendige Ergänzung findet in der ersten chronolo-
gisch geordneten Ausgabe von „Goethes lyrischen und epischen Dichtungen"
(2 Bde., Leipzig 1916), die Graf im Rahmen der Großherzog Wilhelm-
Ernst- Ausgabe des Inselverlages darbietet. — Wie hier die Gesamtheit
des lyrischen Schaffens Goethes in ihrer historischen Entwicklung uns
plastisch vor Augen tritt, so gab P. Merker in seinem Buch „Von
Goethes dramatischem Schaffen" (Leipzig 1917) erstmalig eine Vor-
stellung davon, welche Bedeutung der üramatischen Produktion inner-
halb Goethes Lebenswerk zukommt. Unter Ausschluß der vollendeten
oder in einer endgültigen Fassung vorliegenden Bühnenspiele kommen
hier nicht weniger als 73 „dramatische Vorstufen, Fragmente, Pläne und
Zeugnisse" auf 653 Seiten zum Abdruck, darunter neben Bekanntem
auch vielfach Entwürfe und Skizzen, die bisher allein in der großen
Weimarischen Ausgabe an auseinandergezogenen Stellen zum Abdruck
gelangt waren, hier aber in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Folge
aneinandergereiht sind. So darf das Buch, dessen Einleitung über alle
diese größeren und kleineren dramatischen Versuche und Schnitzel näheren
Aufschluß zu geben sucht, vielleicht nach den Worten eines Kritikers
als „erwünschte Ergänzung zu jeder Goetheausgabe" angesprochen
werden.
Von besonderer Bedeutung ist das Hervortreten mehrerer großer Brief-
wechsel. Der „Briefwechsel des Herzogs-Großherzogs Carl August mit
Goethe" (Berlin 1915/18), der die vierte Abteilung eines großen Quellen-
werkes „Carl August, Darstellungen und Briefe zur Geschichte des wei-
marischen Fürstenhauses und Landes" bilden soll, dessen krönende
Biographie sich der Gesamtherausgeber Erich Marcks vorbehalten hat, liegt
in drei Bänden, von Hans Vx'^ahl herausgegeben, abgeschlossen vor. Leider
75
sind gerade für die menschlich bedeutsamsten Jahre bis 1792 von Goethe
alle Briefe des Herzogs vor der dritten Reise in die Schweiz verbrannt
worden, aber in den über 1200 Briefen, in denen ein halbes Jahrhundert
an dem Leser vorüberzieht, ist eine Fülle geschichilichen und kultur-
geschichtlichen Materials ausgebreitet, das durch sachkundige knappe
Anmerkungen des Herausgebers gestützt wird. V/ährend Goethe selbst
nicht in wesentlich neuem Lichte erscheint, tritt die Gestalt Carl Augusts
dagegen deutlicher als bisher in der überragenden Bedeutung seiner
menschlichen und fürstlichen Persönlichkeit hervor. — Von dem aut
mehrere Bände berechneten „Briefwechsel mit H. Mayer", der von
Max Hecker besorgt in den Schriften der Goethegesellschaft publiziert
wird, hegen bisher zwei Bände (Weimar 1917 und 1919) vor, die Jahre
1788 — 1820 umfassend. Wenn auch arm an persönlichem Gedanken-
austausch, so ist der Inhalt dieser fast ausschließlich Fragen der Kunst
und wissenschaftlichen Bestrebungen gewidmeten Briefe für die Liter-
aturgeschichte sowohl wie auch für die Altertumswissenschaft doch von
größtem Belang. Heckers Einleitung zeichnet mit schöner Wärme das
sympathische Bild des lange so stark unterschätzten tüchtigen Schweizers.
Die wegen der Kriegsverhältnisse auf den Schlußband verschobenen
Anmerkungen werden das Werk erst völlig zu erschließen wissen. —
In denselben bewährten Händen liegt auch die Herausgabe des für
die letzten Jahrzehnte des Dichters besonders ertragreichen „Briefwechsels
zwischen Goethe und Zelter", von dessen geplanten vier Bänden bis
heute aber erst die beiden ersten den Jahren 1799 — 1827 gewidmeten
Teile erschienen sind (Leipzig 1913 und 1915). — Gleichfalls von Max
Hecker ist die gründliche Umarbeitung des 1908 von Ph. Stein ver-
öffentlichten Briefwechsels mit Marianne von Willemer (Leipzig 1915)
vorgenommen worden, der den Bestand an Dokumenten vielfach ver-
mehren und den Wortlaut zum Teil erheblich bessern konnte , und der
vor allem einen völlig neuen über die Ergebnisse der bisherigen For-
schung weit hinausführenden Kommentar hinzufügt. Zu bedauern ist
nur, daß die von Heck er aus dem Bestände des Goethe- und Schiller -
archivs mitgeteilten „Dreizehn Briefe Mariannens von Willemer an
Goethe" (Goethe - Jahrbuch 1915) nicht dem Briefwechsel eingereiht
werden konnten. — Ein überraschend wertvolles Material , wohl das
kostbarste, was seit langer Zeit aus Goethes Lebenskreise zugänglich
geworden ist, hat H. G. Graf mit der Veröffentlichung von „Goethes
Briefwechsel mit seiner Frau" (Frankfurt 1916) erschlossen. Hundert
Jahre nach dem Tode Christianens räumt dieser Briefwechsel (35-4 Briefe
von Goethe, 274 von Christiane) mit einem Schlage den ganzen
Wust von Schmähungen und Verdächtigungen hinweg, den Haß, Neid
und kleinstädtische Klatsch- und Tratschsucht um diese Ehe gehäuft
haben. Klar und gütig mit feinstem psychologischen Verständnis geht
Grafs Einleitung dem Werden und Wesen dieses Verhältnisses nach,
durch geschickt sich anpassende Überleitungen die trotz der Fülle des
Dargebotenen doch vielfach klaffenden Lücken überbrückend und die
gerade hier ungemein schwierige Herausgeberarbeit (man vergleiche
76
nur die Blütenlese aus Christianens „Rechtschreibung") einwandfrei
meisternd. — In den Mittelpunkt von Goethes Beziehungen zu Österreich,
nach Böhmen führt der im Auftrag der Gesellschaft zur Förderung
deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen von A. Sauer
und J. Na die r herausgegebene „Briefwechsel mit J. S. Grüner und
J. St. Zauper". Während die schwärmerische Verehrung des geistlichen
Professors Zauper trotz der gemeinsamen naturwissenschaftlichen Interessen
Goethe bald zu kühler Reserviertheit dem ihm Wesensfremden gegenüber
zwingt, tritt er zu dem stets dienstbereiten Polizeirat Grüner, mit dem
er verschiedentlich in und bei Eger zusammentraf und der 1825 mit
Auszeichnung von ihm in Weimar aufgenommen wurde, in einen bis
zum Tode Goethes fortgesetzten Briefwechsel, der besonders die geo-
logischen und mineralogischen Interessen Goethes beleuchtet, für welches
Studiengebiet Böhmen die ergiebigste Grundlage und die reichste Nahrung
für den Sammeleifer bot. Die Einleitung geht mit ihi'en 100 Seiten
weit über eine bloße Erläuterung des Briefwechsels hinaus, der Kom-
mentar gibt besonders auch höchst dankenswerte Auskunft über die
oft schwer zugängliche Literatur. — Schießlich sei hier auch noch die
Zusammenfassung des bisher nur einzeln veröffentlichen Materials in
dem „Briefwechsel zwischen Goethe und J. W. Döbereiner (1810 — 30)",
hrsg. von J. Schiff (Weimar 1914) erwähnt, aus dem Goethes ernstes
Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis und die unermüdlich gegebene
Belehrung des bedeutenden Jenaer Chemieprofessors deutlich wird.
Auf die Neuausgabe von Goethes Gesprächen mit J. P. Eciermann von E. Castle
(Berlin 1917) sei "wegen des besonders ausführlichen, von wissenschaftlicher Gründ-
lichkeit und feinem Gefühl gleichmäßig zeugenden Kommentars nachdrücklich hin-
gewiesen.
An der Spitze aller darstellenden Werke über Goethe, sein Schaffen
und seinen Lebenskreis steht F. Gundolfs „Goethe" (Berlin 1916, 1920%
ein Werk, das in einer Weise „Epoche" gemacht hat, der innerhalb der
literarischen Forschung nur wenig an die Seite zu stellen sein dürfte.
Bewußt subjektiv, absichtlich die Methoden der objektiven Wissenschaft
meidend, alles biographisch Tatsächliche stillschweigend voraussetzend,
soll hier die Einheit von Leben und Schaffen, die Eigengesetzlichkeit,
das Urphänomen Goethe herausgestellt werden. Drei großen Haupt-
teilen, die er „Sein und Werden", „Bildung" und „Entsagung und Voll-
endung" überschreibt, entsprechen drei Erlebniszonen, in denen der
dichterische Gehalt sich entfaltet: Lyrik, Symbolik, Allegorik. Goethes
Lyrik enthält seine Urerlebnisse, dargestellt im Stoff seines Ich; Goethes
Allegorik enthält seine abgeleiteten Erlebnisse im Stoff einer Bildungs-
welt; in der Symbolik durchdringt sich beides: Urerlebnisse im Stoff
einer Bildungswelt. Methodisch bedeutsam ist, daß dabei die Entwick-
lung des Menschen und Künstlers nicht wie bei den meisten früheren
biographischen Darstellungen in epischer Weise und mit wechselnder
Berg- und Talsicht durch die Jahrzehnte verfolgt wird, sondern nur
entwicklungsgeschichthch reife Punkte und Erlebnisstadien zur breiteren
Vorführung kommen. Bei solcher Gipfeldarstellung schlägt dann die
77
Analyse ähnliche Bahnen ein, wie sie Dilthey bei der Entfaltung seiner
„Strukturzusammenhänge" angestrebt hatte. Am ehesten läßt sieh dieses
Werk vielleicht mit den Goethedarstellungen Simmeis und Chamberlains
vergleichen. Auf eine Formel gebracht kann man dann sagen, daß bei
Simrael der Denker, bei Chamberlain der Universalmensch, bei Gundolf
dagegen der Künstler Goethe im Vordergründe der Betrachtung steht.
Der Zweck dieses Forschungsberichtes, mehr Hinweise und Einführungen
als Einzelkritik zu geben, bringt es mit sich, daß hier nicht in eine
der Bedeutung des Werkes entsprechende Erörterung über die Vorzüge
und Schwächen (auch daran fehlt es nicht!) eingetreten werden kann.
Dafür sei — ganz abgesehen von der Fülle von Einzelbesprechungeu —
nur auf einige besonders ausführliche Anzeigen (Petersen: Litbl. 1918,
Sp. 218—229; H. Maync: Jahrb. d. Goethegesellschaft IV, S. 267 ff.;
Petsch: Preuß. Jahrbücher, 107. Bd., S. 388—404) und die Sammel-
besprechung im 14. Ergänzungsheft (Gundoltheft) des Euphorien (1921)
hingewiesen, wo zwölf Beurteiler zu dem Werke Stellung nehmen, unter
ihnen besonders A. von Grolmann durch seinen Aufsatz „Methodische
Probleme in Gundolfs Goethe" hervorragend.
Einen kritischen Überblick über die bisherigen Darstellungen von Goethes Leben
von Schubarth (1818) bis zu Simmel und Chamberlain (1912 und 1913), der gleich-
zeitig ein Stück Ideen- und Weltanschauungsgeschichte darstellt, gibt H. Maync in
einer Studie, die er schon 1906 in den Neuen Jahrbüchern für das klassische Alter-
tum veröffentlichte, nunmehr aber wesentlich erweitert als Sonderschrift vorlegt
Leipzig 1914).
Von biographischen Arbeiten, die dem Leben von Goethe nahestehenden
Persönlichkeiten nachgehen, sind drei Neuerscheinungen zu verzeichnen.
Die Stärke von W. Bodes Darstellung „Goethes Sohn" (1917) liegt wieder
in der intimen Kenntnis des weimarischen Lebens, das in tausend Einzel-
heiten und Notizen aus der Vergangenheit heraufgeholt wird. Die Charakte-
ristik Augusts bleibt aber an der Oberfläche haften. — Etta Federn hat
Christiane von Goethe die erste selbständige Biographie gewidmet und
als erste endhch eine Rettung der so Vielgeschmähten und Verkannten
gebracht. In schlichter wahrheitsgetreuer Schilderung zeichnet sie zunächst
das äußere Leben Christianens, gibt dann eine zusammenfassende Charak-
teristik und geht schließlich (wenn auch nicht ganz ohne Überschätzung)
den Spuren nach, die viel zahlreicher, als man bisher meist zugeben
wollte, von Christiane in Goethes Schaffen geblieben sind. War den
ersten beiden Auflagen des liebenswürdigen Buches noch die Haupt-
quelle, Grafs Ausgabe des Briefwechsels, verschlossen gewesen, so hat
die dritte Auflage (München 1917) das neue Material sorgfältig ver-
wertet, und die verschiedentlich von der Kritik gerügte Trennung der
Biographie und Charakteristik sehr zum Vorteil einer fortlaufenden
psychologischen Schilderung aufgegeben, die die Entwicklung Christianens,
ihres Verhältnisses zu Goethe und beider Verhältnisse zur Umwelt nun
in einer einheitlich aufsteigenden Linie darlegt. — IdaBoy-Eds schöne
Schilderung „Das Martyrium der Charlotte von Stein" (Stuttgart 1916,
1920^") scheint mir das psychologische Problem dieses so viel diskutierten
78
Verhältnisses vom Standpunkte Charlottens aus einer Lösung zuzuführen
Nur aus der nach fünfjährig^en Kämpten erfolgten völligen Hingabe er-
klärt sich der veränderte Ton der Briefe seit dem März 1782, erklärt
sich die leidenschaftliche Eifersucht der Verlassenen, ihr Haß gegen
Goethe und Christiane.
Der neuerdings auch in anderen Disziplinen mehrfach hervortretende
Gedanke, in lexikalischer Form und in einer Fülle von längeren und
kürzeren Sonderartikeln das Fazit eines wissenschafthchen Problemkreises
zu ziehen, kam innerhalb der Goethe Wissenschaft in dem dreibändio;en
„Goethe-Handbuch" zum Ausdruck, das J. Zeitler unter Mitarbeit von
zahlreichen Sachkennern erscheinen ließ (Stuttgart 1916 — 1918). Wenn
natürlich auch für dieses fast 2200 Artikel umfassende Unternehmen
die für alle solche lexikalische Zusammenarbeit bestehenden Bedenken
gelten, daß die Güte der einzelnen Darstellungen ungleich ist und neben
manchem Entbehrlichen Wichtiges fehlt, so wird doch niemand diesem
Goethe- Lexikon seine große Bedeutung absprechen können. Der gesamte
Kreis des Goetheschen Lebens und Schaffens, alle ihm nahestehenden
Persönlichkeiten und der ganze weite Umfang seiner Interessen ssphäre
kommt hier zur Bearbeitung. Fast noch wichtiger aber ist, daß neben
den „substantiellen" Artikeln, deren Inhalt man zur Xot auch in der
früheren Goetheliteratur, wenn auch stark verstreut finden konnte, in
diesem Werke eine große Reihe von Begriffen ihre Erörterung findet
(z. B. Andenken, Anpassung, Autorität, Ehrfurcht, KosmopoHtismus,
Goethewissenschaft u. a.j, die bisher nur selten oder gar nicht eine
quellenmäßige Behandlung erfahren hatten.
Natürlich Hegen neben diesen bisher genannten mehr oder weniger
umfangreichen und größere Gebiete umspannenden Veröffenthchungen auch
zahlreiche Einzelstudien vor, die den verschiedensten Gebieten der Goethe-
forschung zugute kommen. Die journalistische Tätigkeit des jungen
Goethe wird von M. Morris in einer dritten Auflage seiner zuerst 1909
veröffentlichten Untersuchung „Goethes und Herders Anteil an dem
Jahrgang 1772 der Frankfurter gelehrten Anzeigen" (Stuttgart 1915)
einer zweiten Revision unterzogen, die wieder zu erheblich anderen Re-
sultaten gelangt als die die erste Auflage völlig umarbeitende zweite von
1912. Bei dem dreilachen zähen Bemühen um die Lösung dieser end-
gültig wohl nie zu bewältigenden Aufgabe, die Verfasser der einzelnen
Rezensionen namhaft zu machen, kommt der um die Goethewissenschaft
so hochverdiente Gelehrte (f ) dazu, den Anteil Goethes immer höher und
umfassender einzuschätzen, so daß er 1?06 zehn, 1912 achtzehn und
nunmehr 125 Rezensionen als gesichertes Goethesches Eigentum hin-
stellen möchte. Da dies stets auf Grund des gleichen stilkritischen Ver-
fahrens geschieht, fallen die Gründe, die gegen eine solche starke An-
teilnahme Goethes sprechen, besonders schwer ins Gewicht, können aber
hier unmöglich im einzelnen dargelegt werden. Doch sei auf die aus-
fuhiliche Rezension im A. f d. A. 39, S. 67 76 von UHch hingewiesen. —
Die journalistische Tätigkeit des reifen Goethe auf dem Höhepunkt seines
unbedingten Klassizismus führt E. Bö hl ich in seiner in den Breslauer
79
Beiträgen (H. 44, 1915) erschienenen Arbeit „Goethes Propyläen" in
einer eingehenden Untersuchung vor, die zunächst die äußere Geschichte
der Zeitschrift verfolgt und dann die einzelnen Aufsätze analysiert, wo-
bei die methodisch tüchtige Beweisführung, daß der sechste Brief „Der
Sammler und die Seinigen'' auf den ersten philosophierenden Brief
Schillers an Goethe zurückzuführen sei , besonders hervorgehoben sein
möge. An E. von der Hagens ausgezeichnete Arbeit über „Goethe als
Herausgeber von Kunst und Altertum und seine Mitarbeiter" (1912)
reicht diese neuere Forschung freilich nicht heran, um so weniger, als
dem Verfasser das Material des Briefwechsels mit H. Meyer noch nicht
vollständig zugänglich war. — Einen überraschend reichen Gewinn bringt
dagegen die so recht aus dem Weltkrieg herausgewachsene philologische
Untersuchung G. Roethes über „Goethes Campagne in Frankreich 1792"
(Berlin 1919). Nachdem das erste Kapitel die äußere Entstehungsgeschichte
nach jeder Richtung hin klargelegt hat, scheidet das zweite Kapitel auf
Grund sprachlicher und stilistischer Kriterien Früheres und Späteres von-
einander, während die fünf folgenden Abschnitte die Hauptquellen in den
Tagebüchern des Kämmeriers Wagner und verschiedene Nebenquellen
in Briefen, Memoiren und persönlichen Berichten nachweisen und gegen
diese Grundlage den Anteil von eigenen Erinnerungen und phantasie-
mäßigen Zutaten abheben. Werden schon dabei vielfach bewußt künst-
lerische Absichten deutlich gemacht, so betrachtet das achte Kapitel zum
ersten Male mit feinstem Einfühlungsvermögen die „Campagne" als dich-
terisches Kunstwerk und kommt mit vorsichtig gerechter Abwägung zu
dem Urteil, daß Goethe zwar „dem Objekt gegenüber nicht Sieger ge-
blieben ist", daß ihm aber „unerhört scharfe Einzelbilder und Szenen
gelungen sind, deren sorgsame und streng stilistische Durchbildung,
deren kühl klare Durchsichtigkeit keinen Vergleich zu scheuen haben."
Den Abschluß bildet ein Überblick über Goethes Stellung zum Krieg,
der sicher das Beste und Gerechteste enthält, was über dieses Thema
bisher gesagt worden ist. — Wichtige Erkenntnisbereicherungen ent-
springen auch der Untersuchung Fr. Sarans über „Goethes Mahoraet
und Prometheus". Wenn einerseits in gründlicher philologischer Beweis-
führung Quellenfragen und Entstehungsgeschichte vielfach berichtigt und
geklärt werden, so liegt andererseits der Hauptwert in der Herausarbeitung
des ideengeschichtlichen Gehaltes dieser problematischen Jugenddichtungen,
wobei durch die Aufzeigung der Beziehungen zur mittelalterlichen christ-
lichen Mystik und der Umbiegung ihrer Ideen ins Naturalistische, Welt-
bejahende viele von der Forschung bisher übersehene Züge deutlich werden
und manches erst in das rechte Licht gesetzt wird. — Methodisch von Saran
angeregt gibt O.Spieß eine eingehende Untersuchung zu Goethes Dram*in-
technik unter dem Titel „Die dramatische Handlung in Goethes ,Cla-
vigo', ,Egmont' und ,Iphigenie'" (Bausteine, Bd. 17, Halle 1918), in
der er ähnlich wie in seiner früheren Abhandlung über Minna von
Barnhelm und Emilia Galotti die Darlegung der inneren und äußeren
Entwicklung durch graphische Hilfsmittel unterstützt und aufzeigt, wie
die ursprüngliche technische Anlage des Clavigo und der Iphigenie als
80
Entwicklungsdrama durch das Hineintragen einer Zieltechnik gestört
wird, während der Fehler in der dramatischen Anlage des Egmont aus
dem umgekehrten Verfahren hervorgeht. — Das Urmanuskript des
„Egmont" in Schillers Bearbeitung vom April 1796 legt C. Höfer
(München 1914) in sorgfältiger Edition nach dem Originalmanuskript
des Goethe- und Schiller - Archivs vor, unter Hinzufügung der mannig-
fachen Zeugnisse über diese Bühneneinrichtung und die Aufführungen
auf dem Leipziger und dem Weimarer Theater.
H. Beiks Arbeit „Zur Entstehungsgeschichte von Goethes Torquato Tasso"
(Leipzig 1918) ist hauptsächlich der Widerlegung von Kuno Fischers Hypothese ge-
widmet. — J. Graubs Berliner Dissertation „Goethes Mahoniet und Tancred'' (1914)
behandelt nach einem guten Überblick über die vorgoetheschen Voltaireübersetzungen
Goethes Übersetzungsarbeit in eingehender Analyse, indem er zugleich die inhaltlichen
und stilistischen Abweichungen vom Original aufzeigt, die das Werk des Franzosen
geistig vertiefen und an Stelle der Kargheit des Voltaireschen Wortschatzes durch
eine Fülle von fein nuancierenden Ausdrücken die Schönheit dichterischer Rede setzen.
Interessant sind die Zusammenstellungen der Übersetzungsfehler.
Von den drei dem Wilhelm Meister gewidmeten Arbeiten ist E. Woiffs
Deutung (W. Meisters Wanderjahre. Ein Novellenkranz. Frkf. 1916) der Wander-
jahre als einer Rahmenerzählung, die in der Art des Decamerone oder der Cent nou-
velles nouvelles nur die Hauptsache, die einzelnen Novellen, zusammenhalten solle,
abzulehnen und infolgedessen auch der Abdruck derselben im Sinne dieser Hypothese. —
Dagegen geht die Berner Arbeit von S. L. Janko nach einem ersten Kapitel über das
Verhältnis des jungen Goethe zur Bühne aufschlußreich der „Entwicklungsgeschichte
von Goethes Stellung zum Theater" (Bern 1914/15) an der Hand des Wilhelm Meister
nach. — E. Sarters Untersuchung „Zur Technik von Wilhelm Meisters Wander-
jahren" (Bonner Forschungen 1914) sucht in erwünschter und vielfach fördernder
Ergänzung und Berichtigung der bisherigen Forschung die Herleitung der komposi-
torischen Mängel aus Nachlässigkeit der Redaktion oder Wunderlichkeit und Unfähigkeit
des hohen Alters möglichst einzuschränken. In diesem Sinne wird die Absicht des
Verschleierns und Verhüllens hervorgehoben, die Rolle des Erzählers näher beleuchtet
und schließlich darauf hingewiesen, daß der Hochbetagte sich eben auch stark von
dem Streben, wenigstens das Wesentliche noch zur Vollendung zu führen, be-
stimmen ließ.
Einen sehr beachtenswerten Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der
Faustphilologie gibt H. Titze in seiner umfangreichen, 339 Seiten um-
fassenden Greifswalder Dissertation „Die philosophische Periode der
deutschen Faustforschung (1817 — 1839) nebst kurzen ÜberbHcken über
die philologische und die philosophisch-ästhetische Periode zur Beleuch-
tung der Gesamtentwicklung der deutschen Faustphilologie bis zur
Gegenwart" (1916). Eingehend werden zunächst die Faustschriften der
Hegelianer Göschel, Hinrichs, Rauch und Rosenkranz analysiert und
dann unter dem zusammenfassenden Namen „Allegoristen'* die ent-
sprechenden Schriften von K. E. Schubarth, Johannes Falk, M. Enk,
F. Deyks, Löwe, Carus, Düntzer, Weber, Weiße und Leutbecher be-
handelt. Dabei wird die Bedeutung jener ersten Phasen der Faust-
erforschung innerhalb der Gesamtentwicklung literarhistorischer Wissen-
schaft so gut interpretiert und in ihren einzelnen Entwicklungsstufen so
aufschlußreich dargelegt, daß man es lebhaft bedauert, die philologische
und die philosophisch-ästhetische Periode nur überblicksweise verfolgen
zu können.
Wissenschaftliclie Forschungrsberichte VIII. 6
81
Zur Kenntnis der naturwissenschaftlichen Bestrebungen Goethes
liegen zwei Arbeiten von ersten Fachkennern vor. Wilhelm Ostwald
unternimmt es, in seiner Schrift „Goethe, Schopenhauer und die Farben-
lehre" (Leipzig 1918) das Verhältnis der Farbenlehren jener beiden
Großen zueinander und zu der heutigen Lehre darzustellen, wobei in
gerechtem Abwägen der Stärken und Schwächen der Goetheschen An-
nahmen — die starke Betonung der subjektiven Seite der Farbenwahr-
nehmung einerseits und die Unzulänglichkeit in der Handhabung physi-
kalischer Methoden und quantitativer Messungen andererseits — wohl
das letzte abschließende Wort über Goethes Stellung innerhalb der
Entwicklungsgeschichte dieser Forschungsprobleme gesprochen sein
dürfte. — Gleichfalls endgültig abschließend stellt M. Sem per, „Die
geologischen Studien Goethes" (Weimar 1914) auf Grund des gesamten
Quellenmaterials und unter Berücksichtigung der Goetheschen Samm-
lungen dar. Er vermag deutlich zwei Perioden innerhalb des Verlaufes
dieser Studien aufzuzeigen, von denen die erste, 1779 — 1790, dem posi-
tiven Ausbau einer Geogenesis gewidmet ist, während die zweite, von 1806
bis zum Tode reichend, von der Polemik des überzeugten Neptunisten
gegen den immer siegreicher sich durchsetzenden Vulkanismus erfüllt ist.
Da die vorliegenden Einzeluntersuchungen sprachlich - stilistischer und begriff-
licher Art nirgends über das Niveau fleißiger Sammelarbeit hinauskommen, sei nur
bibliographisch darauf verwiesen: W. Pfannkuchen, „Periodenbau in Goethes und
Schillers größeren Dichtungen" (Diss. Gießen 1915); C. Liederwald, „Der Begriff
,edel' bei Goethe" (Diss. Greifswald 1914); N. Balk, „Die Bedeutung der Ordnung
für Goethe" (ebd. 1919); AVilh. Müller, „Die Erscheinungsformen des Wassers in
Anschauung und Darstellung Goethes bis zur italienischen Reise" (Diss. Kiel 1917);
Dorothea Hillmann, „Studien über Goethes Sehen" (Diss. Bonn 1917). — Dagegen
verdient A. Kochs Sammlung dreier Aufsätze (Goethes Ausbildung zum Verskünstler
und seine Ansichten über Versbau. — Über den Versbau in Goethes Iphigenie, Tasso
und Natürlicher Tochter. — Über den Hiatus in Goethes Versen), die er unter dem
Titel „Von Goethes VerskTinst" (Essen 1917) vereinigt, nachdrücklichste Beachtung.
Schheßlich seien noch vier Erscheinungen namhaft gemacht, die
mit besonderem Erfolge Goethes Verhältnis zu anderen Persönlichkeiten
zu klären suchen. „Goethe und sein Kreis" (Leipzig 1919) überschreibt
F. Neubert seine Sammlung von 651 Abbildungen, die Goethe selbst,
seine Familie, sowie fast alle Personen und Ortlichkeiten , zu denen er
Beziehungen hatte, zur Darstellung bringen, womit ein reiches An-
schauungsmaterial zugänglich gemacht wird. — Von methodisch bester
Schulung zeugt H. Eckerts Arbeit „ Goethes Urteile über Shakespeare
aus seiner Persönlichkeit erklärt" (Studien zur englischen Philologie,
Halle 1918), die das Verhältnis Goethes zu Shakespeare unter den Ent-
wicklungsstufen „Nachahmung", „Manier" und „Stil" untersucht und
in Verbindung mit eingehender psychologischer Analyse ein wirkhch
tieferes Verständnis von Goethes Auffassung erschheßt. — Durch
O. F. Vaternahms Heidelberger Dissertation „Goethe und seine Ver-
leger" (1916) wird hauptsächhch das Verhältnis Goethes zu Göschen
und zu Cotta in das rechte Licht gerückt, wobei sich interessante Ein-
blicke in Goethes stark durch Mißtrauen bestimmte Sonderstellung den
Verlegern gegenüber ergeben, im Gegensatz zu dem sonst in dieser Zeit
82
meist üblichen freundschaftlichen Verbältnisse zwischen Autor und Ver-
leger, wie es etwa bei Schiller oder bei Wieland so erfreulich in Er-
scheinung tritt. — Von Schubart bis zu Mörike führt Frank Thieß
in seiner Tübinger Dissertation (1914) „Die Stellung der Schwaben zu
Goethe" vor, indem er nacheinander die Stellung der schwäbischen Auf-
klärung, des Sturmes und Dranges, des Klassizismus, der Romantik,
der Reaktion und Nachromantik festzustellen sucht und unter steter Be-
rücksichtigung der durch stammliche, politische, literarisch- ästhetische und
psychologische Momente sich ergebenden Modifikationen die wechselnde
Reaktion der führenden geistigen Vertreter dieses Volksstammes auf die
gewaltige PersönHchkeit Goethes nachweist.
Den grundlegenden großen Ausgaben der Werke und Briefe, den
glänzenden synthetischen Leistungen und hervorragenden Sonderunter-
suchungen der Goetheforschung hat die Schillerliteratur der Be-
richtsjahre nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen. Eine wirklich
historisch-kritische Ausgabe ist noch immer nicht in Angriff genommen
worden und dürfte bei den heutigen Verhältnissen in absehbarer Zeit
auch kaum zu erwarten sein, und die neuen Erkenntnisse und Dar-
stellungsmethoden biographischer Schilderung sind noch nicht in den
Dienst der Schillerforschung gestellt worden. Immerhin liegt eine Reihe von
Untersuchungen strebsamer und fleißiger Doktoranden vor, deren Er-
gebnisse dankbar zu buchen sind. An erster Stelle müssen dabei zwei
Arbeiten genannt werden, die der journalistischen Tätigkeit Schillers
gewidmet sind. So gelingt es Hermann Müller in seiner Münchner
Dissertation (1915) „Schillers journahstische Tätigkeit an den , Nach-
richten zum Nuzen und Vergnügen' im Jahre 1781" durch eine sorg-
fältige Aufspürung und Vergleichung der Quellen zu den einzelnen
Artikeln vielfach über die bisherigen Forschungen von Boas, Minor
und E. Schröder hinauszukommen, die Beiträge Schillers festzustellen
und die besondere Art seiner Redaktionstätigkeit eingehend zu charak-
terisieren. — „Schiller als Herausgeber der rheinischen Thalia, Thalia
und neuen Thalia und seine Mitarbeiter" behandelt F. Berresheim
(Stuttgart 1914) in eingehender Analyse der einzelnen Hefte, wobei das
vielfach wechselnde Gepräge der Zeitschrift in den zehn Jahren ihres
Bestehens teils in den Veränderungen von Schillers äußeren Lebens-
umständen, teils in dem Wechsel seiner geistigen Richtungen und persön-
lichen Beziehungen aufgezeigt wird, womit sich zugleich ein Bild der
dichterischen und wissenschaftlichen Entwicklung des Herausgebers in
den Jahren 1785 — 1795 ergibt. — Anschließend sei kurz auf das viel-
fach anregende Buch von K. Berger „Vom Weltbürgertum zum
Nationalgedanken" (München 1918) verwiesen, das unter diesem Ober-
titei zwölf Bilder aus Schillers Lebenskreis und Wirkungsbereich zu
anschaulichster Darstellung bringt, darunter für den Literarhistoriker
besonders wichtig die Kapitel über Karl Eugen, Schillers Doppelliebe,
Schiller und Kleist, Schiller und die französische Revolution.
„Schillers lyrische Jugenddichtung in der Zeit der bewußten Nachahmung
Klopstocks " untersucht JR. Müller in sorgfältiger Gegenüberstellung von Vorbüd und
6*
83
Nachahmer nach den Prinzipien der Elsterschen Stilistik (Diss. Marburg 1916), wäh-
rend F. Varnegs Münsterische Dissertation „Schiller als Erzähler" betrachtet und
den gedanklichen Gehalt seiner Erzählungen, die inneren Beziehungen des Dichters
zu denselben und die künstlerische Gestaltung des Stoffes erstmalig zusammenhängend
behandelt. — Alexander J<3hannessons Arbeit „Die Wunder in Schillers Jung-
frau von Orleans" (Diss. Halle 1915) ist ein schönes Zeugnis dafür, wie gründlich sich
der junge Isländer, der heute als Dozent an der Universität Reykjavik wirkt, in das
Werk des deutschen Dichters eingefühlt hat, — Melitta Gerhard (Forschungen z.
n. Litg. 53. Bd., 1919) stellt in ihrer fleißigen Untersuchung „Schiller und die griechi-
sche Tragödie" den Einfluß derselben erst auf die späteren Dramen fest, wobei es
sich weniger um unmittelbare Beziehung handelt als um die mittelbare Einwirkung des
„vereinfachenden, einheitlichen, nur die große Linie wiedergebenden Stils und die der
Idealität der Kunst dienende Betonung des Allgemein-Menschlichen ". — Schließlich
sei noch die Greifswalder Dissertation von W. Meise, „Beiträge zu einer ethischen
Terminologie Schillers" (1917) erwähnt und auf die Mai'burger Arbeit von Maria
Teichmann ,,Über Schillers und Friedrich Schlegels Stellung zur griechischen
Poesie" in den Abhandlungen „Über naive und sentimentalische Dichtung" und
„Über das Studium der griechischen Poesie" (1919) hingewiesen.
Erfreulicherweise ist im Berichtszeitraum auch die große Ausgabe
von „Wilhelm von Humboldts Gesammelten Schriften", die im Auftrag
der preußischen Akademie der Wissenschaften besonders von A. L e i t z -
mann besorgt wird, ein gutes Stück weiter gekommen. Von den drei
Abteilungen dieser Ausgabe war die erste die „Werke" umfassende Ab-
teilung in den Jahren 1903 — 1912 auf 9 Bände gediehen, während die
die zweite Gruppe bildenden „Politischen Denkschriften" (1903 — 1904
erschienen) die Bände 10 — 12 füllten. Zu diesem bereits vorliegenden
Bestände sind jetzt mit dem XIII. Bande (1920) „Nachträge" zur ersten
Abteilung gekommen, in denen Leitzmann die neugefundene Abhandlung
über die Basken und eine Reihe amtlicher Arbeiten in kritischem Neu-
druck veröffentlicht. Besonders wichtig für den Germanisten aber ist
unterdessen die dritte Abteilung geworden, die in den Bänden XIV
(1916) und XV (1918) die für die Persönlichkeit Humboldts wie für
die Zeitgeschichte ungemein interessanten „ Tagebücher " darbietet. Da-
mit ist die Ausgabe vorläufig zu einer gewissen Abrundung gekommen.
Der noch ausstehende Rest der poUtischen Denkschriften sowie die noch
vorgesehene weitere Abteilung „ Briefe " mußten aus materiellen Gründen
auf bessere Zeiten verschoben werden. — - Auch die große von Anna
von Sydow besorgte Brief publikation „Wilhelm und Caroline von
Humboldt in ihren Briefen", die seit 1906 an die Offenthchkeit getreten
ist, konnte inzwischen zum Abschluß gebracht werden. Nachdem der
1913 erschienene sechste Band im wesentlichen politischen Inhalts ge-
wesen war und ein besonders starkes Licht auf den Gegensatz Hum-
boldts zu Hardenberg in den Jahren 1817 — 1819 geworfen hatte, werden
wir in dem 1916 erschienenen siebenten und letzten Bande bis an den
Tod der beiden Ehegatten (Carohne f 1827, Wilhelm f 1835) geführt.
Mit Recht hat die Herausgeberin diesem Schlußbande den Untertitel
„ Reife Seelen " gegeben, tritt doch in diesen letzten Jahren, wo die beiden
ungleich seltener voneinander getrennt waren und damit die Gelegenheit
zur brieflichen Aufteilung weniger häufig gegeben war, die harmonische
Verknüpfung zweier innerlich zueinander gestimmter Seelen und die durch
84
mannigfache körperliche Leiden und die Mühseligkeiten des Alters nur
noch gesteigerte Abgeklärtheit ihrer Anschauungen und Urteile besonders
deuthch zutage. Den Germanisten interessieren wiederum besonders
natürlich die zahlreichen Stellen über Goethe, Schiller und andere Er-
scheinungen der klassischen Welt. — Auf Grund vollsten Vertrautseins
mit dem Gegenstand entwirft A. Leitzmann (Halle 1919) ein knappes
Lebensbild Wilhelm von Humboldts und eine das Wesentliche klar heraus-
stellende Charakteristik, die besonders durch den Ton persönlichster An-
teilnahme Wärme und Wirkung erhält.
Der Hauptvertreterin des klassizistischen Frauenromans und ihrem
ersten größeren Werke „Agnes von Lilien" ist St. Brocks Berliner
Dissertation „Karoline von Wolzogens Agnes von Lilien" (1914) ge-
widmet. Der Verfasser sucht den Roman weniger von der ästhetischen
als von der historischen Seite zu erfassen und seine Mittelstellung dar-
zutun zwischen der Aufklärung, an die die Diskussionen über moderne
Fragen, soziale, ökonomische und pädagogische Zeittendenzen sowie die
Abhängigkeit der Gestalten von den. Typen der moralischen Wochen-
schriften erinnern, und dem Klassizismus, dessen Idealwelt stofflich und
formal die Darstellung bestimmt. — Der klassische Publizist und Pro-
saist dieser Zeit, Georg Forster, wird durch eine Reihe von Veröffent-
lichungen in eine ganz neue Beleuchtung gerückt. P. Zincke hat durch
die Bearbeitung des gesamten gedruckten und handschriftlichen Nach-
lasses wirklich eine Art Rettung Forsters vornehmen können. Dies ge-
schieht besonders in dem zweibändigen Werke „Georg Forster nach
seinen Originalbriefen" (Dortmund 1915), dessen erster philologisch-
textkritischer Teil die zahlreichen bewußten Verstümmelungen, Verfäl-
schungen und schiefen Redaktionen der von Forsters Witwe Therese
und deren zweitem Gatten L. F. Huber besorgten Ausgabe aufdeckt und
damit sowohl Forsters politische wie menschliche Ehre wieder herstellt,
während der zweite historisch -biographische Teil die Lebensgeschichte
Forsters und besonders die Geschichte seiner unglücklichen Ehe auf
dieser Grundlage neu aufbaut. Eine historisch - kritische Ausgabe der
Briefe soll folgen, deren Anfang die Veröffentlichung von „ Georg Forsters
Briefen an Chr. Fr. Voß" (Dortmund 1915) macht. Von besonderem
Interesse sind schließlich die aus dem Besitze A. Leitzmanns und des
Goethe- und Schillerarchivs von Leitzmann und Zincke veröffentlichten
Tagebücher Forsters (Berlin 1914), das englisch geschriebene von der
Reise nach Paris (1777), das deutsche von der Reise von Kassel nach
Wilna (1784) und ein drittes, das seine Rückkehr nach Göttingen zur
Vereinigung mit Therese schildert.
In die klassische und nicht, wie es gelegentlich geschieht, in die
romantische Welt ist auch Hölderlin trotz der romantischen Einschläge
seiner Persönlichkeit und Dichtung einzureihen. Nachdem seit langem
vergeblich eine kritische Ausgabe seiner sämtlichen Werke gefordert worden
war, traten unmittelbar vor dem Kriege gleich zwei auf den Plan, von
zwei in der Hölderlinforschung gleich verdienstvoll bewährten Heraus-
gebern besorgt und in zwei durch ihre buchtechnischen Leistungen gleich
85
ausgezeichneten Verlagen erschienen. 1913 legte Norbert vonHelling-
rath, der 1911 mit einer Münchener Dissertation über Hölderlins Pindar-
übersetzungen promoviert hatte, den ersten Band der „Sämtlichen Werke.
Historisch-kritische Ausgabe" (München, Georg Müller; jetzt Propyläen-
verlag) vor, der in chronologischer Anordnung die Gedichte und Briefe
der Frühzeit brachte, während der bald nachfolgende fünfte Band die
Übersetzungen und Briefe und der 1916 erschienene vierte Band der auf
sechs Bände berechneten Ausgabe die Gedichte und Gedichtfragmente
von 1800 — 1806 hinzufügte. Franz Zinkernagel, der sich 1907 mit
einer Arbeit über die „Entstehungsgeschichte von Hölderhns Hyperion"
habilitierte, trat 1914, mit dem zweiten Bande beginnend, mit seiner
kritisch- historischen Ausgabe „Hölderlins Sämtliche Werke und Briefe"
(Inselverlag) an die Öffentlichkeit und konnte bis heute von den fünf
vorgesehenen Bänden zwei, die Empedoklesbruchstücke und die Über-
tragungen sowie den Hyperion mit seinen Vorstufen und eine Reihe
von Aufsatzentwürfen enthaltende Bände vorlegen. Während die Hel-
lingratsche Ausgabe bereits zu jedem Bande umfängliche Quellennach-
weise, textkritische Anmerkungen und Ergänzungen sowie Einleitungen
ästhetisch -kritischen Inhaltes hinzufügt, steht der von Zinkernagel für
den fünften Band vorgesehene kritische Apparat noch aus, so daß
eine Vergleichung noch nicht möglich ist. — An Einzelstudien liegen
zu Hölderlins Hyperion äußerst wertvolle „Stilkritische Studien zu
dem Problem der Entwicklung dichterischer Ausdrucksformen" von
A. von Grolmann (1919) vor, in denen in beachtenswerter Weise eigene
methodische Bahnen beschritten werden, unter Berücksichtigung der
psychol.-ästhetischen Forschungen von W. Hellpach und G. Mehlis und
unter der Einwirkung der kunstgeschichtlichen Grundbegriffe Wölfflins.
Ausgehend von den seelischen Grundlagen Hölderlins, die Grolmann für
die Eigentümlichkeiten dieses individuellen Lebens als „Distanz und
Gegensatz", für die Durchdringung seiner künstlerischen Leistung
als „Naturerlebnis und Landschaftsbild" formuliert, sucht er Hölderlins
„Bildgebung" zu erfassen. An der Hand einer Fülle von Belegstellen
vermag Grolmann die einzelnen Fassungen der Dichtung in überzeugen-
der Weise auf seelische Voraussetzungen zurückzuleiten und die an-
schauliche „echte Bildgebung" der früheren Hyperionfassungen von der
mehr reflektierenden der Endfassung zu scheiden. — Ahnlich wie für
die Kleistforschung liegt für die Erkenntnis Hölderlins ein klar und
schön geschriebener Aufsatz Ernst Cassirers über das Thema „Hölder-
lin und der deutsche Idealismus" (Logos 7, 262/82; 8, 30/49) vor, der
das Verhältnis des Dichters zu dem spekulativen Idealismus seiner Zeit
betrachtet, zu den drei Grundelementen : Kant, Spinoza, Piaton, und den
drei Schöpfern der großen philosophischen Systeme: Fichte, Schelling
und Hegel. In vorbildlich feinfühliger Weise geht Cassirer dabei stets
vom Ganzen Hölderlinscher Welt- und Lebensauffassung aus mit dem
Resultat, daß der Pantheismus, den Hölderlin mit seiner Zeit teilt, bei
ihm eine neue und eigene Prägung erhält in einer seiner lyrischen
dichterischen Individualität entsprechenden Dialektik des Gefühls, gegeu-
8f>
über der Dialektik der Begriffe des philosophischen Idealismus. —
Schließlich ist noch auf E. Lehmanns Programmschrift (Landskron
1916) „Hölderlins Oden" hinzuweisen, die die bisher als unzusammeu-
hängende Einzelwerke angesehenen Oden der Reifezeit (ebenso wie die
Jugendhymnen, die Jugendoden und die Frankfurter Elegien) als ein
kunstvoll aufgebautes Ganze zu erweisen sucht, das sich in sechzehn
kleinere Reihen bzw. sechs Gruppen einteilen lasse. Den Ausgangs-
punkt für die Gruppierung dürften dabei einige einzeln entstandene
Oden ergeben haben, von denen aus inhaltlich und formal die Reihe
fortgesetzt wurde, so daß für die Erklärung der einzelnen Oden das
Einzelerlebnis gegenüber dem inneren Fortgang des Gedankengehaltes
vielfach nur eine sekundäre Bedeutung haben kann. Wenn es Lehmann
auch nicht immer gelingt, den Eindruck des Konstruktiven zu ver-
meiden, so vermag er doch vieles durch inhaltliche, formale und metrische
Kriterien durchaus überzeugend zu gestalten, wie denn diese Betrach-
tungsweise ja neuerdings auch von Brecht mit Erfolg für die tiefere
Erkenntnis der Lyrik K. F. Meyers in Anwendung gebracht worden ist.
Während Hölderlins Kunst, trotz der begeisterten Bewunderung
einzelner Kreise, doch eigentlich erst in der deutschen Dichtung um die
Wende des 20. Jahrhunderts wesensverwandten Nachklang gefunden
hat, sind die Schöpfungen Jean Paul Richters mitbestimmend für die
ganze weitere Entwicklung der erzählenden Dichtung des 19. Jahr-
hunderts geworden. Mit dieser Tatsache steht in seltsamem Gegensatz,
daß die literarwissenschaftliche Forschung sich erst seit etwa 1900 ein-
gehender mit den mannigfachen Problemen dieses eigenwilligen Geistes
auseinanderzusetzen beginnt. Von den zwei vorliegenden Arbeiten ist
besonders die Gießener Dissertation von O. Lenz: „Jean Paul Friedrich
Richter und die zeitgenössische Kritik" (1916) fördersam. Auf Grund
eines sorgfältig gesammelten und im zweiten Teile der Arbeit mitgeteilten
Urkundenmaterials , das alle in den zeitgenössischen Organen wieder-
gegebenen Rezensionen heranzieht und Jean Paul in seiner Stellung zur
Kritik vorführt, zieht der Verfasser im ersten Teile die Ergebnisse aus
den Urkunden in übersichtlicher Gruppierung zusammen, indem er ein-
mal in historischer Darstellung die Aufnahme Jean Pauls bei den Zeit-
genossen schildert und zum andern eine systematische Betrachtung
darüber gibt, was die Zeitgenossen an Jean Paul gelobt und was sie
getadelt haben. — V. Bachmann unternimmt in seiner Erlanger
Dissertation (1915) den Versuch, „Die religiöse Gedankenwelt Jean
Pauls" aufzuzeigen. Er verfolgt die Entwicklung von der pietistisch
gefärbten Frömmigkeit des Elternhauses durch die inneren Kämpfe der
Universitätsjahre, die einen ziemlich starken polemischen Zug einprägen,
bis zur Ausweitung des stets festgehaltenen allgemein religiösen Zuges
zu einem christlichen Humanismus auf der Grundlage des Gottes- und
Unsterblichkeitsglaubens. Abseits von Kirchenmauern und Koufessions-
grenzen soll ein großes Glaubens- und Liebesreich entstehen, das alle
Christi Nachfolgenden umfassen wird. Der Zusammenhang mit Herder-
schen Ideen wird dabei richtig empfunden und die große Wirkung auf
87
die Zeitgenossen dürfte zum Teil tatsächlich aus dem rein Gemütvollen
und Religiösen in seinen Schriften erklärt werden. Zu weit dürfte es
dagegen doch wohl gehen, wenn Jean Paul als Vertreter eines über-
irdischen Ideals in einen ausgesprochenen Gegensatz zu den Vertretern
der kritischen Philosophie und dem „Asthetizismus" der Klassiker ge-
stellt wird.
Zum Schlüsse dieser letzten Stilepoche des 18. Jahrhunderts sei
nachdrücklich auf drei Werke hingewiesen, deren Problemstellung einen
Längsschnitt durch den ganzen Zeitraum ergibt und die Gesamtentwick-
lung in ihren Hauptzügen dadurch besonders deutlich aufzeigt. Zum
großen Teil Neuland bearbeitet Christiane T ouaillon in ihrem um-
fangreichen Werk „Der deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts"
(Wien und Leipzig 1919). Auf Grund einer eingehenden Lektüre (wohl
über 100 Bände!) jener ausgedehnten, bis heute von der Literaturgeschicht-
schreibung meist nur wenig beachteten, von Frauen verfaßten Unter-
haltungsepik untersucht sie nacheinander den empfindsamen, rationali-
stischen und klassizistischen Frauenroman sowie die romantischen Ele-
mente, die sich gegen die Jahrhundertwende vereinzelt bemerkbar machen.
Dabei werden die Hauptvertreterinnen jeder einzelnen Gattung geschickt
herausgehoben und gegen die weniger bedeutsamen Verfasserinnen ab-
gesondert, so daß die empfindsame Sophie la Roche, die Rationalistin
Benedikte Naubert, die auf dem Boden des Klassizismus stehende Caro-
line von Wolzogen mit Charlotte von Kalb und Sophie Mereau auch in
ihrer individuellen Eigenart klar umrissen werden. Das ausführliche
Auguste Fischer gewidmete Kapitel weist zum erstenmal nachdrücklich
auf diese bisher so gut wie unbekannte, menschlich sympathische und
sittlich hochstehende Frau und begabte Schriftstellerin hin. — Während
Frau Touaillons Forschungen naturgemäß durch ihre stoffliche Bedingt-
heit sich in den Kreisen der literarischen Mittelmäßigkeit bewegen und
damit einen sehr erwünschten Beitrag zu der leider immer noch unge-
schriebenen Geschichte der deutschen Unterhaltungsliteratur abgeben,
sind zwei andere Werke, die dem Wirken und Schaffen führender Geister
nachspüren, von geistiger Höhenluft erfüllt. So bieten die beiden Bände
von H. Korffs Werk „Voltaire im literarischen Deutschland des 18. Jahr-
hunderts" (Heidelberg 1918) einen hervorragenden Beitrag zu einer
Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe. Glänzend
methodisch sowohl wie stilistisch ist die dreifach gestellte Aufgabe ge-
löst: die Rolle Voltaires im literarischen Deutschland des 18. Jahrhun-
derts umfassend darzustellen, sodann mit dieser Geschichte Voltaires als
einem typischen Beispiel die Geschichte des französischen Klassizismus,
der Aufklärung und des gallischen Geistes bei den Deutschen zu ver-
anschaulichen und endlich diese äußere Geschichte als die Geschichte
einer inneren Wandlung des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe
zu verstehen. In fünf großen Hauptabschnitten (Voltaire als klassi-
zistischer Autor, Voltaire als fortschrittlicher Autor, Voltaire als gal-
lischer Autor, Voltaire als Popanz, Voltaire als Klassiker) wird auf
fast 800 vSeiten die gewaltige Wirkung Voltaires nach allen Seiten hin
in ihrem Auf und Ab ausgemessen mit folgendem Ergebnis : Voltaire als
klassizistischer Autor stand im Zenith seines Ruhmes am Anfange seines
Auftretens, auf tiefstem Nullpunkte im letzten Drittel des Jahrhunderts und
erst um 1800 ist sein Ansehen wieder gehoben unter dem Einfluß einer
allgemeinen steigenden Tendenz des Klassizismus. Voltaire als fortschritt-
licher Autor begann seinen Aufstieg gegen die Widerstände des herrschen-
den Alten, durchbrach sie, stand siegreich nach der Mitte des Jahrhunderts,
ward aber überwunden durch eine rückläufige Bewegung, die den Fortschritt
wollte wie er, aber auf anderem Wege und mit anderen Zielen. Vol-
taire als gaUischer Autor endlich fand im ganzen wachsendes Verständnis
selbst beim deutschen Publikum, hatte aber in den siebziger Jahren eine
schwere akute Krisis zu bestehen, die sich sowohl gegen seinen Klassi-
zismus, wie gegen sein Autklärertum und seine gallische Wesensart wandte,
ihn zum Anti-Christ, Anti-Homer, Anti-Genie stempelte und sein Bild zur
Fratze entstellte, bis er im Stadium schwindender Aktualität historisch
gewürdigt wurde. Dies kommt als eine Art stiller Voltaire-Renaissance
in Goethes Übersetzung des Tankred und des Mahomet und in Schillers
dazu gehörigen Stanzen zum Ausdruck, wobei aber zugleich Schillers
Jungfrau die produktive Überwindung dieser historisch gewordenen Welt
zeigt. — Denselben geistesgeschichtlichen Prozeß der Auseinandersetzung
des deutschen Geistes mit den beherrschenden fremden Einflüssen des
18. Jahrhunderts zeigt Max Scherrers Werk „Kampf und Krieg im
deutschen Drama von Gottsched bis Kleist*^ (Zürich 1919), das sich mit
seiner sicheren Beherrschung der Literatur eines weitgespannten Zeit-
raumes, seiner Stoff'ülle und der geistigen Durchdringung derselben KorfFs
schöner Leistung ebenbürtig an die Seite stellt. Noch deutlicher wie bei
KorfF, der den gesamten geistigen Komplex Voltaire behandelt, zeigt
sich bei dieser ganz auf das Formal-Technische gerichteten Untersuchung
eines einzelnen literarischen Stoffgebiets die Fruchtbarkeit der von mir
seit Jahren geforderten und im Lehrbetrieb nach Möglichkeit berück-
sichtigten stilvergleichenden Methode. Überraschend deutlich tritt da-
durch derselbe auch bei KorfF aufgezeigte Wandel von Gottsched zu
Goethe zutage: die Auseinandersetzung des shakespeareschen mit dem
französischen Tragödienideal, die Wandlung von dem unversöhnlichen
Gegensatz: Gottsched — Götz zu einer neuen Klassik, in der die ge-
schlossene Form der französischen Tragödie soweit geweitet wird, daß
die Sachfülle Shakespeares in sie eingehen kann und damit eine „spe-
zifisch dramatische Organisierung" des Krieges möglich wird.
§ 9. Romantik
An der Spitze der literarischen Erscheinungen aus dem Gebiete der
Romantik ist Walz eis Neuausgabe des Grundwerkes aller deutschen
Romantikforschung zu verzeichnen: „Rudolph Haym: Die roman-
tische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes. 3. Auf-
lage besorgt v. O. Walzel" (Berlin 1914). Waizel hat Hayms Text
pietätvoll erhalten und nur dessen Nachträge in den Text eingefügt.
89
Wo Neudrucke erschienen sind, wurden Hayms Verweisungen auf diese
bezogen; ebenso wurden die Ausgaben von Zeugnissen eingeführt, die
Haym nur in handschriftlicher Fassung benutzen konnte. Walzeis eigene
Ergänzungen sind als Nachträge gegeben; besonderen Wert darf der
bibliographische Anhang beanspruchen, der alle wichtigen Werke über
die von Jrlaym behandelten Probleme verzeichnet.
Die Einzelforschung ist in den Berichtsjahren mit überaus zahl-
reichen Arbeiten in die Erscheinung getreten, und zwar ist diese so-
wohl zusammenfassenden Darstellungen einzelner Probleme wie Sonder-
untersuchungen über die verschiedenen Vertreter der Romantik zugute
gekommen. Überblickt man die Gesamtresultate der hier geleisteten
Arbeit, so muß die Schrift von S. Elkuß „Zur Beurteilung der Ro-
mantik und zur Kritik ihrer Forschung", die nach dem Tode des Ver-
fassers Franz Schultz mit einer schönen Würdigung des jungen, viel-
versprechenden Forschertalentes herausgegeben hat( 1018), in ihrer scharfen
Polemik gegen die bisherige Forschungsmethode doch vielfach als jugend-
lich temperamentvolle Übertreibung bezeichnet werden. Andererseits
aber verdient manche methodologisch-kritische Erwägung trotz der bis-
weilen unzureichenden Begründung ernste Beachtung. So vor allem der
Hinweis auf die bisher zu einseitig literarische Betrachtung der Früh-
romantik, deren tiefere Tendenzen durch eine stärkere Berücksichtigung
der romantischen Staats- und Rechtswissenschaft, Politik, Geschicht-
schreibung und Religionsphilosophie deutlicher hervortreten würden. In
diesem Sinne gibt Elkuß selbst in seinen Studien, die von Adam Müllers
Ästhetik ihren Ausgang genommen haben, eine glänzende Analyse der
widerspruchsvollen Prinzipien von Kants Religionsphilosophie und einen
energischen Hinweis auf den Engländer E. Burke und dessen Einfluß
auf die deutsche Geistesgeschichte, den inzwischen Frieda Braune
(1917) ausführlich nachgewiesen hat. — Über F. Gieses auf gründ-
licher psychologischer Schulung und großer Belesenheit beruhendes Buch :
„Der romantische Charakter. I. Die Entwicklung des Androgynen-
problems in der Frühromantik" (1919) wird sich abschließend erst nach
dem Erscheinen des zweiten Teiles urteilen lassen. Mit Friedrich Schlegel
im Mittelpunkt, dessen Formulierung „Nur selbständige Weiblichkeit,
nur sanfte Männlichkeit ist gut und schön" die prägnanteste Fassung
des Problems darstellt, gibt dieser erste Teil die Entwicklung jener
romantischen Lehre von Humboldt über F. Schlegel, Schleiermacher,
NovaHs und Ritter bis zu Baader. — Paula Scheidweilers Dar-
stellung „Der Roman der deutschen Romantik" (Leipzig 1916) ver-
sucht die frühromantischen Romane (Lucinde, Florentin, Sternbalds Wan-
derungen, Godwi, Ofterdingen und Hyperion) als einen neuen Typus,
den „musikalischen" herauszustellen, ihn gegen den aus plastischer Ge-
staltung erwachsenen klassischen Roman (Wilhelm Meister) abzugrenzen
und seine allmähliche Auflösung in der Spätromantik von EichendorfF
bis Immermann aufzuzeigen. Dabei wird im Einzelnen manches Be-
achtenswerte vorgebracht, im Ganzen aber muß dieser Konstruktions-
versuch abgelebt werden. — Von gutfundierter ethischer und erkenntnis-
90
theoretischer Grundlage her behandelt P. Vogel, ein Schüler Johannes
Volkelts, „Das Bildungsideal der deutschen Frühromantik", wobei er
— in der Beschränkung auf die Jugendschriften F. Schlegels und
Schleiermachers und auf die Werke Hardenbergs, Wakenroders und
Schellings — alle in Frage kommenden geistigen Strömungen erörtert
und, ohne gerade viel Neues zu bringen, in der klaren Herausarbeitung
des Wesentlichen eine brauchbare Leistung bietet.
Dagegen vermag A. Horwitz in seiner zum Teil auch als Heidelberger Disser-
tation erschienenen Abhandlung über die These: „Das Ich-Prohlem der Romantik.
Die historische Stellung F. Schlegels inneihalb der modernen Geistesgeschichte"-
(München 1916) trotz des anspruchsvollen Titels weder ideen geschichtlich noch
psychologisch irgendwie über die bisherige Forschung hinauszukommen.
„Die romantische Ironie" wird in einer Züricher Dissertation von
F. Ernst (1917) in zusammenfassender Betrachtung untersucht. Der
erste Teil der Arbeit behandelt den Begriff und die Theorie des Be-
griffes. Bei F. Schlegel zuerst formuhert , findet diese Theorie nach
anfänglicher Zustimmung bald ständig wachsenden Widerspruch, der
von den Freunden Schlegels über Solger bis zu dem endgültigen Ver-
nichtungsurteil Hegels führt. Der zweite Teil gilt der Verwendung der
romantischen Ironie in der Dichtung, wo sie von Tiecks zweiter Epoche
an eine entscheidende Anwendung bei Brentano und E. T. A. Hoffmann
bis zu Heines Tode hin erfahrt. — Stand bei diesen letztgenannten
Arbeiten schon Friedrich Schlegel zumeist im Mittelpunkt, so wendet
sich die Münchner Dissertation von E. Lewalter „F. Schlegel und
sein romantischer Witz" (1917) ausschließlich diesem Führer der früh-
romantischen Bewegung zu. Angeregt und geschult durch einen unserer
besten Kenner literarisch-ideengeschichtlicher Probleme, F. Unger, dringt
L. ungleich tiefer als die obengenannte Arbeit von Ernst in diese
schwierigen Gedankengänge der romantischen Ideenwelt ein. Nach einer
klärenden Erörterung des Verhältnisses von romantischem Witz und
romantischer Ironie, deren Kenntnis der Züricher Arbeit sehr hätte zu-
gute kommen können, wird der Witz einmal als konstitutives Prinzip
der Schlegelschen Psyche aufgezeigt und dann in seiner Bedeutung für
die Entwicklung des Schriftstellers charakterisiert. Eine Bestimmung
der geschichtlichen Stellung des Witzes beschließt die wertvolle Arbeit. —
Eine weitere Münchner Dissertation (1917) ist der „Un Verständlichkeit
der Aphorismen F. Schlegels im , Athenäum' und im ,Lyceum der
schönen Künste'" gewidmet. Der Verfasser, H. v. Zastrow, weist
darin die Grundursache der im Interesse der geistigen Anregung der
Leser beabsichtigten Unverständlichkeit in der reahstisch - idealistischen
Mischung der Betrachtungsweise und der sich daraus ergebenden Ironie
und Paradoxie nach. Die Form der Aphorismen wird charakterisiert
einmal als Gegensatz der persönlichen stilistischen Auffassung zu der
landläufigen sprachlichen Bedeutung, dann als logischer Widerspruch in
der konventionell begriffenen Aussage, wozu emphatische und hyper-
bolische Wendungen, Inversion, abstrakte Bilder usw. treten. Inhaltlich
behandeln diese Aphorismen metaphysische Probleme, Fragen des Indivi-
91
dualitätsbegriflfes und das Unzulängliche der bestehenden und zu über-
windenden Disharmonie von Geist und Stoff. — Ebenfalls aus der
Münchner Schule hervorgegangen und als wertvoller Beitrag zur Schlegel-
forschung zu betrachten ist die Arbeit von Johanna Krüger
„F. Schlegels Bekehrung zu Lessing" (Forschgn. z. n. Litg., H. 45), die
die Wandlungen Schlegels in seiner Stellung zu Lessing von der völligen
Ablehnung des „seichten Aufklärers" bis zu der starken Begeisterung,
wie sie in seinem berühmten Lessingaufsatz des „Lyceuras" von 1797
zutage tritt, aufzeigt und damit die Münsterische Dissertation von
B. Bolle „F. Schlegels Stellung zu Lessing" (1912), die den Nach-
druck auf die späteren Jahre gelegt hatte, glücklich ergänzt. — 7,Die
Stellung F. Schlegels und der anderen deutschen Romantiker zu Goethes
Wilhelm Meister im Lichte des Ur-Meister" wird in einer Kieler Disser-
tation von K. S. Galabo ff recht ansprechend abgehandelt. Aus der
veränderten Stellung Goethes zu seinen Gestalten des Urmeisters und
des veröffentlichten Werkes wird der Kampf, den die Romantiker ent-
gegen ihrer früheren Begeisterung späterhin gegen den Wilhelm Meister
führten, daraus erklärt, daß sie intuitiv die Grenze zwischen der vor-
italienischen und der nachitalienischen Arbeit herausfühlten. So konnte
F. Schlegel die Neutralität, mit der Goethe die Gestalten seines Ur-
meisters betrachtet hatte und die ironisch- humorvolle Behandlung seines
Helden in dieser ersten Fassung auch in der veränderten Form der
„Lehrjahre" noch als Ausdruck „romantischer Ironie" erscheinen; mit
der Wendung ins Praktische und dem Streben nach bürgerlicher Tüch-
tigkeit dagegen mußte das abfällige Urteil einsetzen.
Dem Politiker F. Schlegel ist das Buch von R. Volpers „F. Schlegel als
politischer Denker und deutscher Patriot" (Berlin 1917) gewidmet, das allzu breit
von der psychologisch-biographischen Seite her die Entwicklung des Politikers zunächst
bis zu seiner Übersiedelung nach AVien und den Eintritt in den österreichischen
Staatsdienst verfolgt, wobei in der Analyse der Kölner Vorlesungen über Politik und
Staat und bei der Behandlung der politischen Gedichte manches für Bibliographie und
Interpretation Wertvolle herausspringt, während andererseits eine deutlich spürbare
politisch-religiöse Tendenz des Verfassers manche Schlußfolgerungen mit Vorsicht auf-
zunehmen rät. Ganz unzuverlässig sind die Zitate und die aus den Handschriften
abgedruckten Stellen, die vielfach auch die Quellenangabe vermissen lassen. — Gleich-
falls nicht ganz frei von Tendenz, aber in ihrer positiven Beurteilung des späteren
Schlegel, zu deren Stützung wertvolles neues Material beigebracht wird, durchaus zu
begrüßen ist die als Vereinsgabe der Görresgesellschaft (Köln 1918) erschienene
Schrift des katholischen Historikers H. Finke „Über Friedrich und Dorothea Schlegel",
dem die Forschung auch die an derselben Stelle 1917 erschienene wertvolle Material-
sammlung „Briefe an Fr. Schlegel" (meist den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens
angehörend) verdankt. — Auch die schöne Publikation von E. Wieneke „Caroline und
Dorothea Schlegel in Briefen" (Weimar 1914), in geschickter Auswahl für einen wei-
teren Kreis berechnet, bringt für die Kenntnis der Persönlichkeit Dorotheas durch
Verwertung von teils ungedrucktem, teils revidiertem Material auch der Forschung
erwünschte Bereicherung, während für die Briefe Carolinens nach wie vor auf die
Ausgabe Erich Schmidts als die grundlegende zu verweisen ist.
Der von W. Kirfel herausgegebene Briefwechsel A. W. v. Schlegels
mit Christian Lassen (Bonn 1914) zeigt in 91 Briefen aus den Jahren
1821 — 41 hauptsächlich den Anteil, den Schlegel an der Entwicklung
der Indologie genommen hat. — „ A. W. Schlegels Verhältnis zur spani-
92
sehen und portugiesischen Literatur" wird in einer romanistischen Arbeit
von H. Schwartz (Halle 1914) eingehend in ihrer Entwicklung auf-
gezeigt, wobei vor allem die Übersetzungen Schlegels unter Berück-
sichtigung des spanischen Urtextes nach ihrer metrischen, formalen und
inhaltUchen Seite kritisch untersucht werden.
Die Arbeit von Lavinia Mazzuchottis über „A. "W. Schlegel und die
italienische Literatur (Zürich 1917) war mir nicht zugänglich.
Den wertvollsten Beitrag zur biographischen Kenntnis A. W. Schlegels
und der zeitgenössischen politischen Ideengänge bietet 0. Brandts auf
eingehenden Studien des historisch - politischen und literarhistorischen
Materials beruhendes Buch „A. W. Schlegel und die Politik" (Stuttgart
1919), das bisher kaum oder überhaupt nicht verwendete ungedruckte
Quellen aus dem handschriftlichen Nachlaß Schlegels in der sächsischen
Landesbibhothek zu Dresden, der Universitätsbibliothek zu Bonn, der
preußischen Staatsbibliothek zu Berlin sowie aus Varnhagenschen Papieren
verwerten konnte. Als Resultat der Entwicklung, innerhalb deren be-
sonders Schlegels schwedische politische Dienstjahre zum erstenmal zu-
sammenfassend zur Darstellung gelangen, zeigt sich eine Kreuzung
nationalstaatlicher mit kosmopolitischen und deutsch - universalistischen
Gedanken, wobei aber Schlegel niemals als rückständig im Kosmopoli-
tismus oder einseitig im Patriotismus befangen erscheint.
Für die Tieck-Forschung ist an erster Stelle das als Eröffnungsband
der Neudrucke deutscher Literaturwerke des 18. und 19. Jahrhunderts,
der neuen von Leitzmann und Oehlke herausgegebenen Sammlung, er-
schienene „Buch über Shakespeare. Handschriftliche Aufzeichnungen
von L. Tieck" (Halle 1920) zu nennen. Durch seine Frankfurter
Dissertation „L. Tieck und das alte englische Theater" (1917), von der,
soweit ich sehe, bisher leider nur die beiden Kapitel „Tiecks Studium
des alten englischen Theaters im Rahmen seines Lebens" und „Die
romantische Periode in Tiecks Shakespeare -Kritik" vorliegen, ist der
Herausgeber Henry Ludeke mit bester Vorbereitung an seine Auf-
gabe herangegangen. Die Einleitung skizziert mit Hilfe aller bekannten
Quellen die Entwicklung des Tieckschen Planes, der, bereits in der
Jugend konzipiert, den Dichter durch sein Leben hindurch bis ins hohe
Mannesalter begleitete, bis erst der Greis die Unerfüllbarkeit seiner in
jugendlicher Begeisterung vorgenommenen Aufgabe sich resigniert ein-
gestehen und sillschweigend Verzicht leisten mußte. Zum Abdruck ge-
langt der umfangreiche erste Entwurf von 1794, „Kommentar zu
Shakespeare" (364 S. !), dem sich kürzere Entwürfe und einzelne Aus-
arbeitungsversuche aus den Jahren 1796, 1800, 1810, 1815 und 1821
anschließen.
Eine Pariser Arbeit von J. J. A. B e r t r a n d ,,L. Tieck et le theatre espagnol"
(1914) war mir nicht zugänglich.
„L. Tiecks Beziehungen zur deutschen Literatur des 17. Jahr-
hunderts" geht eine von Max Herrmann angeregte Arbeit (Greifswald
1916) nach, deren Verfasser F. Rieder er vor allem nachdrücklich
93
darauf hinweist, daß Tiecks Stellung dieser literarischen Epoche gegen-
über keineswegs nur aus seinen Aufsätzen erschlossen werden darf, in
denen sie sich ihm nur als Niedergang zwischen zwei Höhepunkten dar-
stellte. Wie schon das Vorhandensein zahlreicher Schriftsteller des
17. Jahrhunderts in Tiecks eigener Bibliothek beweist, hat er ein starkes
Interesse an jener so manchen Erscheinungen der Romantik geistes-
verwandten Literatur bekundet; vor allem für die volkstümlich-satirische
Literatur eines Grimmeishausen, Moscherosch und Christian Weise ver-
mag R. mannigfache Beziehungen nachzuweisen, wie sich denn auch
der Einfluß der geistlichen Lyrik des 17. Jahrhunderts etwa in den
Jahren 1797 bis 1804 stark bemerbar macht. — Neben diesen über-
wiegend philologisch gerichteten Untersuchungen treten uns in drei wei-
teren Arbeiten mehr Längsschnitte ästhetischer Art durch das Gesamt-
schaffen Tiecks entgegen. Von der Bonner Dissertation von F. Conen
„Die Form der historischen Novelle bei L. Tieck" (1914) gibt der
Teildruck, der mir allein vorlag, nur zwei kurze Kapitel über die
Komposition und die Darstellung der Charaktere wieder; die Gießener
Arbeit von L. Faerber „Das Komische bei L. Tieck" (1918) be-
handelt an der Hand der Lippsschen Formulierungen die Situations-
und Charakterkomik, den Charakterhumor, Burleske, Satire und Ironie,
vermag aber über bloße Materialsammlung nicht hinauszukommen. Wert-
voll dagegen ist die aus einer Wiener Dissertation hervorgegangene
Untersuchung von M. Thalmann über „Probleme der Dämonie in
L. Tiecks Schriften" (Forschg. z. n. Litg. 53. Bd., 1919). Die Einleitung
hebt knapp und klar die seelischen Voraussetzungen hervor, die der
Konzeption des Grauens bei Tieck vorgearbeitet haben und faßt sie
dahin zusammen, daß Tieck Periodiker im Leben und Schafien war
und stark unter Störungen des körperlichen und seelischen Gleich-
gewichtes zu leiden hatte. Aus dieser Veranlagung wird seine Vorliebe
für psycho- physische Probleme und sein intuitives Erfassen fach wissen-
schaftlich-medizinischen Wissens ebenso abgeleitet wie seine Beziehungen
zum Schicksalhaften und Dämonischen, das sich nach Th. keineswegs
nur auf die Jugendperiode beschränkt (vgl. das 1910 erschienene
Buch von H. Hammer „Die Anfänge L. Tiecks und seiner dä-
monisch-schauerlichen Dichtung"), sondern mit Ausnahme ganz weniger
Straußfederngeschichten in seiner gesamten Produktion dargetan werden
kann. Das Schlußkapitel zeigt den tiefen Unterschied auf zwischen
Tiecks auf den Problemen seelischer Störung oder Steigerung beruhen-
den Darstellungen und den mystisch gefärbten Bundesromanen und
Schauergeschichten der Zeit. — Hauptsächlich als Quellenforschung stellt
sich Th. Hertels Marburger Dissertation „Über L. Tiecks Getreuen
Eckart und Tannenhäuser" (1917) dar. Nach der Darlegung der
äußeren Entstehungsgeschichte zeigt H. die innere Entwicklung aus den
verschiedenen Sagenkreisen auf, wobei die Hinzufügung des wunder-
baren Spielraannes und Rattenfängers zu den schon seit langem mit-
einander verbundenen Sagen vom getreuen Eckart, Tannenhäuser und
Venusberg als eigene Erfindung Tiecks anzusprechen ist. Bei der fol-
94
genden eingehenden Quellenuntersuchung, die nur für die Eckarthand-
lung zu positiven Ergebnissen führt, ist die Gefahr des Nachweises ura
jeden Preis nicht immer vermieden worden. Gerade bei der Tannen-
häuserhandlung würde eine Berücksichtigung der organischen Veranlagung
Tiecks im Sinne der obengenannten Thalmannschen Arbeit sicher zu
weit fruchtbareren Ergebnissen geführt haben. — E. Nippolds Be-
mühungen, „Tiecks Einfluß auf Brentano '^ nachzuweisen (Dissertation
Jena 1915), scheiden nicht scharf genug zwischen dem, was tatsächlich
auf Einwirkung zurückzuführen ist, und dem, was eigener Veranlagung
entspricht oder zeitgenössisches Allgemeingut darstellt. Dagegen wird
der Höhepunkt einer deutlichen Beeinflussung um 1799/1800, die von
dort langsam abnehmend schließlich völlig überwunden wird, richtig er-
kannt. — Der Schwester Tiecks und der besonderen Stellung, die sie
unter den literarisch tätigen Frauen des älteren Kreises der Romantik
einnimmt^ widmet M. Breuers Tübinger Dissertation „Sophie Bernhard!
geb. Tieck als romantische Dichterin" (1915) eine eingehende Unter-
suchung, die ein gutes Bild jener widerspruchsvollen Persönlichkeit und
eine klare Darstellung ihrer dichterischen Entwicklung von den ersten
ironisch - satirischen Erzählungen über die phantastischen Traum- und
Märchendichtungen zu den künslerisch am höchsten stehenden wirklich-
keitsnahen und zeitgeschichtlich interessanten letzten Arbeiten gibt und
damit eine Entwicklung aufdeckt, die derjenigen ihres Bruders fast
parallel läuft und die sich, bei aller Abhängigkeit von der Romantik,
selbständig frei von deren Auswüchsen gehalten hat.
Über Novalis ist mir an größeren Darstellungen nur die Arbeit von
K. Wolterek „Goethes Einfluß auf Novalis' Heinrich von Ofterdingen"
(Dissertation München 1914) bekannt geworden, die, entgegen der zu-
meist üblichen Meinung, daß Hardenbergs Roman ein Manifest gegen
den Wilhelm Meister darstelle, nachzuweisen sucht, daß Novalis wohl
unter Tiecks Einfluß mit einer Polemik gegen Goethe beginne, vom
sechsten Kapitel ab dagegen wieder durchaus unter dem positiven Ein-
flüsse Goethes stehe und seinem großen Lehrmeister viel näher komme
als die romantischen Romane, die für gewöhnlich dem Gefolge der Lehr-
jahre zugesellt werden.
Innerhalb der jüngeren Romantik steht Brentano im Mittelpunkt
der vorliegenden Forschungserscheinungen. Leider schreitet die große
historisch kritische Ausgabe der „Sämtlichen Werke", die in Verbin-
dung mit einer Reihe erprobter Mitarbeiter von Karl Schüddekopf (f )
herausgegeben wurde, nur langsam weiter. Nachdem seit 1909 in ge-
mächlicher Erscheinungsfolge nur der vierte (Romanzen vom Rosen-
kranz), fünfte (Godwi), zehnte Band (die Gründung Prags) und die beiden
Teile des vierzehnten Bandes (Übersetzungen und religiöse Schriften)
hervorgetreten waren, liegen nunmehr auch die Märchen, von R. Benz
herausgegeben, in drei Bänden vor (1914 — 1917). Durch die Heran-
ziehung der erst kürzlich wiedergefundenen Böhmerschen Abschrift von
1831 konnte der Text gegenüber der Görresschen Ausgabe wesentlich
verbessert und durch die bis vor kurzem noch unbekannte frühe Fas-
95
sung des Fanterlieschen bereichert werden. Der erste Band bringt die
Rheinmärchen von 1811 mit den Resten früherer Konzepte und späterer
Umarbeitungen als Anhang, der zweite die italienischen Märchen von
1805 — 1817 in der ursprünglichen Gestalt, der dritte die beiden großen
Umarbeitungen der italienischen Märchen aus der Zeit nach 1836 und
den „Gockel" mit den Bildern der Ausgabe von 1838. Die Einleitung
gibt unter Benutzung der bisherigen Literatur eine gute Charakteristik
des Märchenerzählers und Sammlers Brentano und bespricht die ein-
zelnen Märchengruppen, überall sorgfältig Chronologie und Quellen be-
stimmend. Ausführlich werden dann die ersten Veröflfentlichungen, die
Herausgabepläne, die letzten Umarbeitungen und die Herausgabe des
„Gockel" behandelt und weiterhin die nach Brentanos Tode 1842 durch
Görres erfolgte Edition charakterisiert. Einigen Bemerkungen über die
bisherigen Schicksale der Märchen, über Erfindung und Form schließt
sich eine kurze Ausführung über Gotik und Renaissance an, in der
Benz seine bekannten Ansichten über Klassizismus und Romantik zum
Ausdruck bringt.
Da der Abschluß dieser Gesamtau.sgabe wohl noch in weiter Ferne liegt, ist
das Erscheinen der von Max Preitz besorgten und erläuterten dreibändigen Brea-
tanoausgabe des Bibliographischen Instituts sehr zu begrüßen. Die Auswahl betont
mit Recht die Lyrik (wobei freilich die Romanzen vom Rosenkranz nicht hätten fehlen
dürfen) und Märchendichtung, läßt aber leider eine Probe der dramatischen Kunst
Brentanos vermissen. Unter geschickter Verarbeitung des vorhandenen Materials wird
ein anschauliches Lebensbild gegeben und durch besondere Einleitungen und gründ-
liche Anmerkungen das Verständnis des Dichters Überali gefördert.
Neue wertvolle Aufschlüsse über die Persönlichkeit Brentanos er-
geben sich aus R. Steigs (f) Sammlung des Briefwechsels zwischen
Cl. Brentano und den Brüdern Grimm (Stuttgart 1914), einer Art
Supplementband zu dem für die gesamte Romantikforschung grund-
legenden Werke desselben Herausgebers, das unter dem Titel „Achim
von Arnim und die ihm nahe standen" früher erschienen war (Band I
1894; H 1904), wobei in der schon in jenen älteren Publikationen
R. Steigs zutage tretenden Art der Darstellung, einer Verflechtung von
wortgetreuem Abdruck der Quellen und eigenem Verbiudungstext, das
Werden und Vergehen der Beziehungen zwischen den so grundverschie-
denen Briefschreibern geschildert wird.
Wertvoll sind auch die Aufschlüsse über Brentanos Persönlichkeit, die die Pu-
blikation von H. Card a uns: „Aus Luise Hensels Jugendzeit. Neue Briefe und Ge-
dichte. Zum Jahrhunderttag ihrer Konversion'- (Freiburg 1918) vermittelt und die
das seltsame kurze Verlöbnis dieser beiden zerrissenen Naturen beleuchtet.
Die Originalbestandteile der Frühlingskranzbriefe sucht B. Widraann
in seiner Münchener Dissertation (1914) mit dem Titel „Zu C. Bren-
tanos Briefwechsel vom Sommer 1 802 bis zum Herbst 1 803 " fest-
zustellen und so genau wie möglich mit Hilfe der in den Briefen
und sonstigen Werken von und über Brentano enthaltenen Angaben zu
datieren, wobei die Arbeit vielfach Ergänzungen zu W. Üehlkes seiner-
zeit in der Palaestra erschienenem Buch „Bettina von Arnims Brief-
romane" (1905) zu bringen vermag. Vor allem leistet hierzu die Heran-
96
Ziehung des Briefwechsels zwischen Brentano und Sophie Mereau (hrsg.
von Heinz Amelung, Leipzig 1908) sowie der Briefe zwischen Brentano
und seiner Schwägerin Antonie geb. Birkenstock gute Dienste. Den
Schluß bildet eine zusammenfassende Untersuchung über die in den
Frühlingskranz eingestreuten Gedichte, mit der besonderen Tendenz fest-
zustellen, wieweit im einzelnen eine frühe oder eine spätere Fassung vorliegt.
Der religiösen Seite in Brentanos Schaffen sind zwei größere Arbeiten gewidmet.
Die eine von Pater Aegidius Buchta unter dem Titel „Das Eeligiöse in Cle-
mens Brentanos Werken'- (Breslau 1915) sucht mit dem liehevoll einfühlenden Ver-
ständnis des Glaubensgenossen überall die Spuren religiösen Erlebens auf und glaubt
damit nachweisen zu können, daß von einem Bruch in Brentanos Leben nicht die
Eede sein könne, daß seine Bekehnmg nicht eine Konversion im üblichen Sinne ge-
wesen sei, sondern nur eine Umkehr zu dem nie ganz verlorenen katholischen Kinder-
glauben bedeutet habe. Liegt der Wert dieser Arbeit nicht so sehr in der Gewinnung
neuer Resultate als in einer Gesamtanschauung, an der die künftige Forschung doch
nicht ganz wird vorübergehen können, so bietet H. Cardauns in seinen ,, Beiträgen
zu C. Brentano, namentlich zur Emmerichfrage" (Vereinsschriften der Görresges.,
1915) eine Fülle exakter Einzelforschung. Bei dem Anwachsen der Brentanoliteratur
ist die referierende Übersicht des ersten Teiles über den Stand der neueren Forschung
mit ihren kritischen Bemerkungen und zahlreichen eigenen Ergänzungen besonders zu
begrüßen. Der zweite Teil behandelt eingehend die Emmerichfrage, besonders in bezug
auf Brentanos Redaktionstätigkeit und dessen Stellung zu der Frage: Gesichte oder
Betrachtungen. Brentano hat sich bestimmt Einschaltungen in das gestattet, was die
Emmerich als „ Gesichte " vortrug und zwar vornehmlich unter Benutzung des Lebens
Christi des P. Martin von Cochem. Dagegen sind die darin nachweisbaren Bestand-
teile von älteren Überlieferungen und Legenden nicht von Brentano interpoliert wor-
den, sondern zeugen von der Kenntnis, die die Nonne selbst von diesen Dingen besaß.
Die Nachdrückliehkeit , mit der Cardauns für die Emmerich-Bücher eine gerechtere
Beurteilung fordert, sowohl innerhalb einer Betrachtung der Erbauungsliteratur als
auch unter dem Gesichtspunkt literai'isch- ästhetischer Würdigung, die in der Darstel-
lungstechnik des „ Bitteren Leidens " die Meisterhand eines Künstlers erkennen würde,
ist nur zu unterstützen. — In welcher Richtung sich die Kritik, die J. Ni essen in
seinem Buche „A. K. Emmerichs Charismen und Gesichte" gegen Cardauns gerichtet
haben soll, bewegt, vermag ich leider nicht festzustellen.
Mit dem Dramatiker Brentano befassen sich zwei weitere Arbeiten.
F. Heiningers Breslauer Dissertation „C. Brentano als Dramatiker"
(1916) stellt in einem einleitenden Teil die Ansichten Brentanos über
die zeitgenössischen Dramatiker und Opernkomponisten und seine eigenen
theoretischen Überzeugungen zusammen, um dann die dramatischen Ar-
beiten des Dichters, nach Lustspielen, Festspielen und ernsten Dramen
gruppiert, inhaltlich, quellengeschichtlich und formal zu untersuchen, mit
dem Ergebnis, daß trotz des Reichtums an einzelnen besonders lyrischen
Schönheiten das Mißverhältnis zwischen Wollen und Können die dra-
matischen Bemühungen Brentanos zum Scheitern bringen mußte. —
R. Kaysers Würzburger Dissertation über die Frage nach „Arnims
und Brentanos Stellung zur Bühne" (1914) stellt das dramatische Wollen
der jüngeren Romantiker in den größeren Zusammenhang eines bewußten
Zeitstrebens und gewinnt in einer vergleichenden Betrachtung der Ent-
wicklung des dramatischen Denkens dieser beiden Dichter die Möglich-
keit einer guten, das WesentHche treffenden Formulierung ihrer Sonder-
begabungen. Der zweite Teil ist der Prüfung des Technischen gewidmet,
wobei K. seine Beobachtungen nach J. Petersens Vorgange einordnet.
Wissenschaftliche Forschun^sberichte VlII. <
97
Dem Dritten von den Intimen des jungromantischen Kreises ist eine
Straßburger Dissertation (1914) von L. Wagner gewidmet, die „Über
Joseph Görres' Sprache und Stil" eindringend handelt und vollständig in
den „Freien Forschungen z. dtsch. Literaturgeschichte" erschienen ist.
Der erste historische Teil dieser Arbeit untersucht die Anfange von Görres'
Schrifttum, die vom Stil der französischen Revolutionsberedsamkeit stark
beeinflußten Zeitschriften sowie die in derselben Zeit geschriebenen und
doch grundverschiedenen Briefe an die Braut, die von Rousseaus und
Werthers Geist getränkt schon einzelne romantische Züge aufweisen.
Der durch das Studium Herders, Jean Pauls und Schellings vermittelte
Übergang ins romantische Lager läßt in Wortschatz, Flexion und Satzbau
bestimmte romantische Stileigentümlichkeiten bald unverkennbar hervor-
treten, die sich aber im Rheinischen Merkur, Görres' reichster und
sprachgewaltigster Schöpfung, allmählich wieder verlieren. Der zweite
Abschnitt ist der Untersuchung des Wortschatzes gewidmet, während
der letzte Teil die Bildlichkeit des Stiles auf ihre philosophischen Grund-
lagen hin untersucht und die Allegorie als hauptsächlichste Erschei-
nungsform eingehend würdigt.
Das publizistische Moment, das Görres' Schaffen auszeichnet, ist
auch die starke Seite in Arndts umfangreicher Produktion, der in erster
Linie Journalist und erst in zweiter Dichter ist. Die Zeit seiner Ent-
wicklung, Klärung und Ausbildung, in der sich der schwedisch -pom-
mersche Partikularist zum Vorkämpfer des nationalen Staates wandelt,
schildert der erste Teil des großen Lebensbildes von E. Müsebeck:
„E. M. Arndt. 1. Buch. Der junge Arndt, 1769—1815" (Gotha 1914).
Ein zweiter Teil soll Arndts Schicksale während der Reaktion und Re-
volution schildern und damit das Werk zum Abschluß bringen. Auf
Grund des vor allem von H. Meisner in zwei Jahrzehnte langer Arbeit
erschlossenen Quellenmaterials, dem eingehendsten Studium von Arndts
Schriften und zahlreichen eigenen Vorarbeiten, Aufsätzen, Quellenunter-
suchungen und selbständigen Schriften des Verfassers wird hier die wohl
vorläufig abschließende Darstellung des inneren und äußeren Lebens
Arndts und seiner Verknüpfung mit der geistigen und politischen Ent-
wicklung Deutschlands gegeben.
Daß daneben die Einzelforschuug noch manches ergänzend und wohl auch ab
und zu berichtigend wird herbeibringen können, dafür geben die in der kleinen Schrift
von E. Gülzow, „E. M. Arndt in Scliweden" (1920) veröffentlichten Nachrichten über
Arndts Beziehungen zu Amalie von Ilelwig und Elisa Muuk einen Beweis, die auch
die Neudeutung und chronologische Fixierung einiger Gedichte gestatten. — R. Krü-
geis Leipziger Dissertation „Der Begriff des Volksgeistes in E. M. Arndts Geschichts-
anschauung" (1915), die mehr in das historische als literargeschichtliche Gebiet fällt,
sei hier wenigstens bibliographisch erwähnt, ebenso wie die Jenenser Arbeit von
C. Koller, „E. M. Arndts Fragen über Menschenbildung in ihrer pädagogischen Be-
deutung" (1917).
Während das romantische Element bei dem im Grunde rationali-
stischen Arndt nur in dem stark entwickelten Sinn für alles Vaterländische
zum Ausdruck kommt, tritt uns Schenkendorf in seiner ganzen seelischen
Struktur als Romantiker entgegen. Eine in diesem Sinne den typischen
m
Kern der Persönlichkeit berücksichtigende Analyse würde der sonst recht
tüchtigen Marburger Dissertation von A. K ö h 1 e r über „ Die Lyrik Max
von iSchenkendorfs " (1915) sicher zugute gekommen sein, indem sie
verbindert hätte, daß K. etwas zu einseitig mit den von außen an die
Arbeit herangetragenen Gesichtspunkten von Elsters ästhetischen Begriffen
und Normen an die Betrachtung seines Stoffes herangetreten wäre.
Elsa von Klein gibt in iliren Untersuchungen zu Schenkendorfs Liederspiel
„Die Bernsteinküste '' (Halle 1915) in Ergänzung der Forschungen von A. Haym und
P. Cygan wertvolle Einzelnachweise durch die Aufhellung des maßgebenden Einflusses
von J. F. Eeichardt und der Anregungen, die der junge Dichter von dem Königsberger
Professor J. G. Hasse erhielt.
Friedrich Rückerts romantische Periode steht im Mittelpunkt von
L. Magons Buch „Der junge Rückert. Sein Leben und Schaffen.
Band 1" (Halle 1915), das den ersten größeren Versuch einer eingehen-
den Rückertforschung darstellt und dessen in Aussicht gestellter zweiter
Band, der die Zeit bis 1819 umspannen soll, hoffentlich bald nachfolgen
wird. Die Benutzung des reichen handschriftlichen Nachlasses kommt
ebenso der biographischen Darstellung wie der literarhistorischen Be-
trachtung zugute, die wichtige Angaben über die Chronologie der Jugend-
gedichte zu erbringen vermag, den Einfluß Bürgers, Klopstocks und
Matthisons nachweist und eingehend die Wendung zur Romantik be-
handelt, besonders in der Analyse der Jugenddramen und ihrer Ab-
hängigkeit von Calderon. Besonders zu begrüßen sind auch die aus-
führlichen metrischen Analysen.
Nicht allzu ergiebig sind dagegen die entstehungsgeschichtlichen Bemerkungen und
queUenvergleichenden Nachweise von A. Krauß „Zu F. ßückerts dramatischen Dich-
tungen'' (Dissertation Gießen 1916). — Eine in New York 1917 erschienene Arbeit
von H. W. Church über F. Eückert als Lyriker der Befreiungskriege war mir nicht
zugänglich.
Die E. Th, A. Hoffmann-Forschung vermag sich leider immer noch
nicht auf eine vollständige kritische Ausgabe zu stützen, da die von
C. Gr. von Maaßen herausgegebenen und auf fünfzehn Bände berech-
neten „Sämtlichen Werke" (München 1908 ff.) seit 1914 mit dem Er-
scheinen des dritten Bandes der Serapionsbrüder bis heute nicht über
die damals vorliegenden sechs Bände herausgekommen sind, — Dagegen
ist mit Hans von Müllers Pubhkation „E. Th. A. Hoffmanns Tage-
bücher und literarische Entwürfe", I.Band Texte (Berlin 1915) eines
der wertvollsten Seelendokumente der Romantik neu erschlossen worden.
Der Herausgeber, der in zwei Jahrzehnte langer mühevollster und hin-
gehendster Forscherarbeit in zahlreichen Publikationen umfassendes Unter-
suchungsmaterial zusammengetragen und einer gerechten Würdigung des
Dichters die Wege geebnet hat, lügt jetzt den von ihm 1904 entdeckten
Tagebüchern der Jahre 1812, 1813 und 1815 die ebenfalls von ihm
selbst aufgefundenen von 1809, 1811 und 1814 hinzu. Die frühesten
Aufzeichnungen zeigen den preußischen Richter in Plock noch in völliger
Unkenntnis über seine dichterische Begabung ; die Bamberger Zeit mit
ruhiger Kompositionsarbeit wird abgelöst von den inneren Kämpfen des
Übergangs zum literarischen Schaffen, von den Erschütterungen einer
7*
99
hoflfcungslosen Liebe und den Sorgen einer ungewissen Stellung in den
Wirren der Kriegsjahre, bis die Fürsorge der Berliner Freunde ein
ruhigeres novellistisches Sehaffen gestattet. — Von den vorliegenden beiden
Einzeluntersuchungen bringt W. Grahl-Mügelins Abhandlung „Die
Lieblingsbilder im Stil E.Th.A. Hoffmanns" (Dissertation Greifswald 1915)
zunächst eine nach Stoffgebieten unter Berücksichtigung der ursächlichen
Entstehung aus der Lebensgeschichte und persönlicher Veranlagung des
Dichters geordnete gute Zusammenstellung und Verarbeitung des Ma-
terials mit der Einschränkung auf die von Hoffrnann bevorzugten bild-
lichen Wendungen. Der zweite Teil nimmt zu diesem Material kritisch
Stellung und erblickt den Hauptwert der Bilder in ihrer Bedeutung für
die Stimmungsmalerei und die Erregung von Gefühlszuständen. —
M. Roehls Rostocker Arbeit „Die Doppelpersönlichkeit bei E.Th.A. Hoff-
mann" (1918) erweitert diesen Begriff von der Bedeutung des gespal-
teten und verdoppelten Ichs zu der Einbeziehung aller Erscheinungen,
die als Bürger zweier Reiche sich auch in zwei Gestalten zeigen. Sie
gibt eine Aufzählung, Charakteristik und Einteilung dieser Doppelpersön-
iichkeiten, um dann ihre Quellen und literarischen Abhängigkeiten mit
dem Ergebnis zu untersuchen, daß Hoffmann den Rahmen des damals
modernen Geheimbundromans benutzt und den Genius- oder Mittlertypus
durch die Einbeziehung des Mythus und Magnetismus kompliziert. Da-
bei wird das Ganze auf den Boden realistischer Wirklichkeit gestellt und
zum Symbol einer dualistisch - idealistischen Weltanschauung besonders
in bezug auf den Gegensatz zwischen Kunst und Alltag erhoben, wobei
sich Hoffmann zur realistischen Motivierung reichlich der psychiatrischen
Ergebnisse der zeitgenössischen Wissenschaft bedient. — Das 1920/1 er-
schienene zweibändige Werk von W. Harich, „E. Th. A. Hoffmann,
Das Leben eines Künstlers", das nach EUingers grundlegender Mono-
graphie (1894) den Versuch einer die künstlerische Eigenart dieses
Dichters erfassenden Darstellung macht, aber erst jenseits der Berichts-
grenze liegt, sei wenigstens bibliographisch verzeichnet.
Wie Hans von Müllers Veröffentlichungen für E. Th. A. Hoffmann
so bedeuten die von 0. Fl o eck herausgegebenen „Briefe des Dichters
F. L. Zacharias Werner" (München 1918) die Grundlage zu neuen
Erkenntnissen sowohl für den äußeren Entwicklungsgang als für die
Auffassung der Gesamtpersönlichkeit. Die hier zum ersten Male ge-
sammelten Briefe der Jahre 1792 — 1822, deren größere Zahl bisher un-
gedruckt war und denen sich im Anhang noch 72 den Dichter be-
treffende Schreiben anreihen, sind besonders für den letzten Lebensabschnitt
Werners, den in Osterreich wirkenden kathohschen Priester, geeignet,
bisherige allzu ungünstige Urteile über den Konvertiten zu berichtigen,
und sowohl für den äußeren Lebensgang als für Entstehung und Idee
seiner Werke wertvolle Aufschlüsse zu geben. Zahlreiche erklärende
Fußnoten und arcbivahsch-bibUographische Nachweise sind ebenso will-
kommen wie die taktvoll abwägende Einleitung, die besonders die Brief-
empfänger gut charakterisiert. — Von den beiden den „Söhnen des
Tals" gewidmeten Untersuchungen kommen die rein äußerlichen An-
100
gaben W. Ekhardts in seiner Schrift „Die Technik in Z. Werners
Söhnen des Tals" (Gießen 1917) neben R. Pal gens Marburger Disser-
tation „Über Zacharias Werners Söhne des Tals" (Beiträge z. dtsch.
Litwissensch.), die nach sorgfältiger Feststellung der äußeren und inneren
Entstehungsgeschichte die literarischen Einflüsse (Goethe, Shakespeare,
die Ritterstücke und besonders Schiller) sowie Aufbau, Charaktere, Stil
und Stellung zum Schicksalsproblem behandeln, nicht mehr in Frage.
Paul Schubert zeigt „Das Naturgefülil bei F. L. Zacharias AVerner" (Disser-
tation Greifswald 1914) aus stilistischen Betrachtungen, aus der Auffassung der
Beziehungen zwischen Natur und Gott, Natur und Mensch und aus der praktischen
Verwendung im Drama auf, dabei Werners Stellung zur Romantik und ihren Ideen-
kreisen betonend. — Die ausführliche italienische Arbeit über den deutschen Roman-
tiker von Guiseppe Galetti „II dramma di Zacharias Werner" (Torina, 455 Seiten)
war mir nicht zugänglich. — Nur genannt sei das wiederum außerhalb der Berichts-
jahre liegende Buch von P. Haukammer: „Zacharias Werner. Ein Beitrag zur
Darstellung des Problems der Persönlichkeit in der Romantik" (Bonn 1920).
Für die schwäbische Romantik gelangt mit dem Erscheinen des
vierten Bandes von „Uhlands Briefwechsel. Im Auftrage des Schwä-
bischen Schillervereins hrsg. von Julius Hartraann (Stuttgart 1916),
der Uhlands letzte in stiller Gelehrtenarbeit abgelaufene Lebensjahre
umfaßt, Verbesserungen und Nachträge zu den ersten Bänden bringt
und ein von W. Reinöhl bearbeitetes gutes Register hinzufügt, eines
der wichtigsten Quellenwerke zum Abschluß. — Auf Grund dieser sowie
aller übrigen erschlossenen Quellen baut H. Schneider die erste
wissenschaftlich vollwertige Biographie Uhlands auf unter dem Titel
„Uhland. Leben, Dichtung, Forschung" (Geisteshelden Bd. 69/70), die
aber erst 1920 erschienen ist und auf die hier wenigstens hingewiesen
sei. — Angeregt durch einen Aufsatz W. Scherers in den Goethe-
jahrbüchern von 1883 und 1884 „Über die Anordnung Goethescher
Schriften", der davon ausgeht, daß „zur vollen Erfassung und Wür-
digung der künstlerischen Tätigkeit des Dichters" auch die „ Beachtung
der Arbeit letzter Hand gehört, wie sie sich in der Anordnung seiner
Werke offenbart", untersucht J. Frenzel „Die Anordnung der Ge-
dichte L. Uhlands" (Dissertation Straßburg 1915). Ausgangspunkt und
technische Grundlage der Anordnung scheint das chronologische Prinzip
der Entstehung gewesen zu sein, wofür neben einer Note aus den Tage-
büchern die fast rein chronologische Anordnung der Jugendgedichte,
der Balladen und Lieder wie die vollständig chronologische Aneinander-
reihung der vaterländischen Gedichte spricht. Uhlands Absicht, auf
diese Art die Wandlungen seines eigenen künstlerischen Entwicklungs-
ganges aufzuzeigen, kommt am deutlichsten in dem vollständig abge-
rundeten Ganzen der Balladen zum Ausdruck, die von den sentimen-
talsten Produktionen jugendlicher Unklarheit zu den reifsten Produk-
tionen des Mannesalters führen. Einzelne Umgruppierungen sind aus
beabsichtigt antithetischer oder verstärkend paralleler Wirkung zu er-
klären oder setzen antichronologisch ein Gedicht als Widmung vor eine
ganze Gruppe, während eine andere Art von Abweichungen eine persön-
liche Kunstansicht, die Wendung eines Themas von realistischer An-
101
schauung zu Übersinnlichkeit und Unendlichkeitsstreben zum Ausdruck
bringen soll.
L. Längs Tübinger Dissertation „TJhlaiids dramatische Arbeitsweise in seinen
Listorischen Dramen und Drauienentwürfen " (1914) betrachtet das vorhandene Ma-
terial nach der jeweiligen Entstehungsgeschichte und dem Verhältnis zu den Quellen,
wobei eine absteigende Eutwicklungsliuie von der phantasie- und humorvollen Ur-
sprünglichkeit der romantischen Ajifäuge zu steifer Gelehrsamkeit führt. Der aus den
Handschriften der Universität Tübingen mitgeteilte Entwurf zu dem Drama „Ludwig
der Baier" gestattet dabei einen guten Einblick in die Arbeitsweise Uhlands. —
W. Schulz es Arbeit „Gustav Schwab als Balladendichter ^- (Pal. 126, 1914) gibt
vor allem eine Quellonuntersuchung mit genauen Vergleichen , aus denen die starke
Abhängigkeit von den Vorlagen deutlich wird. — „Gustav Schwabs Stellung in der
zeitgenössischen Literatur" gelaugt in der Dissertation von G. Stock (Münster 1916)
an der Hand von Schwabs Redaktionstätigkeit am Stuttgarter Morgenblatt und am
deutschen Musenalmanach zu eingehender Darstellung, wobei seine Beziehungen zu
den schwäbischen Dichtern Uhland, Waiblinger und Mörike, den Österreichern Lenau
und Grün, den Bayern Platen und Schenk sowie zu den Korddeutscheu Fouque,
Varnhagen und David Assing fsorgfältig verfolgt werden. — Die ,,AVilhelm Hauffs
Märchen und Novellen" gewidmete Dissertation von J. Armandoff (München 1915)
vermag trotz einzelner dankenswerter Hinwaise (z. B. auf die Einwirkung Tiecks)
weder in bezug auf die Quellenfrage noch in den stilistischen und technischen Unter-
suchungen die Lücke der bisherigen Forschung, die gerade Hauffs Märchendichtung
noch wenig behandelt hatte, auszufüllen.
Von den beiden der Eichendorff-Forschung gewidmeten Arbeiten unter-
sucht R. Wesmeyers Marburger Dissertation (1915) über „J. v. Eichen-
dorffs satirische Novellen" unter Verwertung der Nachlaßhandschriften
eingehend die literarische Satire der Novelle „Viel Lärmen um nichts"
von 1832 besonders nach ihrer ästhetischen und sozialen Seite unter
Aufzeigung ihres Zusammenhanges mit den späteren Ausführungen über
Pseudoromantiker und Jungdeutsche in den literarhistorischen Schriften
und über Adel und Bürgertum im „Erlebten". In der politischen Sa-
tire „ Auch ich war in Arkadien geboren " werden gelehrter Doktrinaris-
mus, praktisch gewordene Aufklärung und liberaler Despotismus ver-
spottet, während das Märchen „Libertas und ihre Freier" die Er-
eignisse der Jahre 1848/49 vom katholischen Standpunkte beleuchtet
und von diesem aus in der bürgerlichen Klassenherrschaft vor allem
den Materialismus verurteilt. — Hilda Schulhoffs Untersuchungen
zu „ Eichendorffs Jugendgedichten aus seiner Schulzeit" (Prager dtsch.
Studien, Heft 23, 1915) kommen der germanistischen Forschung haupt-
sächlich mit den sechzig bisher unveröflfentlichten Jugendgedichten zugute,
die im Anhang abgedruckt werden, während der Hauptteil der Arbeit,
der eine Erklärung dieser poetischen Versuche im Sinne der psycho-
logischen Arbeiten von Hartmann und Schmidkunz und des großen
amerikanischen Werkes von Hall „ Adolescense" zu geben versucht, die
Ergebnisse der Jugendpsychologie zu fördern geeignet ist. — H. Schnei-
ders Breslauer Dissertation (1916) über „Chamissos Balladentechnik"
kommt an der Hand einer formalen und psychologischen Analyse der
Balladen zu dem nicht eben neuen Resultat, daß Chamisso, von Uhland
ausgehend, einen gewaltigen Schritt vorwärts und über sein Vorbild
hinausgetan habe, indem er die soziale Ballade schuf und im Gewand
102
der alten romantischen Ballade politische Töne anzuschlagen wußte. —
Weist Chamisso mit diesen Zügen schon mehr auf die realistisch-
tendenziöse Kunst der folgenden Jahrzehnte voraus, so gehört Nicolaus
Lenaus Dichtung und Weltanschauung ausschheßUch der Romantik an.
Mit den „Entwicklungslinien von Lenaus Weltanschauung", die W. Ale-
xander in seiner Greifswalder Dissertation (1915) zu ziehen versucht,
vermag der jugendliche Verfasser freilich nicht den Kern dieser von
Heimatlosigkeit erfüllten, zerrissenen und durch die Welt getriebenen
Dichterpersönlichkeit zu erfassen, doch verdient die vorsichtige Ver-
wertung des Quellenmaterials und das glückliche Vermeiden einer ge-
zwungenen Systematisierung im Verein mit einem guten Darstellungsstil
hervorgehoben zu werden. — H. Bischoffs eindringliches, freilich auch
ungemein breites Werk „N. Lenaus Lyrik. 1. Band. Geschichte der
lyrischen Gedichte", das erst Ende 1920 erschien und eine neue Epoche
in der Lenauforschung begründen dürfte, liegt außerhalb der Grenze
des Berichtes.
Als Lenau in vielem wesensverwandt läßt Emmy Ltickwalds Greifswalder
Dissertation „M. Solitaire. Ein Beitrag zur Geschichte des Weltschmerzes" (1917)
den Landsberger Arzt Woldemar Nürnberger erkennen, dem seit A. Sterns Skizze
von 1865 hier zum erstenmal eine Sonderuntersuchung gewidmet wird. Den innersten
Kern seines Wesens bildet ein tiefer im Gegensatz zu manchem Mode-Weltschmerzler
als wirkliches Erlebnis zu wertender Pessimismus, der in seinen egoistischen Elementen
hauptsächlich in der Lyrik und den persönlich gefärbten Eeisebildern zum Ausdruck
kommt rmd in seinen altruistischen Elementen sich in der düsteren Tragik seiner
Novellen als Auffassung vom menschlichen Dasein überhaupt widerspiegelt. — Als
ebenfalls von romantischen Anfängen ausgehend, aber nach schweren Kämpfen zu
den völlig entgegengesetzten Zielen und Anschauungen der Reaktionszeit führend,
stellt sich die Entwicklung Fr. von Sallets dar, dem Marie Hannes eine „Gesamt-
darstellung seines dichterischen Schaffens mit Ausnahme seiner religionsphilosophi-
schen Schriften" (München 1915) widmet, wobei der heute nur noch historisches
Interesse hervorrufenden Dichtung gegenüber besonders auf die allgemein vorbildliche
Wahrheits- und Freiheitsliebe des Mannes hingewiesen wird. — Eine Ergänzung nach,
der philosophischen Seite seiner Entwicklung hin erfährt die Forschung über Sallet
durch die Würzburger Dissertation von 0. Hundertmark: „F. von Sallet, ein
Dichterphilosoph" (1916), die das Hauptaugenmerk ihrer Darstellung auf den Ge-
dankengehalt der Werke und die in den philosophischen Schriften niedergelegten
Ideen richtet. Dabei wird die völlige Abhängigkeit von Hegels philosophischen An-
schauungen erwiesen und nur für einzelne Fragen sozialer Forderungen eine gewisse
Selbständigkeit aufgezeigt.
Mit Heinrich Heine gelangt die romantische Entwicklung zu einem
gewissen Abschluß, wenn sie auch noch in der Lyrik Mörikes u. a.
nachklingt und ihre Spuren stofflich und formal bis zur Gegenwart zu
verfolgen sind. Heines Werke liegen nunmehr in der neuen großen von
O. Walzel geleiteten Ausgabe des Inselverlags mit dem zehnten Bande (1915)
abgeschlossen vor, in einer Edition, die zwar nicht ausschließlich als
textkritisch anzusprechen ist, in ihrer Gesamtanlage aber, der Textver-
teilung im Sinne einer chronologischen Reihenfolge innerhalb geschlossener
Gruppen, der Einzelausführung und der Ausstattung, als vorbildlich zu
bezeichnen ist und die beste der vorhandenen Heineausgaben darstellt.
Besonders sei auch auf den freilich erst 1920 erschienenen Registerband
verwiesen, in dem P. Neuburger in entsagungsvoller Kleinarbeit auf
103
274 Seiten das Phänomen Heine in allen seinen menschlichen, lokalen
und geistesgeschichtlichen Beziehungen auseinanderlegt und damit ein
unentbehrliches Hilfsmittel für alle zukünftige Heineforschung an die
Hand gibt. — Mit dem von F. Hirth herausgegebenen Briefwechsel
Heines, der bis jetzt in zwei Bänden vorliegt, ist der wissenschaftlichen
Betrachtung eine überaus wertvolle Materialsammlung dargeboten worden.
Der erste Band (1914) reicht vom Februar 1815 bis April 1831, der
zweite (1917) vom Juni 1831 bis zum Dezember 1846. Der dritte
Band wird die Anmerkungen bringen, die bei den überreichen An-
spielungen Heines auf persönliche und öffentHche Verhältnisse erst das
letzte Verständnis der Briefe werden erschließen müssen, wobei freilich
noch eine schwierige Arbeit zu leisten sein wird. Die ausführliche Ein-
leitung berichtet eingehend über die früheren Ausgaben, wobei den
älteren Publikationen schwere Vorwürfe über Textnachlässigkeiten und
selbstbewußte Textentstellungen nicht erspart werden können, durch die
z. B. der Buchhändler Campe wie vor allem Maximilian Heine bisher
in einem viel zu günstigen Lichte erschienen waren. Der zweite Teil
bringt eine besonders auch durch den Vergleich mit Hebbel aufschluß-
reiche Würdigung des Briefschreibers Heine, während der Schluß einen
Einblick in die z. T. überaus schwierige Beschaffung des Materials gibt
und damit das Verdienst des Herausgebers noch deutlicher erkennbar
macht.
Von den vorliegenden Einzeluntersuchungen behandelt H. Mutz enbe eher in
einer Bonner Dissertation (1916) das Thema ,.H. Heine und das Drama" wenig er-
schöpfend und mit unbedeutenden Ergebnissen. Höchstens die Zusammenstellung
aller hierher gehörigen Äußerungen ist von einigem Wert. — Nicht ohne Verdienst
ist M. Schusters Programraschrift „Horaz und Heine" (Wiener-Neustadt 1916),
die den Einfluß des Römers als sehr viel größer, wie bisher zumeist angenommen
■\\airde, zu erweisen vermag.
E. Brauweiler gibt eine eingehende Darstellung von „Heines
Prosa'' (Bonner Forschungen, 9. Bd., 1915), indem er au der Hand der
Berichte über die französischen Zustände zu zeigen versucht, welche
Wandlungen die individuellen Stileigenheiten Heines erfahren haben in
ihrer Beziehung zum Subjekt, zum Objekt und zur äußeren Form, ge-
messen an einer „absolut objektiven, intellektuellen, konformen und
gemeinüblichen Rede". Worin diese besteht, wird freilich nicht aus-
einandergesetzt, so daß die fleißigen und genauen Untersuchungen, die
sicher im einzelnen zu beachtenswerten Ergebnissen führen, doch viel-
fach einigermaßen in der Luft hängen.
Die Mörikehteratur hat eine wertvolle Bereicherung erfahren durch
die neue Ausgabe des von H. W. Rath dargebotenen Briefwechsels
zwischen E. Mörike und M. von Schwind (Stuttgart 1919). Gegenüber
der ersten VeröffentUchung Baechtolds (1890) sind hier 28 bisher un-
gedruckte Briefe, meist aus dem Besitz der Tochter Schwinds stammend,
hinzugekommen ; auch konnten einige Stellen der früheren Ausgabe
berichtigt und die Veranlassung des Briefwechsels durch den Tübinger
Musikdirektor Otto Scheyer nachgewiesen werden. Die Einleitung und
Kommentierung bieten wenig; die spärlichen Erläuterungen und Nach-
104
weise sind recht störend in eckiger Klammer dem Text beigefügt. —
Weiterbin sind mehrere Einzelstudien zu nennen. Eine schematiscb-
statistiscbe, nach Elsters stiltheoretischen Prinzipien verfaßte Greifswalder
Dissertation von H. Kappenberg über den „Bildlichen Ausdruck in
der Prosa E. Mörikes" (191i) untersucht gründlich und fleißig die Bilder-
fülle, würdigt ihre ästhetische Bedeutung und hebt die Anschaulichkeit,
das Poesievoll-Künstlerische und das Eigenschöpferisch-Phantasievolle der
Bilder hervor. — E. Flad, „E. Mörike und die Antike'' (Dissert. Münster
1917) zeigt, wie sich die Beschäftigung Mörikes mit der Antike aus
dem Bildungsgange des Dichters ergibt. Homer, Horaz, CatuU, dann
besonders Theokrit sind seine Lieblinge, deren Einfluß in inhaltlicher
und formaler Beziehung nachgewiesen wird. Bei der Behandlung der
„Idylle vom Bodensee" hätte vielfach tiefer geschürft werden müssen. —
Sehr feinsinnig und fesselnd hat dagegen K. Adrians Arbeit über
„Wege der Gestaltung in Mörikes Maler Nolten und Mozart auf der
Reise nach Prag" (Dissert. Münster 1914) das Problem ergriffen. Mörikes
alle Handlung und alles Zuständliche in Stimmung auflösendes Sehen
wird auch für seine Erzählungen als maßgebender Faktor erkannt und
mit wertvollen Vergleichsblicken auf Storm, Hebbel, Stifter im einzelnen
überzeugend als gestaltendes Moment nachgewiesen.
Noch sei auf drei Dissertcationen hingewiesen, die sich mit der Geschichte dreier
romantischer Zeitschriften befassen. A. Kloß' gründliche und von exaliter methodi-
scher Schulung zeugende Leipziger Arbeit behandelt die „Heidelberger Jahrbücher
der Literatur in den Jahren 1808/16" (Probefahrten 24. Bd., 1916) unter vielfacher
Verwertung von ungedrucktem Material. Mit der Beschränkung auf die für den Geist
der Zeitschrift bezeichnendsten Fächer der Philologie, Geschichte, Literatur und Kunst
gibt ein erstes einleitendes Kapitel eine gute Analyse des allgemeinen Zeitcharakters,
sowie eine Schilderung des Lehrkörpers der Heidelberger Universität in den Jahren
1807—16, dessen Zusammensetzung insofern von Bedeutung für die Zeitschrift war,
als ihre Redaktoren wie Mitarbeiter zumeist dem Professorenkollegium angehörten.
An die eingehende Darstellung der äußeren Entwicklung des Unternehmens in bezug
auf die Gründung, die äußere Form, die Verlegerverhältnisse und die finanzielle
Fimdierung schließt sich die Aufhellung der inneren Geschichte an, wie sie sich unter
der Leitung der verschiedenen Redaktoren darstellt : unter Creuzer, der die Jahrbücher
zu einem raschen Höhepunkt zu bringen vermag, von dem sie aber mit dem Schluß
seiner Redaktionstätigkeit unter der Leitung von Bökh und "VVilken bald wieder auf
das Niveau der übrigen Literaturzeitungen herabsinken, womit gleichzeitig ein immer
stärkeres Ausscheiden des zunächst durchaus vorherrschenden romantischen Einflusses
bedingt ist. Der Anhang bringt eine Chronologie der einzelnen Hefte auf Grund des
zeitgenössischen Briefwechsels und der Redsktionsakten und fügt verschiedene Stücke
von diesen sowie einigen für die Geschichte der Zeitschrift besonders wichtigen Briefen
im Abdruck bei. — Eine ähnliche Arbeit sucht F. Blums Münchener Dissertation
(1914) m.it dem Titel „Die Musen. Eine norddeutsche Zeitschrift hrsg. von F. Baron
de la Motte Fouque und Wilhelm Neumann •"■ zu leisten, die nach einem kurzen Über-
blick über die Geschichte der Zeitschrift die einzelnen Beiträge, nach wissenschaft-
lichem, poetischem und kritischem Inhalt geordnet, in bezug auf ihre Verfasser ein-
gehend betrachtet, wobei bisher ungedrucktes Material vielfach gute Anhalte zu geben
vermag. Der Versuch, das Unternehmen von der organisatorisch - wirtschaftlichen
Grundlage zu analysieren und eine innere Geschichte desselben mit vergleichsweisem
Umblick auf ähnliche Erscheinungen zu geben, wie er bei Kloß zu so guten Resultaten
geführt hat, wird aber leider nirgends unternommen, — Erwähnt sei in diesem Zu-
sammenhange schließlich noch die Bonner Dissertation von F. Rhein ,,Zehn Jahre
historisch-politische Blätter", die die Entstehung und Entwicklung dieses so viel an-
105
gefeindeteu katholischen Preßorgans verfolgt, das von Görres patronisiert und seinem
Sohne Phili|)p herausgegeben wurde, und in dem besonders auch Eichendorf mit zahl-
reichen Beitriigou vertreten ist.
§ 10. Die führenden Dramatiker des 19. Jahrhunderts
Als Grundlage für die Kleist forscliung wird stets die von
Erich Schmidt in Verbindung mit Minde-Pouet und Steig im Verlag
des Bibliographischen Institutes herausgegebene Ausgabe dienen. Doch
steht auch die neue Kleistausgabe des Verlags Hesse & Becker, die von
K. Siegen unter Mitwirkung von R, Schlösser und 0. Walzel besorgt
wurde (Leipzig 1914), mit ihrer völlig umgearbeiteten Biographie und sorg-
fältigen Textredaktion durchaus auf dem Stande der letzten Forschungen. —
Für die Einschätzung der Gesamtpersönlichkeit des Dichters scheint
glücklicherweise die Epoche vorbei zu sein, die, begünstigt durch den
Mangel quellenmäßiger Nachrichten , uns eine Zeitlang die verschieden-
sten „Auffassungen" bescherte. Nur die Leipziger Dissertation von
W. Willige, „Klassische Gestaltung und romantischer Einfluß in den
Dramen H. von Kleists" (Heidelberg 1915) tritt noch mit jenem An-
spruch auf, das Verständnis Kleists auf eine neue Basis zu stellen, wobei
die vielfach einseitige und willkürliche Auffassung, die zum Teil mit
der aus dem Gundolf-Georgekreise bekannten Terminologie arbeitet, nur
zu einem geringen Ertrag führt.
J. K. Blankenagel, „The attitude of H. v. Kleist toward the problems of
life" (Hesperia 9. Bd., Göttingen 1917) will die Anschauungen des Dichters über
Religion, Schicksal, AVillensfreiheit, Frauen, Tugend, Pflicht und Staat schildern, kommt
aber über eine fleißige Stoffsammlung nicht hinaus.
Von größter Bedeutung ist dagegen E. Cassirers Vortrag
„H. von Kleist und die Kantische Philosophie" (Philosophische Vorträge,
veröffentlicht von der Kantgesellschaft Nr. 22, Berlin 1919), wohl der
wertvollste Beitrag zur Kleistforschung der letzten Jahre überhaupt.
!Mit eindringendem Verständnis für die künstlerische und menschliche
Eigenart Kleists wie nicht minder für seine geistige Umwelt wird hier
aufgezeigt, wie für den bekannten seelischen Zusammenbruch nicht das
Werk Kants selbst — das Kleist schon vorher durchaus vertraut war —
bestimmend wurde, sondern die Kants Phänomenalismus ins schroff
Subjektivistischc wendende Schrift Fichtes „Die Bestimmung des Men-
schen", wonach sich für Kleist tatsächlich alle Werte in Illusionen auf-
lösen mußten. Damit vollzieht sich durch ein gedankliches Erlebnis
die innere Wendung in Kleist von dem traditionellen Optimismus seiner
Jugendphilosophie zu der ihm eigenen dichterischen, tragischen Welt-
anschauung, was zugleich das volle Bewußtwerden seiner produktiven dich-
terischen Kräfte bedingt. Die spätere Einwirkung der ethischen Prinzipien
Kants wird überzeugend am „Prinzen von Homburg" nachgewiesen. —
Von den vorliegenden Spezialuntersuchungen zu einzelnen \\'erken haben
H. Schneiders „Studien zu H. von Kleist" (Berlin 1916) die meiste
Beachtung erfahren, was in zahlreichen äußerst ausführlichen, z. T. jedoch
ablehnenden Kritiken zum Ausdruck kommt. Da das Für und Wider
106
hier nicht erörtert werden kann, sei besonders auf folgende Besprechungen
verwiesen: Litbl. 1920, 232/40 (E. Wolfi), A. f. d. A, 40 (R. Riemann),
Lit. Centralbl. 67, 222/3 (J. Körner); vor allem aber kommt hier der
Aufsatz W. Richters „Alte und neue Probleme der Kleistforschung"
in Betracht (D. Litz. 1916, Nr. 10 u. 11), von dessen 37 Seiten nicht
weniger als 34 der Kritik des Schneiderschen Buches gewidmet sind,
wobei zugleich wertvolle Hinweise für die weitere Forschung gegeben
werden. Im letzten Teil seiner Arbeit weist Schneider auf verschiedene,
bisher übersehene oder mißachtete Quellen hin, die sich aus Kleists
spanischer Lektüre ergeben, während J. Petersens Studie über
„H. von Kleist und Torquato" (Z. f. d. U. 31. Jahrg., H. 6) den Einfluß
des italienischen Dichters mit philologischer Exaktheit und sorgfältiger
x4.bwägung zwischen bewußter und unbewußter Abhängigkeit klarlegt.
Mit Recht weist er dabei auch auf die mangelnde Beweiskraft der Be-
hauptungen Frida Tellers (Neue Studien zu H. v. Kleist, Euph. 20, 4)
hin, die mit ihren sonst vielfach schätzenswerten Nachweisen über Kleists
Beziehungen zur Musik und die musikalischen Formprobleme seiner
Kunst aber eine methodisch gefahrliche Bahn betritt, indem eine will-
kürlich aufgestellte These zur Erklärung des Guiskard-Fragmentes als
Musikdrama herangezogen wird. — Die fleißige, aber in ihr Problem
verraunte Untersuchuog von H. Behme, „H. von Kleist und C. M. Wie-
land" (Lit. u. Theater, hrsg. v. E. Wolff, H. 1, Heidelberg 1914), die
im einzelnen manches entschieden Beachtenswerte zutage fördert, ist in
ihrer Gesamtauffassung einer starken Abhängigkeit Kleists von Wieland
unhaltbar. Hier zeigt sich einmal deutlich, zu wie schiefen Resultaten
man trotz gewissenhafter Eiuzeluntersuchuug gelangen kann, wenn das
Verständnis geistesgeschichtlicher Zusammenhänge so wenig vorhanden
ist, daß z. B. der Wahrheits- und NaturbegrifF des Sturmes und Dranges
mit dem aufklärerischen Wielands gleichgesetzt Avird, dessen Schilde-
rungen weiblicher Afickte das Vorbild für einen so leidenschaftdurch-
glühten Charakter wie Penthesilea ergeben haben sollen. — In F. Kanters
Dissertation „Der bildliche Ausdruck in Kleists , Penthesilea ' " (Jena
1914) ist das Bestreben anzuerkennen, gegenüber den vielfach äußerlich
schematisierenden Arbeiten mit ähnlicher Fragestellung zu einer ver-
tieften Betrachtungsweise aus dem Zusammenhang des Ganzen zu ge-
langen, wobei nur leider ein stark konstruktiver Zug der Auffassung
und eine gewisse stilistische Schwerflüssigkeit die Lektüre erschweren. —
G. Buchtenkirchs Arbeit über Kleists Lustspiel „Der zerbrochene
Krug" auf der Bühne (Lit. u. Theater, 2. H., Heidelberg 1914) gibt
neben der Betonung des märkischen Lokalcharakters eine gute Analyse
des Bühnenwirksamen und eine die Tatsachen in ein neues Licht rückende
Untersuchung über den Mißerfolg des Stückes in Weimar, der in dem
Gegensatz zwischen dem erstarrten Idealstil der Weimarer Bühne und
den Erfordernissen eines neuen realistischen Darstellungsstiles für das
Kleistsche Lustspiel zu suchen sei. Die folgende Schilderung des Fort-
lebens des Stückes in den verschiedenen Bühnenbearbeitungen wird
durch die Betonung der diesen zvxgrundeliegenden, der jeweiligen Bühnen-
107
tradition entsprechenden Stilbestrebungen zu einem wertvollen theater-
geschichtlicheu Beitrag. — Von den der Erzäblungskunst Kleists ge-
widmeten neuen Untersuchungen entspricht der Ertrag der Arbeit von
J. Bat he, „Die Bewegungen und Haltungen des menschlichen Körpers in
H. von Kleists Erzählungen" (Diss. Tübingen 1917 ) nicht so recht der Mühe,
die die hier angewandte Groossche statistische Methode erfordert. — Da-
gegen gelangt K. Wächters Buch „Kleists Michael Kohlhaas, ein Bei-
trag zu seiner Entstehungsgeschichte" (Forschungen z. Litg., 52. Bd.,
Weimar 1918) in eindringender und scharfsinniger Nachprüfung aller
quellen- und textkritischen Fragen zu einer klaren Aufrollung der all-
mähhchen Entstehungsgeschichte, deren drei Phasen bestimmt werden
durch das zunächst rein ethische Problem, zu dem das Rachemotiv in
der zweiten und die politische Tendenz mit dem Bekenntnis zum Preußen-
tum in der dritten Fassung hinzutritt.
Die Aufsätze von B. Luther, „H. voa Kleists Patriotismus und Staatsidee"
(Neue Jahrb. 37, 1916) und G. Fittbogeu, „H. von Kleists vaterländische Dich-
tungen" (Deutsche Rundschau 43. Bd., 1917), sowie die Abhandlung von M. Fischer,
„H. von Kleist, der Dichter des Preußentums" (Stuttgart 1916), waren aus dem
nationalbeschwingten Geiste ihrer Entstehungszeit geboren.
Von der großen von August Sauer herausgegebenen Grillparzer-
ausgabe (1909 ff.) hat nur die zweite und dritte Abteilung inzwischen
eine Förderung erfahren. Als 7. und 8. Band der zweiten Abteilung
liegen die „Tagebücher und hterarischen Skizzen" von 1808 — 1830
(1914 und 1916 erschienen) vor, chronologisch geordnet und damit
gegenüber früheren sachlich gegliederten VeröfFentlichungon eine Fülle
neuer fruchtbarer Anregungen bietend. In dieser Zusammenstellung
gleichen die auf lose zerstreut liegenden Blättern fixierten Einfälle
und Gedanken, Zitate, Lesefrüchte, Pläne und Entwürfe den Aufzeich-
nungen Hebbels, den Studienheften von NovaHs oder den Aphorismen-
büchern Lichtenbergs, dessen überraschend starken Einfluß auf Grill-
parzer Sauer bedeutsam hervorhebt. Für die Briefe, Dokumente und
Aktenstücke ist eine neue, 3. Abteilung der Ausgabe eröffnet wor-
den, der sich auch das Generalregister anschließen soll. — Der erste
Band der „Briefe und Dokumente" von 1797 — 1826 folgt technisch
den Ausgaben der Briefe Kants, Herbarts, Uhlands, Platens , indem
er auch die an den Dichter gerichteten Schreiben mit aufnimmt, wo-
durch Grillparzer tatsächlich „weit weniger isoliert erscheint, als man
sich ihn für gewöhnlich vorzustellen pflegt". Der sechste Band (1915
erschienen) bietet mit den „Aktenstücken" (1813 — 1856) ein Bild von
der Amtstätigkeit des Dichters, der 43 Jahre lang Tag für Tag die
besten Stunden dem Dienste der österreichischen Finanzverwaltung widmen
mußte! Aus der Masse der in dieser langen Dienstzeit von Grillparzer
bearbeiteten Akten sind charakteristische Proben zum Abdruck gebracht
und alles übrige, soweit es sich in mühevoller Durcharbeitung der in
Betracht kommenden Materialien feststellen heß, ist nach Inhalt und
Umfang in Regestenform verzeichnet. Die Einleitung entwirft in knappen
Zügen ein Bild dieser amtlichen Tätigkeit, — Mit dem 20. Bande der
108
„Schriften des literarischen Vereins in Wien" nähert sich die gleichfalls
von A. Sauer besorgte, alle bisherigen Ausgaben und Werke ergänzende
Publikation „Grillparzers Gespräche und die Charakteristiken seiner
Persönlichkeit durch die Zeitgenossen" mit den Zeugnissen von 1871/72
und den Nachträgen ihrem Ende; nur ein Anmerkungsband soll noch
nachfolgen. — Durch das langsame Weitererscheinen der Ausgabe und
die leider immer noch durchgeführte Sperrung des Grillparzerarchivs
ist die Einzelforschung in den Berichtsjahren nur mit fünf größeren
Arbeiten vertreten. Vorangestellt sei die Festgabe zu A. Sauers 60. Ge-
burtstage: „Grillparzers Ahnen" (1915), in der Payer von Thurn
in glücklicher Anknüpfung an des Jubilars eigene „ Studien zur Familien-
geschichte Grillparzers" ein Musterbeispiel schwierigster archivalischer
Forschung gibt, ein Gebiet, das dem Literarhistoriker meist ferner zu
liegen pflegt und das bei dem heute immer stärker betonten Werte der
Stammes- und Familienforschung größere Beachtung verdiente. —
H. Geißlers Münchener Dissertation „Grillparzer und Schopenhauer"
(1915) zeigt auf Grund der Übereinstimmungen zwischen dem Dichter und
dem Philosophen, daß zahlreiche enge und wichtige Beziehungen bestehen
und zwar in ungleich größerem Maße, als man gemeinhin anzunehmen
pflegte. Gut wird dabei herausgearbeitet, wie wohl einesteils der direkte
Einfluß evident erscheint, andrerseits aber der Grund der Übereinstim-
mung tiefer zu suchen ist: nicht in unmittelbarer Abhängigkeit, nicht
in gemeinsamen Vorbildern, sondern in den allgemeinen Anschauungen
imd den immanenten Lebensgefühl der Zeit. — H. Brauns Arbeit über
„Grillparzers Verhältnis zu Shakespeare" (Diss. München 1916) ver-
folgt die Entwicklung dieses Verhältnisses von dem rein Stofflichen
der ersten tastenden Jugendversuche über eine Stufe technisch - formaler
Gefolgschaft bis zu der Epoche eines inneren Anschlusses, wo der eng-
hsche Dramatiker zum Vorbilde wird, von dem Grillparzer, ohne nach-
zuahmen, zu lernen vermochte und das mit klärender Einwirkung
auf seine künstlerische Auffassung sein eigenes Schaffen vertiefte. —
K. Bestes Abhandlung „Grillparzers Verhältnis zur politischen Tendenz-
dichtung seiner Zeit" (Diss. München 1915) bedeutet eine erwünschte
Ergänzung zu der Marburger Dissertation von W. Bücher über
„Grillparzers Verhältnis zur Politik seiner Zeit" (1913), indem sie der
Charakteristik des Menschen und Politikers als eines josephinisch er-
zogenen Österreichers, eines kirchlich loyalen Wieners und eines mit
reichsdeutscher Art im wesentlichen zerfallenen Partikularisten eine
Untersuchung seiner ästhetisch - formalen Stellung zum Problem der
politischen Poesie hinzufügt. Danach ist für Grillparzer eine mehr
oder minder schroffe Ablehnung der einzelnen literarischen Erscheinungen
dieser Art besonders wegen ihres Mangels an rein menschlichen Pro-
blemen nachweisbar, obwohl er selbst in eigenen politischen Gedichten
die an anderen gerügten Fehler durchaus nicht immer vermieden hat.
In seinen Dramen erscheinen dagegen solche Probleme ganz vom Streit
der Tagesmeinungen geläutert und in die Sphäre reiner Dichtkunst er-
hoben. — L. Hradeks „Studien zu Grillparzers Altersstil und die
109
Datierung des Estherfragments" (Prager deutsche Studien 24. Bd., 1915)
suchen die undatierten Esthertragmente auf stilkritischem Wege chrono-
logisch zu bestimmen.
Während Kleist und Grillparzer bereits im letzten Viertel des
19. Jahrhunderts zu voller literargeschichtlicher Würdigung gelangt
waren, ist den beiden großen Dramatikern der Übergangszeit vom
Klassizismus zum Realismus, Büchner und Grabbe, erst verhältnismäßig
spät die künstlerische Anerkennung und wissenschaftliche Beachtung
zuteil geworden. Den fast vergessenen Namen Georg Büchners
hatte zunächst nur die Sozialdemokratie — freilich unter einseitiger Be-
tonung des sozialen Vorkämpfers und Revolutionärs — wieder zu Ehren
gebracht; Chr. D. Grabbes barocke Persönlichkeit veranlaßte erst
die wesensverwandtere Generation seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts
zu tieferem Eindringen. Die letzten Jahre haben zwei wertvolle Bei-
träge zur Forschung aufzuweisen. M. Zobel von Zabeltitz' ge-
haltvolles Buch „Georg Büchner, sein Leben und Schaffen" (Bonner
Forschungen, N. F. 8. Bd., 1915) gibt mit sicherer Klarheit eine bio-
graphische Darstellung des zerrissenen, von heißer Leidenschalt durch-
wühlten Jünglings, der sich mit Hilfe des „erbarmungslos scharfen
Blickes des Mediziners und Naturforschers" zur Meisterung des Lebens
durchringt, und untersucht seine Individualität im Zusammenhang mit
der politischen Zeittendenz, mit der Vereinsamung des Ichs, im Ver-
hältnis zu Natur und Universum. — W. Schulte wendet sich mit
seiner Münsterischen Dissertation „Chr. D. Grabbes Hohenstaufendramen"
(1917) mit Erfolg wieder der kritischen Würdigung der dichterischen
Werke Grabbes zu, nachdem die frühere Forschung sich viel zu viel
mit ausführlichen Psychogrammen beschäftigt hatte. Lehrreich ist be-
sonders die Charakteristik der Schafi'ensart, durch die manche bisherige
Urteile übei'zeugend berichtigt werden; neu die Aufhellung des Zu-
sammenhanges mit Justus Moser und der Nachweis mehrerer Quellen. —
Die Dissertation H. von Eis „Grabbe als Kritiker" (Marburg 1917)
bespricht in chronologischer Anordnung die einzelnen kritischen Äuße-
rungen des Dichters und sucht sie aus seiner Persönlichkeit zu erfassen,
wobei eine vertieftere literarhistorische Betrachtung wohl manches schiefe
Urteil besonders über die „Shakespeare-Manie" berichtigt haben würde.
Die grundlegende Ausgabe für die Hebbelforschung bleibt diejenige
R. M. Werners, deren dritte vielfach verbesserte Auflage eigentlich
zu Hebbels hundertstem Geburtstage abgeschlossen vorliegen sollte. War
sie damals (1913) bis zum 14. Bande vorgerückt, so ist sie nunmehr
zu Ende geführt worden. Doch hat R. M. Werner, durch ein tragisches
Geschick verhindert, nicht mehr den Schlußstein in diesen seinen Lebens-
bau einfügen können; die letzten beiden Bände des Anhanges sind in
seinem Sinne von Julius Wähle bearbeitet worden. Die wichtigste
Ändei'ung dieser dritten Auflage gegenüber den beiden ersten besteht
in der Trennung des Textes vom kritischen Apparat, welcher mit den
Anmerkungen in drei Ergänzungsbänden zu den zwölf Textbänden zu-
sammengefaßt ist, während ein vierter Band alles inzwischen neu-
110
erschlossene Material bringt. — Als Ergänzung zu dieser Ausgabe tritt
die seit 1911 im Erscheinen begriffene von P. Bornstein muster-
haft besorgte „Säkularausgahe von Hebbels sämtlichen Wex-ken nebst den
Tagebüchern und einer Auswahl der Briefe. München u. Leipzig", von
der außer den beiden vor dem Kriege erschienenen Bänden unterdessen
vier weitere Bände (1914: III u. W, 1921: V u. VI) hervorgetreten
sind. Diese Ausgabe ist — wie der Horen-Schiller und der Propyläen-
Goethe desselben Münchener Verlages — auf dem chronologischen An-
ordnungsprinzip aufgebaut mit Einschluß der vollständigen Tagebücher
und der wichtigeren Briefe. Auf diese Art ist es in überraschender
Deutlichkeit möglich, das außergewöhnliche Werden dieser Dichter-
persönlichkeit zu verfolgen, zumal die wissenschaftliche Zuvei-lässigkeit
und der feinsinnige Takt des Herausgebers die vielfach äußerst schwie-
rige Datierungsfrage überall glücklich gelöst hat. Dabei gehen die
Anmerkungen in eigener Forschung wie in der Verwertung der ein-
schlägigen Literatur zum Teil weit über R. M. Werners Feststellungen
hinaus. — Die Einzelforschung hat sich den verschiedensten allge-
meineren und besonderen Problemen philosophischer, stilistischer und
philologischer Richtung zugewandt. Die an sich gut geschriebene,
ideen- und beziehungsreiche Arbeit von Klara Hof er „Friedrich
Hebbel und der deutsche Gedanke" (Stuttgart 1916) steigert Hebbel
leider so ins Mystisch - Symbolistische hinein , daß auch die das ganze
Buch durchziehende ehrliche Begeisterung für den Mangel an philo-
sophischer und literarhistorischer Schulung nicht zu entschädigen ver-
mag. — Gut fundiert auf einer vollständigen statistischen Material-
sammlung im Sinne der Groosschen Methode ist dagegen die Tübinger
Dissertation von J. G. Wenter „Die Paradoxie als Stilelement im
Drama Hebbels (1915), die im Anschluß an den Aufsatz von Groos
über „Den paradoxen Stil in Nietzsches Zarathustra" (Ztschr. f. an-
gewandte Psychologie, Bd. VIII, 1913) verfaßt ist. Das paradoxe Aus-
drucksraoment, das für Hebbel in sieben Dramen mit 544 Fällen belegt
werden kann, entspricht dem innersten Wesen dieses Dichters, seinem
Mangel an innerer Harmonie, seiner Kampfstellung, seinem Bedürfnis nach
konzentrierter Rede, seiner scharfen Ironie, aber auch dem ästhetischen
Bedürfnis, in die große Spannung der Handlung fortwährend kleinere
Spannungen einzustreuen. — „Hebbels Anschauungen über die ältere
deutsclie Literatur" nimmt Emilie Loose zum Gegenstand einer be-
sonderen Untersuchung (BerUn 1919, Teildruck Diss. Heidelberg 1917),
bei der das Wort „ältere" freilich nicht im Sinne der fachmäßig
üblichen Beschränkung auf die ahd. und mhd. Periode zu verstehen ist.
Sie gibt zunächst in möglichster „Objektivität, Anschaulichkeit und Voll-
ständigkeit" Hebbels Bild vom Gange der literarischen Entwicklung bis
zum Ausgang der Klassiker, die versteckten Äußerungen aus Werken,
Tagebüchern und Briefen nach dem historischen Verlaufe der deutschen
Literatur ordnend und der Lektüre Hebbels, seinen Zitaten und Urteilen
über einzelne Erscheinungen besondere Beachtung schenkend. Aus der
Gesamtheit aller dargestellten Äußerungen werden dann in vorsichtig
111
abwägender Beurteilung Rückschlüsse auf" die Eigenheiten der Hebbel-
schen Anschauungsweise gezogen. — Das Buch von E. Tannenbaum,
„Hebbel und das Theater" (Hebbel -Forschungen Nr. 7, 1915) unter-
sucht, wieweit sich Hebbel mit den Bedingungen der Bühnenkunst ab-
findet, welche Elemente für Inszenierung, Schauspielkunst und Publikum
er mitbringt, in welcher Weise er* der Umsetzung des schriftlich fest-
gelegten Dramas in der szenischen Erscheinungsform entgegenkommt
oder inwiefern er sich ihr widersetzt. Zur Sicherstellung der Resultate
werden die Nachlese- und Soufflierbücher mit Erfolg verwertet. — In
methodisch vorbildlicher Art der Untersuchung und erfreulich klarer
Darstellung prüft R. Ebhardts Buch „Hebbel als Novellist" (Berlin 1916)
den Inhalt der Erzählungen nach Motiven, Charakteren, Weltanschauung
sowie nach Form, Komposition, Charakteristik und Darstellung. Über-
zeugend werden die literarischen Einflüsse, vor allem derjenige Contessas,
nachgewiesen. Besonders ansprechend ist auch das Kapitel über die
„Psychologische Begründung" der Novellen aus dem Charakter des
Dichters und den damaligen Verhältnissen. Vielleicht hätten die von
R. M. Werner im 8. Bande mitgeteilten Pläne noch eine Berücksichtigung
erfahren sollen. — Auch Emilie Hoestermanns „Beiträge zur Technik
in Hebbels Tagebuch" (Diss. Bonn 1917) bieten mit ihrer künstlerischen
Bewertung des Tagebuches eine wertvolle Ergänzung der Hebbelliteratur.
Die Geschlossenheit desselben liegt in der Persönlichkeit Hebbels, es
soll den Weg seiner Entwicklung zeigen ; daher das Fehlen von Tages-
notizen, Daneben aber finden sich Aneinanderreihungen, die verschiedene
Lösungsversuche desselben Problems darstellen, Lektürestellen, die sich
aus Gleichklang mit oder Protest gegen eigene Ansichten oder als
Parallelen zu dem eigenen Leben einprägten, schließlich äußerliche Ideen-
assoziationen, die aber durch ihre Erläuterungskraft bedeutsam für
Hebbel werden. — Die Bonner Dissertation von H. Bender über
„Hebbels Ditbmarschenfragraent" (1914) kommt auf Grund einer ge-
nauen Durchsicht und Prüfung der Handschriften zu einer durchaus
überzeugenden, die Wernersche Anschauung als unhaltbar erweisenden
Neuanordnung des Fragmentes. — Ebenso vermag A. H. Saedlers
Untersuchung über „Hebbels Moloch" (Forschungen zur neueren Litgsch.,
51. Bd., 1916) mit genauen neuen Lesungen der Handschriften R. M.
Werners Text nicht unwesentlich zu berichtigen und gute Deutungs-
versuche beizubringen. — Auch der Lyriker Hebbel ist Gegenstand der
Forschung gewesen, indem W. Jahn in seiner Leipziger Dissertation
(1916) die „Dramatischen Elemente in Hebbels Jugendballaden" heraus-
zuarbeiten bemüht war. Er zeigt die Verwandtschaft der „inneren
Form " zwischen Hebbels dramatischen und balladesken Dichtungen auf
und verfolgt die Entwicklung der Jugendballaden von den ungeschickten
konventionellen Nachahmungen fremder Vorbilder bis zu dem Meister-
werk „Schön Hedwig", von wo aus es nun bloß noch eines, eine reichere
Entfaltungsmöglichkeit bietenden Stoffes bedarf, um den engen Kreis
der Ballade zur Tragödie großen Stiles zu erweitern. — Einen Beitrag
zu Hebbels Charakteristik als Politiker und nationaler Schriftsteller
112
bietet schließlich eine auf sorgfaltigster Sammlung des gesamten nicht
leicht zugänglichen Materials an Zeitungen, Witzblättern, Schmäh- und
Drohschriften beruhende Arbeit P. Krischs mit dem Titel „Hebbel
und die Tschechen. Das Gedicht An S. Maj. König Wilhelm von
Preußen. Seine Entstehung und Geschichte" (Prager Dtsche. Studien,
H. 22). Mit ihrer Beleuchtung der historischen Grundlagen gibt sie ein
interessantes Bild aus dem österreichischen Nationalitätenkampf.
Für das wissenschaftliche Studium des Gesamtschaffens Otto Lud-
wigs lagen die Grundlagen lange im Argen, vor allem deshalb, weil die
wenigen von diesem größten Fragmentisten der deutschen Literatur bei
Lebzeiten veröffentlichten Werke nur einen geringen Bruchteil seiner Lebens-
arbeit darstellen und bei weitem das meiste nur in handschriftlicher Fas-
sung vorliegt. Wenn auch niemand daran denken kann, diesen gewal-
tigen Nachlaß mit seiner Überfülle skizzierter und halbvollendeter Dich-
tungen dem Druck zu übergeben (was etwa 100 Bände füllen würde),
so hat die Wissenschaft doch die Pflicht, sich näher mit diesem von
quellender Phantasie und schärfster Selbstkritik hin und hergeworfenem
Dichtergeschick zu beschäftigen. Nachdem bald nach Ludwigs Tod
G. Freytag und vor allem die treue Freundeshand Moritz Hejdrichs
aus diesem literarischen Scherbenberg manches an Dichtungen und
Studien herausgezogen hatte, gab 1891 die von Erich Schmidt unter-
stützte sechsbändige Ausgabe A. Sterns erstmalig die Möglichkeit, tiefer
in das künstlerische Schaffen Ludwigs hineinzublicken. Die unphilo-
logische Textbehandlung Sterns, die nicht selten den Wortlaut Ludwigs
zu bessern suchte und gelegentlich ganze Sätze und Verse strich, be-
deutete freilich einen recht unsicheren Boden, den V. Schweitzer 1896
wenigstens für die Hauptwerke in seiner dreibändigen in der Text-
behandlung selbständigen Ausgabe fester zu fundieren suchte. Aber
erst die große gemeinsam mit dem Goethe- und Schillerarchiv und nam-
haften Gelehrten herausgegebene Ausgabe P. Merkers (München
19 12 ff.), die von all den zahlreichen Fragment gebliebenen Dramen,
Novellen und sonstigen Schöpfungen wenigstens eine Fassung mitteilen
und im Apparat Bericht über den meist komplizierten Entwicklungs-
gang der einzelnen dichterischen Versuche geben wird, darf mit dem
Anspruch auftreten, gesicherte Grundlagen für das wissenschaftliche
Studium dieser Dichterpersönlichkeit zu bieten. Nachdem vor dem Be-
richtszeitraum die beiden ersten Bände hervorgetreten waren, ist unter-
dessen diese Ausgabe auf sechs Bände angewachsen. Der 3. Band
(1914), je zur Hälfte von Merker und H. H. Borcherdt besorgt, brachte
den Roman „Zwischen Himmel und Erde" und Novellenfragmente. Im
selben Jahre trat auch der Erbförsterband (6.) hervor, der dem Ge-
samtplane folgend wenigstens einmal an einem Werke dieses Dichters
die lückenlose Entstehungsgeschichte mit allen ihren tastenden Versuchen
und zahlreichen Umarbeitungen vorführen und damit einen Einblick in
die Arbeitsweise dieses Dichters und die Technik des Kunstschaffens
überhaupt bieten sollte. So veröffentlicht Merk er hier neben dem
kritisch gesäuberten Text des Erbförsterdramas erstmalig auf 280 meist
Wissenschaftliche ForschuBgsberichte VUI. 8
113
in Petit gesetzten Seiten nicht nur ein den ersten Ausgangspunkt der
etwa zehn Jahre umfassenden Entstehungsgeschichte bildendes abge-
schlossenes Drama „Die Waldburg", dessen ganz andere Motivwelt nur
in erst ganz leisen Ansätzen das spätere Erbförsterdrama ahnen läßt,
sondern auch über ein Dutzend im einzelnen oft bereits weit gediehener
Entwürfe und Pläne, deren innere Zusammenhänge und langsame Motiv-
wandlung im Zusammenhang mit den äußeren meist von E. Devrient
ausgehenden Anregungen die ausführliche Einleitung dieses Bandes ein-
gehend darlegt. War während des Krieges eine Portführung nicht
möglich, so konnten nach längerer Pause 19 '2 2 zwei neue Bände die.ser
Ausgabe hervortreten. In Band IV ließ H. II. Borcherdt (der Haupt-
mitarbeiter Merkers) den Lyriker Ludwig auferstehen , indem er neben
den bereits bekannten Gedichten zahlreiche lyrische Schöpfungen erst-
malig zum Abdruck brachte. Auch hier sucht der ausführliche Apparat
mit allen Mitteln philologischer Akribie der Entstehungs-, Handschriften-
und Druckgeschichte der einzelnen Gedichte nachzugehen. Wenn auch
vom künstlerischen Standpunkt aus gesehen das lyrische Schaffen Lud-
wigs die schwächste Seite seines dichterischen Schaffens bildet, so fallen
doch auch von diesem Bande viele neue Lichter auf die geistige Eigen-
art dieses Dichters, zumal im ganzen über 240 Gedichte (also etwa das
Dreifache der Sternschen Ausgabe) hier gesammelt erscheinen. Der
kritische Abdruck des „Hans Frei" beschließt diesen Band, dem sich
— von Expeditus Schmidt herausgegeben — der 5. anreiht, der die
Jugenddramen „Die Torgauer Heide", „Die Rechte des Herzens",
„Das Fräulein von Scuderi", „Die Pfarrrose" in gereinigter Gestalt dar-
bietet und wiederum in den beigefügten Lesarten und Entwürfen wich-
tiges neues Material zur Entstehungsgeschichte dieser Jugendschöpfungen
bringt.
Angeregt durch die neue Ludwigausgabe und von deren Heraus-
geber verschiedentlich gefördert haben zwei Greifswalder Dissertationen
sich um die nähere Erforschung einzelner Fragmente gemüht. B. Fischers
verständnisvolle Arbeit über „O. Ludwigs Trauerspielplan: Der Sand-
wirt von Passeier und sein Verhältnis zu den Shakespearestudien" (1916)
bestimmt die in mehreren Heften verteilten Niederschriften nach ihrer
zeitlichen Reihenfolge, legt die Entwicklung des Planes dar, weist die
historischen Quellen nach und untersucht das Verhältnis zu den in Frage
kommenden anderen Hoferdichtungen. Nach einer eingehenden Dar-
stellung der Skizzen wird ihre Beziehung zu den Shakespearestudien be-
handelt und im Verlaufe der Untersuchung die völlige Übereinstimmung
zwischen Theorie und Praxis aufgezeigt. — Margarete Mählichs Erst-
lingsschrift „Otto Ludwigs Romanplan Dämon Geld und sein Verhältnis
zu den Romanstudien" (1918) vermag nach genauer Datierung der
zahlreichen handschriftlichen Skizzen und Entwürfe drei Arbeitsstufen
zu scheiden, aus deren letzter, wenn dem Fragment ein Ausreifen beschieden
gewesen wäre, „sicher ein autobiographischer Roman hervorgegangen wäre,
der mit zu Ludwigs bedeutendsten Werken gehört hätte." Ahnlich wie
bei Fischer wird dann der Gang der Handlung mit den wichtigsten
114
Ergänzungen und Abweichungen der einzelnen Skizzen herausgeschält,
das Fragment in Beziehung zur zeitgenössischen Erzählungshteratur ge-
setzt und die Übereinstimmung mit der Theorie der Romanstudien er-
wiesen. — Zwei weitere Arbeiten wenden sich technischen Problemen
der Ludwigforschung zu. H. Fresdorfs Straßburger Dissertation ,,Die
Dramentechnik 0. Ludwigs" (19 15) verfolgt die Entwicklung der Cha-
rakterisierungskunst bis zum Höhepunkt des ., Erbförsters '• und erkennt
im Dialog eine Entwicklung von realistischer Gesprächsführung zu einem
poetischen ReaHsmus mit innerlich motivierter Gedankenfülle. — R. Lind-
ners Arbeit „Das technische Problem von Ort und Zeit in den Dramen und
dramatischen Theorien von O. Ludwig" (Dissert. Basel 1918) kann für
dieses technische Sonderproblem ebenfalls eine deutlich aufsteigende Ent-
wicklung aufzeigen von einer noch stark umständlichen Bearbeitung des
Ortes und einer zu sehr gewollt erscheinenden Absichtlichkeit in der Zeit-
behandlung zur Erfüllung von Ludwigs eigener theoretischer Forderung:
„ Ort und Zeit nur ideal zu behandeln ". Leider fußen beide Arbeiten
nur auf dem zur Zeit gedruckt vorliegenden Material. Die von Lindner
in Aussicht gestellte größere Arbeit „Die dramatische Technik 0. Lud-
wigs " würde nur durch ausgedehnte Heranziehung der Handschriften
Anspruch aufbleibende Beachtung machen können. — H. H. Borcherdts
Aufsatz: „O- Ludwigs Novelle Die Emanzipation der Domestiken" (in
den Abhandlungen zu Franz Munkers 60. Geburtstag. München 1916)
verfolgt sorgfältig an der Hand der Tagebuchnotizen, Briefe und Ent-
würfe die Entstehungsgeschichte der Novelle und weist Eichendorff, Tieck,
E. Th. A. HofFmann und Hauff als Quellen für den Stoff, romantische
Ideen als Quelle für die Motiv- und Gedankenwelt nach , betont aber
dabei mit Recht, daß „die Variationen zu den romantischen Melodien
doch eigene Opera des Künstlers" sind. — Auf den soeben (1922) er-
schienenen umfangreichen ersten Band der unter dem Titel „Les oeuvres
dramatiques d' Otto Ludwig" hervorgetretenen neuen Ludwigstudien des
französischen Forschers L. Mis und das den Titel „Les etudes sur
Shakespeare d' Otto Lud v/ig" führende Parallelwerk desselben Gelehrten
(Lille 1922) sei wenigstens bibliographisch mit Nachdruck hingewiesen.
Die Arbeit von A. Scotti „0. Li;dwig in seiner Stellung zur italienischen Re-
naissance" (Dissert. Freiburg i. Schweiz 1917) vermag in ihrem Hauptteü mit der
essayartigen Gegenüberstellung von 0. Ludwig und Leonardo da Vinci nichts die lite-
rarische Forschung irgendwie Förderndes zu bieten, gibt aber durch die stärkere Be-
tonung von Ludwigs durch die Dresdener Galerie nahegelegter Beschäftigung mit der
italienischen Kunst, die der Dichter vielfach mit Shakespeare in Beziehung setzt, und
den Hinweis, daß Ludwig die Probleme der Renaissance durch das Medium Shake-
speares erfaßte, eine beachtenswerte Anregung, das Problem einmal in diesem Sinne
näher zu betrachten.
Eine Reihe von Dissertationen, die einzelnen Dramatikern zweiter und dritter
Größe des 19. Jahrhunderts gewidmet ist, kann zusammenfassend dahin beurteilt
werden, daß sie in fleißiger Materialsammlung und Einzelbetrachtung z. T. recht gute
Vorarbeiten für eine Geschichte des neueren Dramas darstellen, bei ihrer rein indi-
vidualistisch-monographischen Behandlungsart aber und dem Mangel an größeren Ho-
rizontweiten sich kaum einmal über das Durchschnittsniveau braver Erstlingsarbeiten
erbeben. Gerade bei an sich wenig bedeutenden literarischen Erzeugnissen müßte
genaue historische Kenntnis das zeitgeschichtlich Bedingte herauszuheben versuchen
8*
115
und so über die Einzelerscheinung hinaus einen Beitrag zur Geschichte des Massen-
kunstgeschmackes oder zur üeschichte der dramatischen Technik erbringen. In der
Reihenfolge ihrer Ergiebigkeit genannt, sind folgende Arbeiten zu verzeichnen:
Fr. Koch, Albert Lindner als Dramatiker (Forschgn. z. n. dtsch. Lit. 47, 1915);
M. Glatzel, J. L. Klein als Dramatiker (Bresl. Beitr. N. F. 42, 1914); Else Hes:
Ch. Birch-l'feiffer als Dramatikeriu (ebd. 38, 1914). — Hingewiesen sei hier auch
auf A. von Weilens Band: „Ch. Birch-Pfeiffer und H. Laube im Briefwechsel'*
(Sehr, d Ges. f. Theatergesch. 27, 191b), eine Publikation, die ganz nette Aufschlüsse
über Laubes Persönlichkeit und die temperamentvolle weiblich-widerspj-uchsreiche Art
der Birch-Pfeiffer gibt, dei'cn Erträgnis ihre Aufnahme in die Sammlung aber kaum
rechtfertigt; genannt wenig.stens .seien die Arbeiten von AV. Schenkel, ,, Roderich
Benedix als Lustspieldichter" (Frankfurt 1916), Gertrud Weinschenk, „Isaac
V. Sinclair als Dramatiker" (Diss. München 1918) und L. West, „Martin Greifs
Jugenddramen" (Dtsch. Quellen u. Studien, hrsg. v. W. Kosch, H. 5, 1916).
§ 11. Das junge Deutschland und der Zeitroman
Ahnlich wie für Grabbe und Büchner haben auch für das Junge
Deutschland die letztvergangenen Jahre ein starkes Anwachsen des
Interesses gezeigt. Dem Jungen Deutschland als einer geistigen Gesamt-
ersclieinung sind drei Dissertationen gewidmet. Wenig will die Fest-
stellung F. Petitpierres besagen, der das Thema „Heinse in den
Jugendschriften der Jungdeutschen" (Zürich 1915) behandelnd nur eine
Wirkung des „ Ardinghello" nachzuweisen vermag, die auch nur für
Laube deutlicher aufgezeigt werden kann. — Dagegen war es ein Ver-
dienst von D. B. Öubotic, mit seiner Untersuchung über „Rahel Levin
und das Junge Deutschland" (München 1915) den vielfach überschätzten
Einfluß dieser Frau auf das gebührende Maß gebracht zu haben. Per-
sönlich sind mit ihr überhaupt nur Heine, Börne und Gustav Kühne in
Berührung getreten; am deutlichsten steht der Kritiker ihrer Briefe
Th. Mundt unter ihrem Einfluß, Gutzkow nur insofern, als er in eigenen
Gedanken durch ihre Äußerungen bestärkt wird und einzelnen Personen
seiner Werke Züge von ihrer Eigenart leiht. Ihr Einfluß auf Laube
tritt völlig zurück hinter der Wirkung der Juli- und Polenrevolution
und bei Gustav Kühne ist kaum mehr ein direkter Zusammenhang nach-
weisbar. — Einen wertvollen Beitrag zur Kenntnis des Jungen Deutsch-
land stellt schließlich noch die aus philosophisch-pädagogischen Studien
hervorgegangene Leipziger Dissertation von K. Möckel „Der Gedanke
der Menschheitsentwicklung im Jungen Deutschland" (1916) dar. Das
Thema wird in seiner politischen , sozialen, metaphysischen und ästhe-
tischen Auswirkung behandelt, der jeweilige Einfluß Börnes und Heines
aufgezeigt und in seiner Aufnahme und Abwandlung in den einzelnen
führenden jungdeutschen Individualitäten dargestellt.
Für Gutzkow, Laube und Prutz im besonderen können die aus den
Berichtsjahren vorliegenden Arbeiten die Forschung nur in einzelnen Teilen
ergänzen, ohne sie damit wesentlich zu bereichei'n. 0. Baumgards
Münchener Dissertation „Gutzkows dramaturgische Tätigkeit am Dres-
dener Hoftheater unter besonderer Berücksichtigung seiner Bühnenbear-
beitungen" (1915J gipfelt in dem Urteil, daß die Schärfe der an Gutzkow
geübten Kritik in manchem auf ein gerechteres Maß zurückgeführt
116
werden muß und daß es Gutzkow doch gelungen sei, dem Dresdener
Theaterleben für eine kurze Zeit den Stempel seiner Persönlichkeit auf-
zudrücken und innerhalb der ihm gesteckten Grenzen Bedeutendes zu
leisten.
Die umfangreiche Arbeit von E. Metis „Karl Gutzkow als Dramatiker. Mit
Benutzung unveröffentlichter Stücke" (Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte,
Heft 48) kommt dagegen fast nirgends über eine bloße Aneinanderreihung von Inhalts-
angaben hinaus. — Auch Maria Moormann bietet mit ihrer Arbeit „Die Bühnen-
technik Heinrich Laubes'' (Theatergeschichtliche Forschungen, hrsg. v. B. Litzmann,
H. 30, 1917) nichts weiter als eine fleißige Aneinanderreihung einzelner technischer
Beobachtungen, aus denen nicht viel mehr herausspringt als die nicht eben neue Tat-
sache, daß Laube die äußeren Mittel bühnenwirksamer Technik ausgezeichnet beherrscht
hat. — Ebenso hat K. Nolle in seiner Dissertation „Laube als sozialer und politi-
scher Schriftsteller" (Münster 1915) ohne innere Verarbeitung und tiefere Erfassung
des Problems nur eine gute Zusammenstellung gegeben, die aber teilweise berichtigt
werden muß. [So kann z. B. Rahel Varnhagen nicht auf die „ Poeten " eingewirkt
haben, da diese schon im Druck waren, als Laube die Tagebücher in die Hand bekam].
Für Robert Prutz bringt E. Hohenstatters Münchener Dissertation
„Über die politischen Romane von R. Prutz" (1918) eine Ergänzung
des Lyrikers und Dramatikers nach der Seite seiner Prosaschriftstellerei ;
diese ist ebenfalls durchaus politische Dichtung, aus der Absicht ent-
standen, sich selbst zu rechtfertigen und der Gesellschaft einen Spiegel
ihrer Schäden und Lächerlichkeiten vorzuhalten. — Bedeutender sind
die vorUegenden Leistungen zur tieferen Ei'forschung Georg Herweghs.
K. Heu so Id. weist in einer Münchener Dissertation (1916) über
„G. Herwegh und seine deutschen Vorbilder" (1916) im einzelnen die
starke Abhängigkeit von Schiller und den Lyrikern der Befreiungskriege
sowie von Börne und Gutzkow nach und zeigt den Einfluß von Platen,
Hölderlin und Heine auf die unpolitische Lyrik. Ganz Herwegh eigen
ist dagegen die gewaltige Leidenschaftlichkeit, die sein gesamtes Schaffen
durchzieht. — Zu einem ganz ähnlichen Resultat kommt die tüchtige Zü-
richer Dissertation von E. Baidinger „ Georg Herwegh. Die Gedanken-
welt der Gedichte eines Lebendigen", indem sie auch für die religiösen,
philosophischen, politischen und ästhetischen Ansichten überall eine enge
Anlehnung an vorhandene Strömungen nachweisen kann; ihre charak-
teristische Eigenart aber erhalten diese Gedanken durch das starke Über-
wiegen des Gefühlsmomentes. — „Herwegh als Übersetzer" behandelt
W. Kilian (Breslauer Beiträge Nr. 43, 1915) in einer von gründlich-
ster Beherrschung des Stoffes und sicherer Methodik zeugenden Arbeit,
Sie bringt in zwei Hauptabschnitten die Betrachtung der Lamartine-
und der Shakespeareübersetzung und behandelt dazwischen die Beranger-
übertragungen, deren Einfluß auf die „ Gedichte eines Lebendigen " viel-
leicht noch zu untersuchen gewesen wäre. Aufschlußreich sind auch die
Vergleiche mit den Übersetzungen von Schwab, Leuthold und Friedr.
Götz, von A. W. Schlegel und Tieck. Bei den neueren Shakespeare-
verdeutschungen wäre auf Gundolf und die in „Shakespeare und der
deutsche Geist" aufgestellten wichtigen prinzipiellen Gesichtspunkte hin-
zuweisen gewesen.
Zwei Münchener Dissertationen befassen sich mit zwei weiteren Vertretern
117
dos Jungen Deutschland, die bisher noch wenig behandelt wurden. Einem der Ex-
tremsten der Richtung, der fast schon an der Stelle steht, wo sich die Bewegung
übersclüägt und beinahe zur Polemik gegen ihren Ausgangspunkt wird, ist F. Him-
nahs Arbeit „Ernst AVillkomm. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungen Deutsch-
land'" (München 1915) gewidmet. Mit Kocht wird nur die Periode bis 184S be-
handelt, wo Willkomm in seinen „ Europamüden " und „"Weißen Sklaven" Stellung
zu den sozialen und politischen Zuständen der Zeit nimmt, während er in seinen spä-
teren Schriften — abgesehen von den Uamburger Handelsromanen im Stile Gustav
Freytags — ganz in der Tages- und selbst Kolportageliteratur versinkt. — Mit einem
Dichter aus dom Prager Kreise des „Jungen Böhmens" sucht U. C. Ades Arbeit
,, Der junge Alfred Meißner" (München 1914) näher bekannt zu machen, indem er
die Jugendlyrik in ihrer Entwicklung und ihrer mannigfachen Beeinflussung durch
Lenau , sowie durch die jungdeutschen und englischen Lyriker untersucht und zum
Schluß das Epos ,, Ziska" eingehender behandelt, ohne jedoch irgendwie tiefer in die
Dinge einzudringen.
E. Berneisens Münsterische Dissertation (1914), die „Hoffmann von
Fallersleben als Vorkämpfer und Erforscher der niederländisch-flämischen
Literatur" würdigt, gibt eine eingehende und ergebnisreiche Untersuchung
von Iloffmanns Bemühungen um die niederländische Literaturgeschichte,
zeigt den Anteil auf, den er als beinahe einziger Deutscher an der flä-
mischen Bewegung in den schweren Jahren ihres Entstehens hatte, und
behandelt eingehend seine Verdienste um die Sammlung und Wieder-
erweckung des altniederländischen Volksliedes. Eine Zusammenstellung
von dankbar begeisterten Urteilen belgischer und niederländischer Freunde
und Forscher beschließt die verdienstliche Studie, eine der wenigen, die
sich mit den literarischen Beziehungen zwischen den stammverwandten
Völkern beschäftigt.
Über Julius Mosen, der mit seinen teils romantischen, teils jung-
deutschen Zügen merkwürdig zwischen diesen beiden literarischen Rich-
tungen steht, während ihn im Grunde seine eigentUche Begabung zur
Heimatkunst wies, liegen nicht weniger als drei Dissertationen vor.
Während W. Schwetjes öde Zettelkastenzusaramenstellung mit dem
Titel „Naturgetübl in Julius Mosens Novellensaramlung Bilder im
Moose" (1916) nicht scharf genug abgelehnt werden kann und auch
A. Fehns Arbeit über „Die Geschichtsphilosophie in den historischen
Dramen Julius Mosens (Erlangen 1915) mit ihren nichtssagenden Inlialts-
angaben der historischen Dramen besser ungeschrieben geblieben wäre,
bietet K. J^esse in seiner Untersuchung über „Julius Mosens Theorie
der Tragödie'' (Münster. Dissertation 1915) einen wertvollen Forschungs-
beitrag. Mit großer Beherrschung der zeitgenössischen Literatur leitet
er Mosens dramatische Theorie aus den geistigen Strömungen der Hegel-
schen Philosophie und der jungdeutschen Tendenzen ab, stellt sie in den
Zusammenhang der historischen Entwicklung, beleuchtet Mosens Stellung
zum klassischen und romantischen Drama, zum bürgerlichen Schauspiel,
zur Künstlertragödie und zur Oper, um schließlich auf diesem breiten
Untergrunde Mosens Forderung der historischen Tragödie ausführlich
darzulegen. Ein aufschlußreicher Vergleich mit Hebbel und eine knappe,
aber wohl fundierte Übersicht über das historische Drama neben und
nach Mosen runden die tüchtige Arbeit gut ab.
HS
M. Appelmanns Dissertation „H, W. Longfellows Beziehungen
zu F. Freiligrath" (Münster 1916) bringt vielfach neues Material zur
Klärung der persönlichen Beziehungen bei, behandelt dann die Über-
setzung von zehn Longfellowschen Gedichten und sucht den Einfluß
Freiligraths auf Longtellow nachzuweisen. — Der Wert von M. Bol-
lerts Arbeit „F. Freiligrath und G. Kinkel" (Bromberg 1916) liegt
vor allem in dem Abdruck von bisher meist unveröflFentlichten Briefen
Kinkels an Freiligrath, einer langentbehrten Ergänzung der Bucher-
schen Ausgabe, wodurch endlich ein Urteil über Art und Verlauf
der persönlichen Beziehungen ermöglicht wird. — Einen guten Ein-
blick in Kinkels früheste Jugenddichtung gibt K. Enders' Studie
„G. Kinkel im Kreise seiner Kölner Jugendfreunde" (Bonn 1913). —
J. Halle rm an ns Münsterische Dissertation „Freiligraths Einfluß auf
die Lyrik der Münchner Dichtersehule" (1917) kann unter Benutzung
der von J. Schwering am Schlüsse seiner Freiligrathbiographie gegebenen
Fingerzeige den Einfluß Freiligraths auf den Grafen von Schack und
Hermann Lingg in einer Fülle von inhaltlichen und formalen Parallelen
darlegen, besonders auch im Hinblick auf die Reimkunst, wobei als
sicherstes Kriterium eine Liste der exotischen Reime bei Schack sowohl
wie bei Lingg den bedeutenden Einfluß ihres Vorbildes zeigt. — G. Kleins
Züricher Dissertation „Freiligrath. Eine Erscheinung aus der Stil-
geschichte" (1919) ist in ihrem biographischen Material wenig zuverlässig,
zeugt aber vielfach von feinsinniger Behandlung der Stilprobleme.
Mit dem Schafien Christian Friedrich Scherenbergs befassen sich
eine Marburger Dissertation von E. Klein, „Chr. F. Scherenbergs
Epen" (Teildruck 1916) und die Leipziger Arbeit von R. Ulich,
„Chr. F, Scherenberg. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 19. Jahr-
hunderts" (Probefahrten Nr. 27, 1917). Zu bedauern ist hierbei nur,
daß die Hauptteile beider Abhandlungen, die die genaue Aufhellung des
biographischen Momentes anstreben, fast übereinstimmend ausgefallen
sind und so doppelte Arbeit geleistet wurde, da eben beide Bearbeiter
im Verlaufe ihrer Untersuchung auf dieselben Quellen hingeführt werden
mußten. Da Kleins Arbeit früher im Druck vorlag, wäre es vielleicht
angebrachter gewesen (was freilich den natürlich nicht ganz leichten
Verzicht auf den Nachweis der eigenen gründlichen Studien bedeutet hätte),
wenn Ulich seine durch gewichtigere Empfehlungen etwas reichlicher
fließenden Nachrichten als Ergänzungen zu Klein gegeben und den
Schwerpunkt seiner Arbeit auf eine genauere Durchforschung des hand-
schriftlichen Materials gestützt hätte, das ihm wohl zugänglich gemacht
worden wäre. Der zweite Teil der Arbeit würdigt das lyrische Schaffen
Scherenbergs nach seiner nicht zu unterschätzenden Bedeutung und ordnet
die märkisch-preußische Balladeudichtung in die Überlieferung der nord-
deutschen Ballade von Alexis bis Münchhausen ein.
Bei der Beurteilung von Vertretern des Zeitromans um die Mitte
des 19. Jhs. macht sich allmählich wieder eine objektive und damit
gerechtere Würdigung bemerkbar. War doch besonders Friedrich Spiel-
hagen von der Generation des Naturalismus wegen seiner in der Mitte
119
zwischen epigonenhaft -klassizistischem IdeaUsmus und modernem Rea-
lismus stehenden Dichtung und Theorie scharf bekämpft worden, ohne
Kücksichtnahme auf das, was der deutsche Roman ihm tatsächlich ver-
dankte. Es ist das Verdienst von V. Klemperer in seiner Münchener
Arbeit: „Die Zeitromane F. Spielhagens und ihre Wurzeln" (Forschgn
z. n. Litg. Bd. 43, 1913) nachdrücklich auf das Neue in Spielhagens
Werk hingewiesen zu haben. Er sondert dieses vorwärts weisende Ele-
ment von dem zeitlich Bedingten durch die Charakterisierung der un-
mittelbar vorher herrschenden literarischen Atmosphäre, wie sie in den
großen Romanen Laubes, Immermanns, Gutzkows und Freytags zum
Ausdruck kommt, und betrachtet das Verhältnis von Spielhagens theo-
retischen Ansichten zu denjenigen seiner Vorgänger, zu seiner eigenen
Praxis und zu den Angriffen seiner Gegner. — Diesen theoretischen An-
schauungen Spielhagens widmet Martha Geller eine eingehende Sonder-
betrachtung in der Bonner Dissertation „F. Spielhagens Theorie des
Romans" (Bonner Forschgn, N. F. Bd. 10, 1917), indem sie die theo-
retischen Äußerungen in ein System einordnet und ihre Übereinstimmung
mit der Praxis seiner poetischen Werke feststellt. — Auf H. Schier -
dings Münsterische Dissertation „Untersuchungen über die Roman-
technik F. Spielhagens" (1915), die ihr Thema unter Benutzung unver-
öffentlichter Manuskripte behandelt, sei nur hingewiesen.
Die über H. J. König bisher noch fehlende literarhistorische Untersuchung gibt
H. Halbeisen in seiner ebenfalls in Münster erarbeiteten Dissertation „H. J. König,
Ein Beitrag zur Geschichte des deiitschen Romans im 19. Jahrhundert" (1915) unter
besonderer Betonung des biographischen Momentes und einer Würdigung dieses Schrift-
stellers als eines Vertreters des historischen Tendenzromans. Kulturhistoriscli von
besonderem Interesse sind, wie sich zeigt, die zahlreichen Anspielungen in den Ro-
manen auf literarische und musikalische zeitgenössische Erscheinungen.
Der sogenannte exotische Roman wird in seinem Hauptvertreter in
Deutschland, Friedrich Gerstäcker, von B. Jacobstroer in einer Greif s-
walder Dissertation „Die Romantechnik bei F. Gerstäcker" (1914) unter-
sucht. Der Hauptreiz dieser Romangattung liegt in den für die Zeit
neuen Stoffen und der spannenden, oft leidenschaftlichen Handlung, die
in einer bewußt aufgebauten realistischen Technik vorgeführt wird.
Leider ermüden die im einzelnen gut gegebenen Analysen durch die
nach demselben Schema erfolgende vierfache Wiederholung, und der
Mangel einer Hineinstellung Gerstäckers in den literarischen Zusammen-
hang mit entsprechenden deutschen und vor allem englisch -amerikani-
schen Erscheinungen läßt die Arbeit nicht über ein mittleres Gesamt-
niveau herauskommen. — Den fast nur als Romanschriftsteller bekannten
Levin Schücking würdigt H. A. Schulte nach der lyrischen Seite, in-
dem er seine Betrachtung gleich mit auf einen anderen Westphalen und
Freund der Annette von Droste, Wilhelm von Junkmann, ausdehnt:
„Levin Schücking und Wilhelm Junkmann als Lyriker" (Münster 191 G).
Gegenüber der gewiß wertvollen, seinerzeit besonders von der Frauen-
welt hochgeschätzten Lyrik Schückings, die aber überall deutliche Ein-
flüsse der Romantik, Annettes von Droste, Freiligraths und Uhlands
aufzuweisen hat, erscheinen die Jugendgedichte des späteren Breslauer
120
Universitätsprofessors W. Junkmann selbständiger in ihrer Mischung voa
antiker Geistesrichtung und neuzeitlicher Art mit der Lockerung der
Komposition und der Mißachtung des Metrums. Leider begnügt sich
der Verfasser nur mit der Feststellung dieser Tatsachen, ohne das ver-
schiedene Schaffen der beiden Lyriker aus dem Kernpunkt des Persön-
lichen zu erfassen.
§ 12. Realismus
Über „das poetische Bild bei A. von Droste-Hülshoff" (For-
schungen u. Funde, hrsg. v. Jostes, 4. Bd. 3. H., 1916) gibt Anna
Balkenhob eine auf reichem übersichtlich geordnetem Material fußende
Abhandlung. Sie zeigt die subjektive Bestimmtheit von Annettes Diktion
auf, ihren Unterschied gegenüber der voraufgehenden und gleichzeitigen
romantischen Stilkunst, ihre Übereinstimmung mit und ihre Verschieden-
heit von Goethes Bildersprache. Die Droste schafft, wie im einzelnen
ausgeführt wird, im „ malerischen '^ Stil, dessen Werkzeuge neben dem
Epitheton vor allem Vergleich, Metapher und Personifikation sind. Die
Wurzeln ihrer Bildersprache sind die ausgeprägte Neigung und Bega-
bung zur Beobachtung von Natur- und Menschenleben, gestützt auf eigen-
artig feine Sinneseindrücke und psychologischen Scharfblick, ein tiefes
Gemüts- und reiches Geistesleben, eine sehr rege und stark kombina-
torische Phantasie und in bezug auf die Form eine große Sprachbega-
bung. Leider hat die Verfasserin der tüchtigen Arbeit die Dichtungen
in ungebundener Rede gar nicht berücksichtigt. — Ein anderer For-
schungsbeitrag aus weiblicher Feder, Anna Freunds Münchener
Dissertation über „Annette von Droste-Hülshoff in ihren Beziehungen
zu Goethe und Schiller und in der poetischen Eigenart ihrer ge-
reiften Kunst" (1915) weist den Einfluß Schillers auf die Jugend-
gedichte besonders in bezug auf die Diktion nach, demgegenüber aber
bereits starke Ansätze zu Eigenem stehen in der Erfassung der Pro-
bleme in der Richtung auf das Ernste, im Hang zum Grübeln sowie in
der ungewöhnlichen Abstraktionsfähigkeit. Daneben lassen sich Spuren
Goetheschen Einflusses besonders aus den Balladen aufdecken. Das
Drama „Bertha" geht ganz in Schillers Bahnen, das Epos „Walther"
ist geistig von Goethes Jugendwerken, formal von Schiller abhängig;
das Romanfragment „Ludwina" steht dem Gefühlsgehalt nach auf der
Wertherstufe, ist stilistisch von „Wilhelm Meister", inhaltlich von „Cla-
vigo" beeinflußt, zeigt aber in Anlage und Technik bereits selbständige
Züge. In der Zeit der Reife stehen nur die „Klänge aus dem Orient"
mit der „Barmekiden Untergang" und „Bajazet" als bewußte Nach-
ahmungen des „Divan" da; sonst hat die Droste in dieser späteren
Epoche ihren eigenen Stil gefunden.
Eine von gründlicher Beherrschung des Stoffes und sorgfältiger Benutzung der
Literatur zeugende Arbeit stellt schließlich F. Heitmanns Buch „A. v, Droste-
Hülshoff als Erzählerin" (Münster 1914) dar; doch sind die tatsächlichen Ergebnisse
etwas dürftig.
121
Dem Erstlingsroman von Wilibald Alexis, der 1823 bei seinem ersten
Erscheinen einen Welterfolg bedeutete und für einen W. Scott gebalten
wurde, bis das Erscheinen des dritten Bandes die lachende Auf klärung
der parodistischen Absicht brachte, von dem aber heute nur noch zwei
Exemplare in Berlin und Marburg existieren, ist die Marburger Disser-
tation von H. F. Kohler: „Walladmar von W. Alexis. Untersuchungen
des Romans in seinem Verhältnis zu W. Scott" gewidmet (1915). iSie
zeigt, wie Alexis in der ganzen Anlage der Erzählung und in den aben-
teuerlichen Ereignissen, die sich auf die typische Gestalt des Helden mit
seiner ästhetischen Blässe und dem leidenden Verhalten konzentrieren,
Scott nachahmt, wie er dessen Charaktere teils direkt oder doch nur
durch kleine von anderen übertragene Züge leicht verändert übernimmt,
teils mehrere Figuren in eine verschmilzt. Er kupiert ferner die Situa-
tion als Ausgangspunkt, Weg und Ziel des Interesses und übernimmt
den Dialog und die gleichmäßig ohne Spannung fortlaufende Erzählung
mit den stilistischen Formen und Eigentümlichkeiten seines Vorbildes,
Eine parodistische Stellung nimmt Alexis vor allem Scotts Breite gegen-
über ein. Er übertrifft ihn in den unendlich langatmigen Schilderungen,
verspottet seine Vorliebe für den Dialog, zieht Scotts Sonderlinge tief
ins Lächerliche und parodiert das Genrehafte und wunderbar Roman-
hafte durch Überbietung. Neues bringt er durch das Einführen der
Anekdote und durch die Pflege der geschichtlichen Legende, die ersten
Anzeichen seiner künftigen Weiterentwicklung über Scott hinaus.
Mehrfach sind im Berichtszeitraum diejenigen Dichter des Realis-
mus, die man als Heimat- bzw. Dialektdichter zu bezeichnen pflegt,
wissenschaftlich gefördert worden. Besonders zu begrüßen ist es, daß
nunmehr das schnelle Weitererscheinen der großen Ausgabe der Werke
Jeremias Gotthelfs gesichert ist, da die Regierung des Kantons Bern
einen jährlichen Zuschuß beisteuert (J. Gotthelis Sämtliche Werke in
24 Bänden. In Verbindung mit der Familie Bitzius hrsg. von Rud.
Hunziker und Hans Bloesch. Erlenbach-Zürich, Eugen Rentsch Verlag).
Nachdem 1911/12 mit dem 7. und 17. Bande zwei Teile hervorgetreten
waren, konnten erst 1916 und 1917 zwei weitere Bände herausgebracht
werden, darunter als 9. Band der hochinteressante Sozialisteuroman
,, Jakobs des Handwerksgesellen Wanderung durch die Schweiz"; 1920
und 1921 sind dagegen schon vier weitere Bände erschienen. Die großen
Schwierigkeiten in der Textgestaltung gerade dieser Ausgabe sind fast
durchweg glücklich überwunden ; einige Ungleichheiten der einzelnen
Bände untereinander [die sachlichen und kritischen Erläuterungen der
letzterschienenen sind knapper gehalten] erklären sich durch die lange
Zi.-itspanne des Erscheinens. — Was Ricard a Huch in einem Vortrag
„Jeremias Gotthelfs Weltanschauung" mit scharfer Charakteristik, klarem
Gedaukenbau und formvollendetem Stil in warmer Würdigung zu sagen
hat, gehört mit zum Besten, was wir über Gotthelf und von Ricarda
Huch besitzen. — Reclit föi'derlich ist als granmiatischer Beitrag auch
die Tübinger Dissertation von H. Gluck, „Der Dialekt in den Dorf-
geschichten B. Auerbachs und M. Meyrs" (1914). Der für seine Auf-
122
gäbe gut vorbereitete Verfasser untersucht den Dialektstand der süd-
deutschen Heimatdichter sorgfältig nach Grammatik und Wortschatz
und betrachtet dann eingehend die Verwendung dieses Dialekts als Kunst-
mittel und nach seiner ästhetischen Wirkung. Für Auerbach ergibt
sich aus der ungenauen und inkonsequenten Verwendung der schwä-
bischen Mundart ein gewisses Unbehagen für den Leser, der durch die
häufige Anwendung von nichtschwäbischen Wörtern und Redewendungen
fortwährend aus der Illusion der schwäbischen Erzählungsstimmung
herausgerissen wird. Meyr dagegen erreicht dort, wo er den Dialekt
in den Reden konsequ^t verwendet, die gewollte ästhetische Wirkung
in der Erhöhung der humoristischen Wirkung; wo er aber sonst die
Mundart verwendet, verfährt er so unsystematisch und willkürlich, daß
dadurch nicht nur der Dialekt als Kunstmittel völlig wertlos wird, son-
dern sogar der hohe künstlerische Wert der Erzählung eine Beeinträch-
tigung erfährt. Besonders deutlich wird das Gesagte durch den Schluß
der Arbeit, der darauf hinweist, wie bei Gottfried Keller die schrift-
sprachliche Literatur durch Übernahme des mundartlichen Idioms be-
reichert wird ohne Preisgabe der schriftsprachlichen Form. Keller er-
reicht den Klang heimatlicher Rede unter Aufgabe der mundartlichen
Lautform durch Herübernahme des mundarthchen Stils und in der Wort-
wahl durch Vermeidung alles Mundartlichen, das einer Erklärung be-
dürfte, aber auch aller Elemente aus fremden Idiomen. Die tüchtige, von
dem nunmehr auch dahingegangenen Tübinger Germanisten Fischer an-
geregte Arbeit, ist ein gutes Beispiel dafür, wie gründliche gramma-
tische Kenntnisse und Untersuchungen auch für die Literaturgeschichte
fördernd zu verwerten sind.
Ein Beispiel abschreckendster Art bietet dagegen die Dissertation von R. Draeger
„Doppelformel und Wortwiederholung in F. Reuters Hanne Nüte'^ (l.?16)i wo ohne
jede Verarbeitung oder ästhetische Schlußfolgerung alle unter diese Überschrift fal-
lenden Stellen nach Substantiv, Adjektiv, Verb, Adverb, notdürftig geordnet, einfach
abgedruckt werden! Auch die Arbeit von F. Keerl, Die Quellen zu F. Reuters „Ur-
geschichte von Mecklenburg'- (Diss. Greifswald 1913) und die wenig Neues bietende
Studie von Maria Hälniers über den ., Politischen und kulturgeschichtlichen Hinter-
grund in F. Reuters Ut de Franzosentid •' (Münster 1917) erweisen sich als magere
Forschungsbeiträge.
Während die dritte biographische Schilderung Hansjakobs durch
J. K. Kempf („H. Hansjakob. Sein Leben, Wirken und Dichten".
Stuttgart 1917) in ihrem skizzenhaften Charakter über die schon vor-
handenen Biographien von A. Pfister (l90l) und H. Bischoff (1903)
wenig hinauskommt, hat Hermann AUmers die bisher noch ausstehende
wissenschaftlich geschlossene Wertung des Menschen und Künstlers er-
fahren. Th. Siebs gibt in seiner Monogi-aphie „H. AUmers. Sein
Leben und Dichten mit Benutzung seines Nachlasses dargestellt" (Berlin
1915) aus genauester Kenntnis des Gegenstandes mit der Wärme ver-
ehrender Liebe und sicherster Einfühlung eine Art Selbstbiographie des
Dichters, indem er ihm unter freier Verwertung des Nachlasses, kleiner
Erinnerungen, unvollendeter Dichtungen und zahlreicher Briefe einen
123
großen Teil der Schilderung selbst in den Mund legt, gleichzeitig AU-
mers aus der Bildungsgeschichte seiner Zeit begreifend.
Den volkstümlichen Jugendschriftsteller und Verfasser rheinischer Dorfgeschichte»
"W. 0. V. Hörn (Wilh. Oertel) untersucht W. Diener in seiner Straßburger Disser-
tation (1917) auf die volkskundlichen Elemente seiner Erzählungen hin und betont ihren
kulturgeschichtlichen AVert für die Hunsrückor bäuerlichen Verhältnisse.
Von den vier Wilhelm Raabes Schaffen gewidmeten Dissertationen
bieten die beiden Greifswalder Arbeiten (W. Jansen, Absonderliche
Charaktere bei Wilhelm Kaabe, 1914, und H. ligner, Die Frauen-
gestalten W. Raabes in seinen späteren Werken, 1916) liebevoll ge-
sehene und gut gezeichnete Charakterbilder. — Die Marburger Disser-
tation von Margarete Bönneken über „W. Raabes Roman Die
Akten des Vogelsangs" (1918) sucht eine Entstehungsgeschichte aus dem
„Urerlebnis" im „Persönlichen" zu geben, die gestaltenden Kräfte auf-
zuzeigen, das künstlerisch Wertvolle als Gedankengehalt und Symbol-
wert zu formulieren und nachzuweisen , daß Raabe das Problem der
inneren Form wohl gekannt habe. — Selbständiger und aufschlußreicher
ist }I. Schillers Freiburger Dissertation mit dem Titel „Die innere Form
W. Raabes" (1917). Sie wendet sich gegen die in den meisten Raabe
betreffenden Schriften geübte Praxis, einseitig unter der gewaltigen Sug-
gestion des überwiegend Menschlichen in Raabe den Inhalt seiner Werke
zu betrachten. Er will das Problem dieses Künstlertums rein von der
Form aus untersuchen und die Berechtigung der fast allgemein üblichen
superlativischen Einschätzung auf Grund des Verhältnisses zu den ästhe-
tischen Grundgesetzen prüfen. Wenn er dabei auch der Gefahr der
Übertreibung nach der anderen Seite nicht entgeht, so werden doch in
der ßeziehungsetzung zwischen der Persönlichkeit des Dichters und der
Ausdrucksform im W^erke wertvolle Erkenntnisse gewonnen, die für den
humoristischen Stil, die Einkleidungsformen und die Sprache manchen
neuen, wenn auch nicht immer unanfechtbaren Standpunkt ergeben.
Auch das Kapitel Raabe und Jean Paul stellt das Verhältnis zwischen
den beiden vielfach wesensverwandten, aber im Grunde doch nur zu-
fällig übereinstimmenden Dichtern auf eine gute Basis.
F. Th. Vischers Roman „Auch Einer" ist in den letzten Jahren
verschiedentlich zum Gegenstande von Einzelstudien gemacht worden.
Aus den Berichtsjahren liegt eine äußerst gründliche und zusammen-
fassende Züricher Arbeit von Franza Feilbogen (Vischers „Auch Einer",
1916) vor, die eine Reihe guter Feststellungen enthält und einen sehr
brauchbaren bibliographischen Anhang bietet. — H. Kürbs' „Studien zur
Pfahldorfgeschichte aus F. Vischers Roman „Auch Einer" (Dissert.
München 1915) decken die Quellen und Anregungen zu der SchiideruDg
der Pfahlbürger auf, wobei neben dem Impuls durch wissenschaftliche
Werke auch das satirische Moment in den Angriffen auf den Archäo-
logenroman, auf Richard Wagner und auf Züricher Erlebnisse dargelegt
wird. Daneben ist in dem Roman den Verdiensten Ferdinand Kellers
um die Erforschung und Sammlung der Pfahlbaureste ein schönes Denk-
mal gesetzt worden, während Gottfried Keilers Gestalt, Wesen und
124
Werk in dem Sängerbarden Guffrud Kullur eine poetische Manifestation
erhielt.
Die ungewöhnlich große Zahl von S t o r m ausgaben und Auswahl-
bänden, die mit Ablauf der Schutzfrist seit 1918 hervorgetreten ist,
hat der Stormliteratur auch die historisch- kritische Ausgabe gebracht
in den von A. Köster herausgegebeneu acht Bänden des Inselverlags
(Leipzig 1919 — 1920). Nach den von Köster selbst in seinen auch metho-
disch w^ertvollen „Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Storms"
(Leipziger Akademieabhandlung von 1918) festgesetzten Prinzipien ist
hier nach der bis auf Buchstaben und Interpunktion erfolgten Durch-
arbeitung von 220 Manuskripten und Drucken der Text allein der
Novellen an mehr als 1550 Stellen berichtigt worden, so daß die mög-
lichst reinste Form dadurch hergestellt ist. Nach einer gehaltreichen
Einleitung, die die fortschreitende Entwicklung des Dichters in der Tiefe
erfaßt und einleuchtend darstellt, bringt der erste Band die von Storm
selbst anerkannten und zusammengefaßten Gedichte, wobei freilich das
Wagois einer Umgruppierung trotz der Feinsinnigkeit der neuen An-
ordnung manchem Widerspruche begegnen dürfte; die „ Nachlese " schließt
sich dann in streng chronologischer Reihenfolge an. Den Schluß des
Bandes bilden die Novellen der Frühzeit und der Potsdamer Jahre.
Die Bände 2 bis 7 bringen die folgenden Novellen chronologisch ge-
ordnet und bandweise nach den Lebensstationen des Dichters abgeteilt;
Band 8 wird außer von den autobiographischen und kritischen Schriften
von den 164 Seiten der Anmerkungen ausgefüllt, die zu den Gedichten
den vollständigen Textapparat, für die Novellen das Wichtigste der
Bibliographie und die vollständigen Abweichungen von früheren Fassungen
bringen, so daß «das Foi'schungsmaterial mit möglichster Vollständigkeit
vorliegt.
Wird somit für die wissenschaftliche Forschung diese Ausgabe künftighin die
Grundlage bilden müssen, so genügen [neben der bisher allein berechtigten Wester-
mannschen] die Ausgaben von A. Biese (Hesse und Becker) und Th. Hertel (Biblio-
graphisches Institut) ebenfalls durchaus den Ansprüchen, die an eine gute Ausgabe
zu stellen sind, wobei die von der Wärme persönlicher Beziehungen belebte Lebens-
darstellung Bieses und die besonders eingehenden Einleitungen und Eiiäutei-ungen
Hertels hervorzuheben sind, während die Textgestaltung — vor allem bei Biese —
nicht durchweg befriedigt.
Die Einzelforschung über Storm hat sich — besonders im Hinblick
auf das Jubiläumsjahr 1917 — in den Berichtsjahren überraschend reich
gestaltet, wenn freilich auch zum Teil mehr breit als tief Die Grund-
lage hierfür bieten die zu den schon seit längerem bekannten Brief-
wechseln mit Mörike und Keller neu hinzutretenden Briefsamm-
lungen, von denen die Tochter des Dichters 1915 die Briefe an die
Braut und die Gattin, 1917 diejenigen an die Kinder und 1918 die an
die Freunde Brinkmann und Petersen (sämtlich bei Westermann) heraus-
gab, denen sich der Briefw^echsel zwischen Heyse und Storm aus den
Jahren 1854—81 in der textkritisch äußerst sorgfältigen Ausgabe von
G. J. Plotke (München 1917) anschließt, ein reichbelebtes literarisch-
kulturelles Bild der siebziger und achtziger Jahre entrollend.
125
Trotz diosos in violor Tliiisicht bcdoutsainon neuerschlossonen Quellenmaterials
ist die biographische Gesamtdarstellung noch nicht weit über Schützes verdienstvolles
AVerk von 1887 hinausgekommen. Weder Bieses knappes Lebensbild (Leipzig 1917)
noch die immerhin von einem starken Einfühlungsvermögen zeugende Skizze von
II. Jess (Braunschweig 1017) vermögen diese Lücke auszufüllen. — Für Einzelheiten
bietet die aus einer Greif.swalder Dissertation hervorgegangene Aibeit von F. Kobes
,. Kindheitserinnerungen und Heimatbeziehuugen bei Tli. Storm in Dichtung und Leben "
(Berlin 1916) reiches Mateiial; vielmehr als bisher bekannt war, wird Storms Dichtung
als Eriunerungspoesie erwiesen und manche neue Quelle dabei aufgezeigt. — Auch die
Arbeit von Therese Rockenbach über „Theodor Storms Chroniknovellen'^ kommt
der Quellenforschung, wenn auch bi.sweilen zu weit in der Abhängigkeitssuche gehend,
zugute, wahrend die tüchtige Rostocker Dissertation von K. Grattop über „Volks-
poesie und Volksglauben in den Dichtunseu Th. Storms" diese Elemente in der poe-
tischen "Welt Storms aus der eigenen Neigung des Dichters, aus mündlicher Über-
lieferung, Einwirkung des Heimatlandes, sammelnder Tätigkeit und Benutzung von
wissenschaftlichen Sammlungen ableitet und systematisch nach ihren einzelnen Be-
standteilen untersucht. — Der ästhetisch-psychologischen "Würdigung Stormscher Kunst
nehmen sich mit für Erstlingsarbeiten recht gutem Erfolge au die Erlanger Disser-
tation von II. Stamm (Ein Beitrag zu Th. Storms Stimmungskunst, 1914), die Storms
Stimmungskunst aus dem Untergrund von Abstammung, Heimat, }»olitischen Ereig-
nissen und be.sonderen LebensschicLsalen ableitet und ihren künstlerisch-technischen
Mitteln nachgeht, und die Marburger Dissertation von E. Krey (.,Das Tragi.sche bei
Th. Storm", 1914), die in dem lebhaften Gefülil des Dichters für die Vergänglichkeit
alles Lebens den Grund für das vielfach Niederdrückende und Quälend-Resignierte der
Novellen ableitet und eine Entwicklung von der Passivität der Frühzeit zu den dra-
matischer gestalteten, von stärkerer "Widerstandskraft getragenen Konflikten der spä-
teren Jahre betont. Eine gute Ergänzung von der Seite der Ästhetik her bietet hierzu
0. Has ten i)f 1 ugs Arbeit: „Über das Tragische. Untersuchung im Anschluß an
J. Volkelt u. Th. Lipps als Vorbereitung für eine Betrachtung tragischer Novellen."
Wenn die letzten Jahre für Storm die grundlegende Ausgabe seiner
Werke gebracht haben, so ist für eine historisch- kritische Kellerausgabe
erst eine Vorarbeit geleistet in der zehnbändigen von ,F. Munziker und
Ermatinger besorgten Jubiläumsausgabe des Cottascheu Verlages (Stutt-
gart 1919), die den lautgetreuen Abdruck der jeweiligen Ausgaben
letzter Hand bietet. Dagegen hat Gottfried Kellers Leben inzwischen seine
abschließende Darstellung erhalten. Lag bisher nur Bächtolds Kellerwerk
mit der in acht Teile zerlegten Sammlung des Briefwechsels und den acht
gründlichen Einleitungen dazu vor (1S92 — 9G) sowie die von Bächtolds
W^itwe gesondert herausgegebene Ausgabe dieser biographischen Einlei-
tungen (1898), so ist jetzt durch E. Ermatinger dieses Werk in völliger
Um- und Neubearbeitung dem Stande der heutigen Forschung angepaßt
worden („G. Kellers Leben, Briefe und Tagebücher. Auf Grund der
Biographie J. Bächtolds dargestellt u. hrsg.'"', Stuttg. 191 6 ff.). Ermatinger
hat die Biographie vollständig abgesondert, stofflich gewaltig bereichert
und durch Schaffung eines weiteren Hintergrundes allseitig vertieft.
Vieles erscheint jetzt ungleich lebensvoller, über Fragen wie Keller als
Politiker, sein Verhältnis zur Romantik, zu Feuerbach wird endgültig
Klarheit verbreitet und die eindringende Analyse der Werke ermöglicht
deren tiefere Würdigung. Auch die Sammlung der Briefe hat mannig-
fache Ergänzungen erfahren, sowohl durch Vermehrung wie durch Be-
richtigung des Bächtoldschcn Materials. — Hierzu bietet Äl. Kai b eck s
Sammlung „Faul Heyse und Gottfried Keller im Briefwechsel" (Braun-
I2n
schweig 1919) eine erwünschte Ergänzung, die den barocken Humor
des Schweizers in interessantem Gegensatz zu dem Witz des glänzenden
Stilisten Heyse zeigt. Dagegen ist der Kommentar vielfach unzuver-
lässig und weitschweifig. — Neben dem die Kellerliteratur besonders be-
reichernden Monumentalwerk Ermatingers ist auch die Einzelforschung
nicht müßig gewesen. Für den „ Grünen Heinrich" bringt F. Beyels
Züricher Dissertation mit dem Titel „Zum Stil des Grünen Heinrich"
(1914) eine wertvolle stilistische Untersuchung, die für die Vergleichung
bereits Ermatingers Neudruck der ersten Fassung von 1854 55 (Stuttg.
1915) benutzt ;md trotz Heranziehung jeder kleinsten stilistischen Einzel-
heit durch übersichtliche Disposition und die Einhaltung weiterer Ge-
sichtspunkte glücklich die Gefahr des Versinkens in toten Lesartenkram
vermeidet. — Dagegen ist die an sich nicht sehr tief schürfende Münch-
ner Dissertation von K. Beckenhaupt über ,, Die Entstehung des
grünen Heinrich" (1915) nunmehr im wesentlichen überholt, während
sich die Gießener Dissertation von W. Schallas, „Die Begründung
der Handlung bei G. Keller" (1913) mit ihrer auf rein logische Sche-
men gezogenen Untersuchungsweise für die Kellerforschung als wenig
fördernd darstellt. — Recht brauchbar ist dagegen A. Leitzmanns Neu-
druck „Die Quellen zu G. Kellers Legenden" (Quellenschriften zur
neueren dtsch. Litg. N. 8), der die Kosegartenschen Vorlagen und eine
kritische Textwiedergabe der Dichtung bringt. Hier ist, besonders auch
für seminaristische Übungen , eine ausgezeichnete Möglichkeit gegeben,
den Beziehungen zwischen dem fertigen Kunstwerk und dem ihm zu-
grunde liegenden Stoff nachzugehen. Die Einleitung orientiert trefflich
über Kosegarten und bringt in ihrem dritten Teil zu dem Bilder- und
Gleichnisschatze der Kellerschen Legenden zahlreiche Quellennachweise
und für die Chronologie wichtige Parallelen aus den übrigen Werken. —
Eine genauere Untersuchung ist schließlich noch den „Leuten von Seld-
wyla" und der „Ursula" zuteil geworden. P. Wüst legt in einer
Abhandlung über „Entstehung und Aufbau von G. Kellers Novelle
Die Leute von Seldwyla" (Mitteilungen d. lithist. Ges. in Bonn, 1914,
H. 4/5) aus dem jahrzehntelangen Werdegang die innere Entstehung
, aus Wahrheit und Dichtung dar : die Wirklichkeitskeime von drei ver-
bürgten Geschehnissen innerhalb der Jahre 1855/63, einzelne Züge aus
inneren und äußeren Erlebnissen sowie die Beeinflussung durch andere
Dichter, von denen Hauff, Tieck, Brentano, E. Th. A. Hoffmann und
Jakob Frey besonders hervorzuheben sind. Die gleichfalls aus der
Bonner Schule hervorgegangene Dissertation von H. Meumann über
„Entstehung und Aufbau von G. Kellers Ursula" (1916) gibt ein gutes
Beispiel, wie eine sorgfältige und gut disziplinierte Analyse trotz ge-
ringster Entstehungsüberlieferung zu überzeugenden Resultaten für die
Entstehungsgeschichte führen kann. — Schließlich sucht noch eine Älün-
chener Dissertation von A. Weiraann- Bischoff mit dem Titel „G Keller
und die Romantik" (1917) Kellers Bekanntschaft mit den einzelnen
Romantikern, seine Abhängigkeit von romantischer Malerei und das Vor-
handensein romantischen Gutes in seiner Dichtung darzustellen, wobei
127
aber sein Verhalten der Romantik gegenüber immer als feste Größe
und nicht unter dem Entwicklungsgesichtspunkt betrachtet wird.
Fontaue ist, abgesehen von einer Ökizzierung des Menschen und
Dichters aus seiner Korrespondenz^ die G. Kricker in den Mitteilungen
der literarhist. Gesellschaft in Bonn 1914 gab und die von Grete Litz-
mann ebenda durch besonders methodisch wertvolle Erwägungen er-
gänzt wurde, nur in seinem episch - lyrischen Schaffen näher betrachtet
worden. H.Rhyns Untersuchung über „Die Balladendichtung Th. Fon-
tanes mit besonderer Berücksichtigung seiner Bearbeitungen altenglischer
und altschottischer Balladen aus den Sammlungen von Percy und Scott ^'
(Forschungen zur Linguistik und Literaturwissenschaft, 1914) gibt einen
Vergleich zwischen der alten Vorlage und den Bearbeitungen Fontanes,
geht dann auf verschiedene Einzelheiten näher ein und untersucht den
Stil des Vorbildes und der deutschen Nachbildung. Dabei kommt der
Einfluß auf die Gestaltung der Balladen der zweiten und dritten Ent-
wicklungsstufe nicht zur vollen Herausarbeitung, das Ganze aber stellt
sich trotz der etwas engen, rein philologischen Einstellung als eine an-
sprechende Leistung dar. — Die ästhetische Seite wird dagegen von
P. Wißmann in seiner Heidelberger Erstlingsschrift ,, Th, Fontane.
Seine episch -lyrischen Dichtungen*' (1916) stärker in den Vordergrund
gerückt, der auch ungedruckte Jugendgedichte heranziehen kann. —
Das von E. Heilborn herausgegebene „Fontane- Buch" (Berlin 1919)
bringt wertvolle Nachträge aus dem handschriftlichen Nachlaß, so be-
sonders bisher unbekannte Entwürfe zu Prosaerzählungen und die Tage-
buchaufzeichnungen von 1884 bis zu seinem Tode. — Schließlich sei
bei dieser Gelegenheit noch auf eine Publikation hingewiesen, die
F. Behrend im Auftrage des Berliner Geschichtsvereins herausgibt
und die ihrem noch nicht erschienenen zweiten Teil auch der Fontane-
Forschung zugute kommen dürfte: „Der Tunnel über der Spree.
L Kinder- und Flegeljahre 1827 — 1840". [Auf einige durch das Ju-
biläum hervorgerufene wichtige Neuerscheinungen der Fontane-Literatur,
die die Bibliographie am Schlüsse dieses Bandes vermerkt, sei schon
hier hingewiesen.]
§ 13. Neuklassizismus
Der hundertjährige Geburtstag Emanuel Geibels hat außer den ver-
schiedenen Gedenkartikeln in den Tageszeitungen und einzelnen Zeit-
schriften nichts wesentlich Neues zur Erkenntnis des Dichters erbracht.
Angenehm berührt die taktvoll abwägende Würdigung R. Schachts
in seiner Einleitung zu der guten Auswahl von Geibels Werken (Leipzig,
Hesse & Becker), die dem heute üblich gewordenen völligen Aburteilen
widerspricht, ohne in Überschätzung zu verfallen.
M. Mendheims Darstellung „E. Goibol" (Keclam Nr. 2802) verfolgt mit ihrem
stärlieren Hervorkehren der biographisch-menschlichen Seite ebenfalls mehr volkstüm-
liche Zwecke.
Dagegen bedeuten die Programmarbeiten von M. Nietzki „Geibel
und das Griechentum" (Stettin 1915) und R. Thomas „Geibel und
128
die Antike" (Regensburg 1913/14) immerhin eine beachtenswerte Be-
reicherung unserer Kenntnis, wobei vor allem die letztgenannte Arbeit
durch ihre große Belesenheit in der antiken und neueren Dichtung einen
wertvoUen Beitrag zur Erforschung des Nachlebens der Antike darstellt.
Die Dissertationen von K. von Stutterheim, „W. Hertz als Lyrilier" (Tü-
bingen 1914) und P. Krause, „Die Balladen und Epen des Grafen A. F. von Schack"
(Breslau 1915) sind beide im wesentlichen nur als Stoffsammlungen zu bewerten, aus
denen für die individuelle Eigenart des Dichters sowie seine Stellung in der zeitge-
nössischen Literatur und seine Nachwirkung auf die folgende Generation im ganzen
recht wenig herausspringt.
Dagegen bringt Maria Peters mit ihrer Münsterischen Disser-
tation „F. W. Webers Jugendlyrik auf ihre Uterarischen Quellen und
Vorbilder untersucht" (1917), einen guten Beitrag zur Kenntnis des
Dichters, indem sie seine hterarischen Vorbilder in den Göttingern, in
Salis, Matthisson, Uhland, Heine, Lenau und Freiligrath aufzeigt und
seine literarische Stellung und Weltanschauung einer verständig abwä-
genden Betrachtung unterzieht.
Mit der von G. Bohnenblust besorgten dreibändigen Ausgabe
„Heinrich Leuthold. Gesammelte Werke" (Frauenfeld 1914) ist dem
Vielverkannten nun endlich sein Recht geworden. Gereinigt von den
Korrekturen Geibels, Baechtolds und Gottfried Kellers, um zahlreiche
ungedruckte Gedichte und zum Teil meisterhafte Übersetzungen ver-
mehrt, liegt das Werk des großen Lyrikers in all seinen Vorzügen und
all seinen Schwächen vor uns. Bohnenblusts Einleitung gibt in knapper
Form eine wohl als abschließend zu betrachtende, gerecht abwägende
Beurteilung. Von der Schwierigkeit der Ausgabe — die zahlreichen
Lesarten der Handschriften lassen nur selten eine vom Dichter als end-
gültig gewollt erkennen — gibt die Handschriftprobe der Ode „Meer-
fahrt" einen Begriff.
Bezeichnend für jene Hterarische Entwicklung der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts, die inhaltHch sich der historischen Vergangenheit
zuwandte und formal ihr Ideal im griechisch-deutschen Klassizismus er-
blickte, ist der Einfluß der beiden großen Historiker Jakob Burckhardt und
Ferdinand Gregorovius. Wieweit beide auch mit eigenen dichterischen
Produktionen am literarischen Leben ihrer Zeit beteiligt sind, erhellt aus
zwei dankenswerten Untersuchungen. J. Honig zeigt in einer durch ge-
diegenes kritisches Urteil ausgezeichneten Breslauer Arbeit über „F. Gre-
gorovius als Dichter" (Bresl. Beitr. 39, 1914), wie bei dem Historiker
der antiken Kulturzentren eine das Durchschnittsmaß weit überragende
dichterische Begabung Form und Stil seiner Werke beeinflußt hat und
seine Jugenddichtung unter dem Einflüsse Heines, Lenaus und Platens
steht. — K. E. Hoi'fmanns Untersuchung über „Jakob Burckhardt als
Dichter" (Basel 1918) gibt, etwas trocken, aber fleißig zusammengetragen
und systematisch geordnet das bisher nur wenig bekannte Material, das
das Gesamtbild des Forschers abrundet. Was Burckhardt an eigener
schöpferischer Kunstleistung versagt geblieben ist, hat er in „nachempfin-
dender Andacht fremder Kunstleistungen " sich ausleben lassen ; hervor-
Wissenschaftliche Forscliungsberichte VIII. 9
129
zuheben sind seine schlichten Dialektdichtungen : E. Hempfeli Lieder. —
Äußerst aufschlußreich für Burckhardt sowohl wie für den jungen Freund
des reifen Mannes, Paul Heyse, ist der „ Briefwechsel zwischen J. Burck-
hardt und Paul Heyse", den E. Petzet herausgegeben hat (München
1919). Die Briefe stammen hauptsächlich aus der Blütezeit von Burck-
hardts Schaffenskraft, aus den Jahren 1849/64, werfen aber in verein-
zelten Nachläufern auch noch auf seine spätere Zeit helles Licht. Für
Paul Heyse ergibt der Briefwechsel wesentliche Beiträge zur Kenntnis
seiner Jugendgeschichte, zu wichtigen Grundzügen seiner Dichtung, zu
seinem Verhältnis zu Italien und zu den Formproblemen seiner Kunst.
Eine ausführliche Würdigung des Briefwechsels gibt Petzet selbst in
den „Abhandlungen Franz Muncker dargebracht" (München
1916). — Reich an fruchtbaren Resultaten ist die kleine Schrift von
R. Mitchell, „Heyse and his precedessors in the theory of the No-
velle. (New York Üniversity, Frankfurt a. M. 19 IG), die einen guten
zusammenfassenden Überblick über die Entwicklung der deutschen No-
vellentheorie von Goethe und den Romantikern bis zu Heyse und Spiel-
hagen gibt. Dabei werden einleuchtende VerbindungsUnien gezogen und
beachtenswerte Hinweise (so auf die bedeutende theoretische Arbeit
Th. Mundts) gegeben.
Schließlich hat auch die Conrad Ferdinand Meyer-Forschung in den
letzten Jahren eine wesentliche Bereicherung erfahren. An neu erschlos-
senem Material ist in erster Linie Adolf Freys zwei große Quartbände
umfassende Ausgabe der Prosafragmente zu nennen : „ C. F. Meyers un-
vollendete Prosadichtungen. I.Teil: Erläuterungen u. Fragmente. 2. Teil :
Die faksimilierten Handschriften." Die hier enthüllte Genesis bisher nur
ungenau oder gar nicht bekannter Prosawerke dürfte hervorragend geeignet
sein, Baumgartens Auffassung, Meyers Novellen hätten keine organische
Gestalt, sondern nur eine dekorative Form, zu widerlegen. Die Erläu-
terungen dee Herausgebers sind aus jener genauesten Kenntnis des Menschen
und Dichters hervorgegangen, die in allen Veröfi'entlichungen des nun-
mehr auch dahingegangenen Züricher Gelehrten über den dichterischen
Landsmann zutage trat und vor allem seiner biographischen Darstellung
„C. F. Meyer und seine Werke" (3, Aufl. Stuttg. 1919) stets ihren grund-
legenden Wert für die gesamte weitere Forschung verleihen wird. — Der
von A. Langmesser herausgegebene „Briefwechsel zwischen C. F. Meyer
und Julius Rodenberg" (Berlin 1918) ist für den Dichter selbst weniger
ergiebig, da er ebenso wie die von A. Frey 1909 veröflFentlichten beiden
starken Briefbände jene innere Verschlossenheit Meyers zeigt, die kaum
je über rein gesellschaftliche oder geschäftliche Dinge hinausgeht. Da-
gegen gewinnt man einen starken Eindruck von der taktvollen, klugen
und feinen Persönhchkeit Rodenbergs und dem starken Anteil, den er
mit seinem tiefen Verständnis, seinen vorsichtigen kritischen Bemer-
kungen und aufmunternden Anregungen an dem Lebenswerk Meyers
hat. — An der Spitze der darstellenden Werke steht das eigenwillige,
oft überpointierte, vielfach apodiktische, aber blickweite und zuweilen
tief in die Gründe künstlerischen Schaffens eindringende Buch F. Baum-
130
gartens,, Das Werk C. F. Meyers. Renaissanceempfinden und Stilkunst "
TMünchen 1917). Für ihn ist — offenbar vom Standpunkt moderner
formsprengender Gefühls- und Erlebnisdichtung aus gesehen — Meyers
ganzes Zeitalter ein aus dem Historismus geborener „ Renaissancismus ",
seine Kunst die formelle Routine des Asthetentums ! Es ist hier nicht
möglich, sich mit Baumgarten näher auseinanderzusetzen. Ich verweise
daher auf die eingehende, alle wichtigen Punkte klar charakterisierende
Besprechung von Erich Everth (Ztschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissen-
schaft Bd. 13, 1. Heft, S. 77/97). — Ein großer Teil von Baumgartens
Ausführungen wird nachdrückhch in M. Nußb ergers Werk „C. F.
Meyers Leben und Werke" (Frauenfeld 1919) widerlegt. Aus einer
entwicklungsgeschichtiichen Darstellung des lyrischen Schaffens heraus
weist Nußberger an der Hand einer bis ins einzelnste vordringenden
Untersuchung den großen Erlebnisgehalt der Meyerschen Dichtung nach,
die weit entfernt von „weltfremdem Asthetentum" den Tendenzen der
Zeit gerade zu künstlerischem Ausdruck verhalfen. — Für das lyrische
Schaffen des Schweizers liegt in W. Brechts Buch „C. F. Meyer und das
Kunstwerk seiner Gedichtsammlung" (Wien 1918) eine überraschende Auf-
hellung vor. Brecht deckt in seiner methodisch ebenso fruchtbaren wie
vorbildlichen Untjrsuchung den bewußt arbeitenden und sorgsam ab-
wägenden Kunstsinn Meyers bei der Zusammenstellung seiner Gedicht-
sammlung auf, wie er in einer solchen Ausprägung bisher wohl von
niemand vermutet worden war, so daß tatsächlich die Anordnung „ein
zweites unsichtbares Kunstwerk erzeugt, das in und zwischen den ein-
zelnen Gedichten sein Leben führt".
Dagesjen vermag E. Sulger-Gebings Auslassung über „C. F. Meyers Michel
Angelo-üedichte (in den Abhandlungen zu Franz Munckers 60. Geburtstag, München
1916) trotz einzelner dankenswerter Hinweise und Nachweise nicht wesentlich über
E. Kalischers Arbeit über ,.C. F. Meyer in seinem Verhältnis zur italienischen Re-
naissance (Pal. LXIV, 1907) hinauszukommen. — Schließlich untersucht noch die
Tübinger Dissertation von "Wera Eostowa über „Die Bewegungen und Haltungen des
menschlichen Körpers in C F. Meyers Erzählungen" (1915) in sorgfältig statistisch-
tabellarischen Aufzeichnungen jene Sonderzüge des C. F. Meyerschen Darstellungs-
stiles, wobei eine Vergleichung mit G. Keller wertvolle Resultate ergibt.
131
Bibliographie
der in den Jahren 1920/22 erschienenen Werke und Nachträge
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S. V. Lempicki, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende
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schichte der mhd. Literatur, I. Bd. 1922. — S. Aschner, Geschichte der deut-
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M. Schneider, Einführung in die neueste deutsche Dichtung (Stuttgart 1921). —
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§ 4. Reformation und Humanismus
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134
§ 10. Die führenden Dramatiker des 19. Jahrhunderts
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Erzählungstechnik Y. Scheffels (Diss. Münster 1919).
136
Verfassernamen
Ades, H. C. 118
Adler, F. H. 68
Adrian, K. 105
Alexander, W. 103
Amelung, H. 97
Andress, I. M. 73
Appelmann, M. 119
Arraandoff, I. 102
Arnold, E F. 18
Aschner, S. 132
Bab, J. 133
Bachmann, V. 87
Bächtold, J. M. 13
Baesecke, G. 2. 21. 132
Baginsky. B. 133
Bahder, K. v. 24
Baidinger, E. 117
Balk, N. 82
Balkenhol, A. 121
Bartels, A. 11.18. 64. 132. 135
Bathe, J. 108
Baum, E. 65
Baumgard, 0. 116
Baumgarten 130 f.
Baur, A. 30
Bebermeyer, G. 28
BecMold, A. 52
Beck, K. 135
Beckenhaupt, K. 127
Becker. A. 25
— , F. 134
— , F. K. 59
— . H. 135
— R. 57
— , V. M. 3
Behme, H. 107
Behrend, F. 128
Beschnitt, K. 62
Beik, H. 81
Bender, H. 112
Benz. R. 23 f. 41. 95
Berger, A. E. 32, 33
— , K. 83
Berneisen. E. 118
Berr«sheim, F. 83
Bertrand, J. J. A. 93. 134
Besse, K. 118
Beste, K. 109
Bettelheim, A. 135. 136
Betz, M. 44
Beyel, F. 127
Bianchi, L. 132
Biese, A. 11. 125 f.
Bischoff, H. 103. 134
Blanck, K. 133
Blankennagel, J. K. 106
Blatter, A. 26
Blum, F. 105
Bob, H. A. 46
Bode, W. 78. 133
Böhlich, E. 79
Boehm, F. 45
Boehme, K. 135
Bömer, A. 43
Bönneken, M. 124
Bohnenblust, G. 129
Bollert, M. 119
Bopp, I. M. 67
Borcherdt, H. H. 31 f. 53.
113 f. 115
Bormaun, G. 69
Bornhausen 134
Bornstein, P. 111
Borwitz, W. 42
Bossert, A. 73
BouilHer, V. 66. 133
Bourmann, C. 51
Boy-Ed, I. 78
Brandes, G. 133
— , H. 27
Brandl, W. 39
Brandt, H. 133
— , 0. 93
Braun, H. 109
Braune, F. 90
Brauweiler, E. 104
Brecht, W. 131
Brentano, L. 134
Breuer, M 95
Brieger, Th. 32
van der Briele, "W. 52
Brietzniann, F. 26
Brooks. E. 68
— , St.' 85
Brown, P. H. 133
Brüggemann, F. 59
Brüstle, W. 71
Brun, L. 133. 185
Buchta, A. 97
Buchtenkirch, G. 107
Buchwald, G. 33
Bücher, W. 109
Bulling, K. 65
Burdach, K. 41 f.
Busse, L. 15
Caccia, N. 45
Calow, E. 135
Campbell, F. M. 135
Cardauns, H. 96. 97
Cassii-er, E. 86. 106
Castie, E. 77
Church, H. W. 99
Coffmann, B. R. 60
Cohn, E. 133
Conen, F. 94
Consentius, E. 70
Corsen, M. 135
Creizenach, W. 14 f.
Croce, B. 133
Denk, 0, 48
Deutschbein, M. 134
Didier, A. 44
Dikenmann, R. 63
Diener, W. 124
DHthev, W. 5. 42
Dittrich, P. 42
Draeger, R. 123
Droescher, G. 135
Düsel.. F. 68
Ebhardt, R. 112
Eckert, H. 82
Ehrismann, G. 132
Eichler, B. 46
Ekhardt. W. 101
Eliuß, S. 90
V. Eis, H. 110
Enders. C. 119. 135
Engel, E. 5
Enz, H. 135
Ermatinger, E. 126. 132
Ernst, F. 91
— , J. 68
Ettlinger, M. 11
137
Faerber, L. 94
Fauconnet, A. 134
Fauth, G. 26
Federn, E. 78. 135
Fehn, A. 118
Feilbogen, F. 124
Filippi, L. 135
Findeis, R. 15
Finke, H. 92
Fischer, A. 49
— B. 114
— , E. 42
- , M. 108
Fischli, A. 134
Fittbo£;en, G. 63. 108
Flad, E. 105
Flemming, "W. 55
Floeck, 0. 100
Fluck, H. 71
Franke, C. 35
Fiaude, 0. 135
Frenzel, J. 101
Fresdorf, IT. 115
Feund A. 121
Frey, A. 130
Freye, K. 72
Freyer, M. 35
Fritz, F. 25
— , J. 32
Galaboff, K. S. 92
Galetti, G. 101
Garbe, U. 68
Gassen, K. 135.
Gattermann, H. 26
Geißler, H. 109
Geller, M. 120
Gerhardt, M. 84
Germann, K. 64
Geyer, A. 46
Giese, E. 36
— , F. 90
Glätzel, M. 116
Gluck, H. 122
Glück, F. 134
Goedeke, K. 17 f.
Götze, A. 22 f.
Gose, H. 133
Graf, H. G. 75. 76
Grabl-Mügelin, W. 100
Gratopp, K. 126
Graub, J. 81
Grebe, W. 136
V. Grolmann, A. 78. 86
Groschwald, P. 65
Grußendorf, JI. 68
Gülzow, E. 98
Günther, H. 24
— , K. 67
Günther, 0. 134
Gundolf, F. 771
Gutzeit, M. 51
Häberlin, H. 135
Hähners, M. 123
Halbeisen, H. 120
Hallermann, J. 119
Hallmann, G. 135
Hammer, H. 94
Hankamer, P. 101. 134
Hannes, M. 103
Hansen, A. 135
Harich, W. 100. 136
V. Harnack, A. 32
Hartmann, J. 101
Hasinsky, M. 136
Hasse, K. P. 134
Hastenpflug, 0. 126
Haubold, F. 136
Hauff, W. 44
Hauffen, A. 46. 133
Hausrath, A. 33
Hayens, K. 135
Haym, R. 89
Hecker, M. 76
Heckmann, W. G. 134
Heilborn, E. 128. 135
Heininger, F. 97
Heitmann, F. 121
Heitz P. 27
V. Helüngrath, N. 86. 134
Hempel, P. 56
Hengsberger, K. 134
Henrich, A. 45
Hensold K. 117
Herrmann, M. 38
Herte, A. 34
Hertel, Th. 94. 125
Hertz, W. 129
Hes, E. 116
Hey, M. 135
Hillmann, D. 82
Hinnah, F. 118
Hintner, F. 36
Hirth, F. 104
— , K. 133
Höfer, C. 81. 135
Hüuig, J. 129
Hoestermann, E. 112
Ilövel, E. 54
Hofer, K. 111. 133
Hoffart, E. 73
Hoffmaun, K. E. 129
Hohenstatter, E. 117
Horowitz, J. 63
Horwitz, A. 91
Hradek, L. 109
Huch, R. 122
Hübner, A. 45
Hülle, I. 60
Hundertmark, 0. 103
Hunziker, F. 126
Egner, H. 124
lueichen, A. 135
Isch, W. 135
Jacobstroer, B. 120
Jaeggi, F. 135
Jahn, E. 67
-, AV. 112
Janell, W. 44
Janentzky, K. 74
Jauke, M. 135
Janko, S. L. 81
Jansen, W. 124
Janssen, A. 135
Jef., H. 126
Johannesson, A. 84
Jost, W. 134
Kadner, F. 133
Kaindl, R. F. 45
Kaiser, I. 72
Kalbeck, M. 126
Kalischer, E. 131
Kalkoff, P. 32. 133
Kappenberg, H. 105
Kanter, F. 107
Kappstein, Th. 133. 134
Kauenhoven, K. 71
Kaufmann, P. 37
Kaulfuß-Diesch, K. 30
Kayser, H. 133
— , R. 97
Keerl, F. 123
Kempf, J. K. 123
Keller, A. 71
Kern, 0. 133
Kilian, W. 117
Kindermanu, H. 134
Kipka, K. 18
Klabund 11
V. Klein, E. 99
Klein, E. 119
— , G. 119
Kleinberg, A. 136
Kleineibst, R. 65
Klemperer, V. 120
Kloß, A. 105
Knecht, F. 135
Knellwolf, A. 43
Kober, A. 6. 16
Kobes, F. 126
Koch, A. 82
-, F. 116
— , M. 11
138
Köhler, A. 99
-, W. 30. 32
Koller, C. 98
Kölmel, A. F. 52
König, E. 44
Körnchen, H. 51
Köster, A. 38 f. 125
Kohler, H. F. 122
Korff, H. 881
Koschmieder, A. 73
Krafft, E. 40
Krammer, M. 135
Krauß, A. 99
Krev, E. 128
Kricker, G. 128. 135
Krisch, P. 113
Krügel, P. 98
Krüger, H. A. 18
— , J. 92
Kuchanny, L. 43
Kürbs, H. 124
Kürfel, W. 92
Kupsch, W. 135
Laging, A. 66
Lang, L. 102
Langmesser, A. 130
Lefftz, J. 29
Lehmann, E. 87
— , G. 136
-, P. 41
Leitzmann, A. 65. 84 f. 127.
133
Lemcke, H. 29
Lempicki, S. v. 132
Lenz, 0. 87
Lepp, F. 26
Lewalter, E. &1
Lewy, E. 72
— , G. 135
V. d. Leyen, F. 2. 28
Lichtenstein, E. 60
V. Liebenau, Th. 28
Liederwald, C. 82
Liepe, W. 23. 64
Lindemann 11
Lindner, R. 115
Lippert, W. 61
Litzmann, G. 128
Löffler, K. 44. 70
Loofs, H. 70
Loose, E. 111
Ludwig, E. 133
Luckwald. E. 103
Lüdeke, H. 93
Luther, B. 108
MäMich, M. 114
Maemer, L. 135
Härtens, J. 134
Magon, L. 99
V. Manikowsk, F. 60
Marcus, F. 134
Marx, E. 64
Maus, Th. 27
Mausolf, W. 134
Maync, H. 78. 135
Mazzuchotti, L. 93
Mechel, K. 39
Meier, G. 26
Meise, W. 84
Mejasson 137
Mendheim, M. 128
Merbach, P. A. 13
Merker, P. 8 f. 28. 29 f. 33.
44. 75. 113 f. 132
Mestwerdt, P. 43
Metis, E. 117
Meumann, H. 127
Meyenburg, E. 70
Meyer, F. 60
— , E. M. 10 f.
Meyer-Benfey, H. 62
Michael, W. 69
Michel, V. 2
Mis, L. 115. 135
Mitschell, R. 130
Möckei, K. 116
Mohr, F. 39
Monius, G, 134
Moormann, M. 117
Morris, M. 79
Moser, V. 22
Müller, B. A. 45
V. Müller, H. 99 f.
MüUer, H. 83
— , E. 83
— , W. 82
Müsebeck, E. 98
Muncker, F. 62
Mutschier, K. 134
Mutzenbecher, H. 104
Nadler, J. 4. 11 f. 54. 77. 134
Nagl, J. V. 13
Naumann, F. 133
— , H. 22
Neubauer, L. 25
Neubert, F. 30. 82
Neuburger, P. 103
Niessen, C. 40
j 97
Nietzki, M. 128
Nippold, E. 95
Nußberger, M. 131
Obenauer, K. .T. 133
Oehlke, W. 62. 96. 132. 133
Offergeid, K. 135
Ostwald, W. 82
Ott, K. 27
Palgen, R. 101
Panzer, F. 136
Paul, G. 61
Payer v. Thurn 25. 109
Peters, M. 129
Petersen, J. 3. 17. 78. 107
Petitpierre, F. 116
Petrich, H. 49
Petsch, R. 16. 78
Petzet, E. 130
Pieper, A. 67
Piper, P. 133
Pinger, W. R. 134
Pfannkuchen, W. 82
Pfannmüller, L. 37
Pfeiffer, R. 44
Pfeil, L. 56
Plenio, W. 37
Plotke, G. J. 125
PoUraer, A. 133
Pompecki, L. 14
Preitz, M. 96
Prys, J. 51
Quentin, W. 46
Radke, M. F. 135
Rath, H. W. 104. 134
Rausse, H. 16
Regli, M. A. 133
Reinhold, C. T. 135
Reitz, E. 134
Remy, H. 134
Rhein, F. 105
Rhyn, H. 128
Richter, W. 37. 107
Riederer, F. 93
Riemer, F. W. 133
Riese, A. 29
Rockenbach, Th. 126
Roe, A. ß. 50
Reeder v. Diersburg, E. 132
Röhl, H. 11
Roehle, M. 100
Roethe, G. 32. 45. 80. 133
Rohde, R. 134
Rogge, H. 134
Rosenloaum, A. 20
Rührmund, E. 46
Rummelt, F. 67
Saedler, A. H. 112
Saran, F. 80
Sarter, E. 81
Sartori-Neumann, B. 134
139
Sauer, A. 4. 77. 108 f.
Scotti, A. 115
Schacht, R. 128
Schaffner, P. 135
Schairer, F. 72
SchaUas, W. 127
Schauer, H. 58
Scheel, 0. 34. 132
Scheid, N. 55
Scheidweiler, P. 90
Schellenberg, A. 134
Scherer, W. 9 f.
Scherrer, M. 89
Schierbaum, H. 66
Schierdins?, H. 120
Schiff, J. 77
Schiller, H. 124
Schmidt, E. 114
— , G. 73
— , R. 26
Schmitz-Kallenberg, L.
Schneider, H. 101. 106 f.
— , H. 102
— , F. 23
— , M. 132
Schnorf, H. 69
Schöberl, J. F. 132
Schön, F. 132
Scholienberger, H. 18
Schölte, J. H. 52. 53
Schramm, F. 48
Schreckenbach, P. 30
Schroeder, E. 49
Schröder, K. 59
V. Schröder, ^V. 50
V. Schubert, H. 33. 34
Schubert, P. 101
Schüddekopf, K. 95
Schulhof, H. 102
Schum, A. 133
Schulte, W. 110
— , H. A. 120
Schultz, F. 28
Schulz, M. 133
Schulze, W. 102
Schumann, G. 29
Schuster, M. 104
Schwaller, J. 39
Schwartz, H. 93
Schwetje, W. 118
Seebass, F. 134
• Seil, F. 134
Semper, M. 82
Seuffert, B. 64. 133
Siebs, Th. 123. 132
Silling, M. 135
Siegen, K. 106
Singer, S. 13
72
134
Smekal, R. 135
Sommerfeld, M. 66
Spieß, 0. 80
Spitta, F. 35
Spenle, M. 40
Spenle, E. 134
Spohr, E. 134
Stamm, H. 126
Stammler, W. 70 f. 72. 132
Stecher, M. 59
Stei?, R. 96
Steinberg, H. 56
Steiner, E. 135
Sternberg, F. 54
Stimmel, E. 135
Stock, G. 102
Stockmann, A. 134
van Stockum, T. C. 63
Stöffler, F. 52
Stolle, K. 117
Strauß, B. 43
— , D. F. 43
Strich, F. 47
Strobl, K. H. 136
Stümcke, H. 56
Sturm, E. 71
— , W. 73
V. Stutterheim, K. 129
Subotic, D. B. 116
Sulzer-Gebing, E. 131
V. Sydow, A. 84
Tannenbaum, E. 112
Teichmann, M. 84
Teller, F. 107
Thalmann, M. 94
Thode, H. 31
Thomas, R 128
Thieß, F. 82
Titze, H. 81
Törnvall, E. G. 53
Touaillon, Chr. 88
Treutier, A. 73
Trendelenburg, A. 133
Triebnigg, E. 40
Tribolet, H. 133
Tümpel, W. 49
Tumarkin, A. 134
Uhleudahl, H. 134
Unger, R. 5.
V. Unwerth, W. 57 f. 132
Ulich, R 79. 119
Ulbrich, H. b3
Varney, F. 84
Vaternahm, 0. F. 82
Veiten, R. 48
Verwcyhen, J. W. 11
Vietor, K. 134
Vogel, P. 91
Vogt, F. 11
Vogt, F. 132
Volpers, R. 92
Wächter, K. 108. 135
Wälterlin, 0. 134
Wagner, A. M. 70
-, K. 48
-, L. 98
Wahl, H. 65. 75
Wähle, J. 75
Walther, W. 32. 34
Wandrey, C. 135
V. Waldberg, M. 57
AValzel,0.7f. 10.16. 89. U.3
AVaters, G. 50
Wegner, F. 40
Weidling, F. 44
V. Weüen, A. 116.
Weimann-Bischoff, A. 127
Weinmann, R. 133
Weinschenk, G. 116
Weiß, F. 135
Wenter, J. G. 111
Wels, K. H. 48
Werner, R. M. 110 f.
V. Werner, A. 136
Weraike, S. 37
Wesmever, R. 102
West, L. 116
Widmann, B. 96
Wiegand, J. 132
Wieneke, E. 92
Wilhelm, F. 132
Willige, W. 106
Wißmann, P. 128
Witkop, Ph. 14 f. 132
Witkowski, G. 58. 133
Wittsack, R. 135
Wühlert. H. 68
Wölfflin, H. 8
Wolf, G. 21 f.
Wolff, A. 63
— , E. 81
— , M. J. 133
Woltereck, K. 95
Wolters, M. 28
Wüst, P. 127
Zacher, F. H. 27
V. Zastrow, H. 91
Zeidler, J. 13
Zeitler, J. 79
Zilchert, R. 134
Zincke, P. 85^
Zinkernagel, F. 86
Zobel V. Zabeltitz, M. 11 o
Zwetz, R. 50
140
Sachverzeichnis
Ähasver 25
Alexis, TV. 122
Ällmers, H. 123
V. Alxinger, J. B. 65
Andrea, J. V. 51
Anzengruber L. 136
Arndt, E. M. 98
V. Arnün, A. 96. 97
-, B. 96
Arnold, G. 50
Aufklärung 57 ff. 133
Avancini, N. 55
Bälde, J. 45
Ballade 102. 119. 128. 129
Barock 45. 46 ff. 133
Barocktheater 54
Bemhardi, S. 95
Bibelübersetzung 34 f.
Bibliographie 17 ff. 132 ff.
Birch-Pfeiffer, Ch. 116
Birk, S. 132
Böhme, J. 133
Boltz, V. 39
Brandenburg 13
Brant, S. 27 f.
Bremer Beiträger 61
Brentano, Cl. 93 ff. 134
Brion, F. 133
Brinkmann, J. 125
Blockes B. H. 60
Buchholz, A. H. 52
Büchner, G. 119. 135
Bürger, G. A. 70 f. 133
Bullinger, H. 134
Burckhardt, J. 129 f.
Carl August Ton Sachsen-
"W'eimar 75
Chamisso, A. v. 102
Claudius, M. 70. 133
Deutschkunde 3
Didaktik 56 f.
Döbereiner, J. "W. 77
Drama 14. 16. 38 ff. 54 ff.
571 68 f. 106 ff. 118. 133.
134 f.
V. Droste-Hülshoff. A. 121.
135
V. Ebner-Escheubach, M. 135
Eckermann, J. P. 77
V. Eichendorff, J. 102
Elsaß 24. 26. 27 ff. 39. 44 f.
46. 67
Empfindsamkeit 67 ff.
epistolae obscurorum viro-
rum 43
Erasmus 43. 45
Faust 133
Faustforschung 81
Faustsage 25
Fischart, J. 46
Fontane, Th. 128. 135.
Forster, G. 85
Fortunatus 24
V. Fran(^ois, L. 135. 136
Frauenroman 88
Freüigrath, F. 119
Freytag, G. 135
Frischlin, N. 44 f.
Gattungsgeschichtliche Dar-
stellungen 14 f.
Geibel, E. 1281
Geiler v. Kaisersberg 27
Gelehrtendichtuug 47
Geliert, Chr. F. 133
Gerhardt, P. 49
Gerstäcker, F. 120
Gerstenberg, F. W. 70
Gesellschaftslied 48
van Ghetelen, H. 27
Gieseke, N. D. 61
Gleim, J. W. 133
Görres, J. 98
V. Goethe, A. 78
— , Chr. 76. 78. 133
— . J. W., 74ff. 92. 95. 121.
1331
Göttinger Hain 681
Gotthelf, J. 122. 135
Gottsched, J. Chr. 60 f.
Grabbe, Chr. D. 100. 135
Gregorovius, F. 129
Greif, M. 116
Grillparzer, F. 108 ff. 135
Grimm. J. 96
Grimm, ^'. 96
V. Grinmi eishausen, J. Chr.
52 ff.
Grüner, J. S. 77
Grvphius, A. 551
Gutzkow, K. 1161 135
Hafner, Ph. 65
y. Hagedorn, F. 60
V. Haller, A. 60
Hansjakob, H. 123
T. Hardenberg, F. 95
Hebbel, F. 110 fl 135
Heimatdichter 122 f.
Heine, H. 1031 134
Heiuse, "SV. 116
Hensel, L. 96
Herder, J. G. 72 f. 79. 133
Herwegh, G. 117
Heyse, P. 125. 126. 130
Historismus 1151 118.1301
Hölderlin, F. 85 ff. 134
Höltv. L. 69
Hoffmann, E. T. A.991 134
Hoffmann v. Faliersleben 1 18
Holland 51
V. Hörn, W. 0. 124
Hoyers, A. 0. 50
Huber, Th. 85
Humanismus 40 ff. 132
V. Humboldt, C. 84
— , W., 841
V. Hütten, U. 43. 45
Illustration 28
Immermann, K. 135
Iselin, I. Iü3
Jacobi, F. 63
Jahresberichte 18 ff.
Jesuitendichtung 54 f.
Junges Deutschland 116 ff.
135
V. Jimkmann, W. 120
Keller, G. 126. 135
Kinkel, G. 119
Kirchenlied 49 f.
Klassizismus 74 ff. 133
141
Klein, I. L. 116
V. Kleist, H. lOßff. 134 f.
Klinger, F. M. 71. 133
Klopstock, F. G. 67 ff.
König. H. H. 120
Kurz, H. 134
Lafontaine, A. Tl. J. 67
Laube, H. 116 f.
Lavater, J. K. 73
V. Lenau, N. 103. 134
Lenz, J. M. R. 72
Lessing, G. E. 61 ff. 93. 133
Leuthold, H. 129
Lewin, R. 116
Lichtenberg, G. Chr. 65 f. 133
Lindner, A. 116
Literaturgeschichte , allge-
meine 9 ff. 132
Literaturwissenschaft 132
V. Logau, F. 56
Ludwig von Anhalt-Cöthen 48
Ludwig, 0. 113 ff. 135
Lustspiel 42
Luther, M. 30 ff. 45. 132
Lyrik 15 f. 47 ff.
Mameranus, N. 44
Mayer, H. 76
Meistersinger 36 f. 40
Meißner, A. 118
Mereau, S. 97
Methoden 3 ff. 134
Meyer, C. F. 1301 136
Meyr, M. 122
Mörike, E. 1041 134
Moser, J. 66
Montanus, J. 44
Mosen, J. 118
Müller, A. 90
Murner, Th. 27 fl
Musäus, J. K. A. 67
Mystik 50
Naogeorgus, Th. 45
Neidhart. H. 42
Neuklassizismus 128 fl 136
Neulateinische Dichtung
40 fl
Nicolai, F. 651
Niederdeutschland 27. 132
Novalis s. Hardenberg
Novelle 94. 130
Oesterreich 13. 77
Opitz, M. 48
Peutinger, K. 44
Pietismus 50
Pietsch, J. V. 60
Pirkheimer, W. 44
Pfeffel, G. K. 67
Prinzipien If. 132
Prutz, R. 117
Raabe, W. 124. 135
Kabener, G. ^^\ 61
Raimund, F. 137
Realismus 1211 135
Reformation 21 fl 132
Reimarus, ET. S. 63
Religiöse Dichtung 16. 49 f.
Renaissance 41 f. 47. 132
Reuter, Chr. 58
-, F. 123
Richter, Jean Paul 87 f. 134
135
Riehl, W. H. 135
Riemer, J. 52
Ringwaldl B. 40
Rist, I. 56. 133
Robinson aden 59
Roman 16. 23. 26. 51fl 591
90. 119 ff. 133
Romantik 12. 89ff. 127.134.
Rückert, F. 99
Sacer, G. W. 561
Sachs, H. 36 f. 46
V. Sallet, F. 103
Satirische Literatur 26. 561
Schack, Graf v. 119. 129
Scheffel, V. 136
Scheidenreißer, S. 44
V. Schenkendorf M. 99
Scherenberg, Chr. F. 119
Schiller, F. 71. 81. 831121.
134
Schiltbürger 24
Schlegel, A.W. 73. 921 133
— , C. 92
— , D. 92
— , F. 84. 90 fl
-, J. E. 61
Schmeltzl, "W. 40
Schnabel, J. G. 59
Schoi)enhauer, A.82. 109. 135
Schul)art, Chr. F. 711
Schücking L. 120
Schuldrania 391
Schwab, G. 102
Schwankbücher 24
Schwarz, S. 133
Schweiz 13. 26. 39. 69. 7:^..
126. 135
V. Schwind, M. 134
V. Sinclair, J. 116. 134
Solitaire, S. 103
Spangenberg, V. 39
Spener, Ph. 50
Spielhagen, F. 1191
Sprachvereine 48
Spreng, I. 37
Stammeskunde 4
V. Stein, Ch. 781
Steiuhövel, H. 42
V. Stolberg, F. L. 70
Storni, Th. 125. 135
Sturm und Drang 67 ff. 133
Tauler 132
Terstegen, G. 56
Tieck, L. 93 ff. 134
Toleranzgedanke 63
Uhland, L. 1011 134
Utopie 59
Vischer, F. Th. 124
Volksbücher 23 ff. 41
Volkslied 49
Voltaire 88
Voß, Chr. 85
— , J. H. 70
Waiblinger, W. 134
"VVagnervolksbuch 25
Weber, F. W. 129. 136
Weise, Chr. 52. 57 f.
Weltschmerzdichtung 1021
V. Werner, A. 138
Werner, Z. 64. 100 f. 134
Westpreußen 14
Wickram, J. 26
Wieland, Chr. M. 64 f. 133
Wild, S. 39
V. Willemer, M. 76
WiUkomm, E. 118
Winkler, P. 52
Wochenschriften 59
V. Wolzogeu, K. 85
V. Wyle, N. 43
Zauper, J. St. 77
Zeitroman 116fl 119fl
Zeitschriften 19fl
Zelter, K. F. 76
V. Zesen, Ph. 51
Zschokke, H. 67. 133
Dmck von Friedi'lch Andreas Perthes A.-G. Gotha
Wissen schaftliche
Forschungsberichte
Herausgegeben von Professor Dr. Karl Hönn
Geisteswissenschaftliche Reihe
1914—1920
Englische Sprachkunde
Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Stuttgart-Gotha 1923
Englische Sprachkunde
bearbeitet
von
Johannes Hoops
Professor an der Universität Heidelberg
e-'JBah^ Pi, ,j
Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Stuttgart-Gotha 1923
Alle Reclite, einschließlich des ÜberseUungsrcchtes, vorbehalten
Karl Luick
dem Forscher und Freunde
Vorwort
Es war mein Bestreben, nicht nur die wichtigeren inländischen
Erscheinungen der Jahre 1914 — -1920 für diesen Bericht heranzuziehen,
sondern auch die einschlägige Literatur des Auslands nach Möglich-
keit in weitem Umfang zu berücksichtigen. Wenn gelegentlich Schriften
mit belangvollem Inhalt übergangen oder nur flüchtig gestreift sind, so
wird dies entweder daher rühren, daß die Verleger es nicht für der
Mühe wert hielten, Besprechungsexemplare einzusenden, oder daß mir
die Werke aus andern Gründen unzugänglich waren.
Durch die Beschränkung des Berichts auf die Sprachwissenschaft
wurde einerseits die Ausdehnung des behandelten Zeitraums auf sieben
Jahre ermöglicht und konnte anderseits auf den Inhalt mancher Mono-
graphien, die für Studierende und Lehrer von Belang zu sein schienen,
ausführlicher eingegangen werden. In einer Zeit, wo die Anschaffung
von Büchern dem einzelnen nur in sehr beschränktem Maße möglich
ist, dürfte dies manchem willkommen sein.
Heidelberg, Dezember 1922
Johannes Hoops
Inhalt
Seite
I. Geschichte der englischen Sprache als Ganzes 1
1. Gesamtdarstellungen 1
2. Dialekt- und Stammesgrenzen in altenglischer Zeit .... 5
a) Anfänge der englischen Sprache und Dialektbildung .... 5
b) Die altengüsche «/g- Grenze 8
c) Die Dialektabstufung von ae . // 9
d) Die mittelenglischo et/ ^ö- Grenze 11
e) Die Dialektabstufung des- wgerm. a vor l + Kons, im Alt-
englischen 11
f) Vergleich der ea/a- mit der ^ e-Grenze 12
g) Sprachkurveu und Stammesgrenzen 13
h) Der «-Umlaut von wgerm. a vor / + Kons, iui Alteuglischeu 14
3. Einfluß des Angelsächsischen auf das Althochdeutsche . . 15
4. Einfluß des Lateins und des Christentums auf den altenglischen
Wertschatz 20
5. Norwegische Siedlungen in Nürdwest-Engiand 25
6. Der alte Londoner Dialekt 28
7. Der Übergang zur Gemeinsprache 32
8. Die heutige Umgangssprache 35
9. Weltsprach-Dialekte und Welt-Gemeinsprache 36
II. \yortkunde 38
1. Lexikographie • 38
2. Etymologie 40
3. Bedeutungslehre 40
4. Synonymik 42
III. Namenkunde 44
1. Personennamen 44
2. Völkernamen 47
3. Ortsnamen 49
4. Sonstige Namen 50
IV. Schrift und Schreibung 51
1. Ursprung der Kunenschrift 52
2. Anglonormannische Einflüsse auf die englische Schreibung 53
a) Verschiedene vokalische und konsonantische Schreibungen . . 53
b) Schreibmig ou 54
c) Schreibung ie 55
d) Schreibung ea 56
X Inhalt
Seite
V. Grammatische Gesamtdarstellungen 57
1. Historische Grammatik 57
2. Alt- und Mittelenglische Grammatilv 58
3. Neuenglische Grammatik 60
4. Grammatik der heutigen Gemeinsprache 61
5. Grammatik der heutigen Dialekte 65
VI. Lautlehre 66
1. Gesamtdarstellungen und Quellenkunde 66
2. Vokalisraus 69
3. Konsonantismus 78
a) Palatalisierung 78
b) Dissiüiihition, Assimüatiou utid Metathese 79
4. Phonetik und Aussprache des heutigen Englisch .... 83
VII. Formenlehre 85
1. Substantiv 85
a) Gramuiatisches Geschlecht 85
b) Genitiv- und Pluralbildiing 87
2. Pronomen 92
3. Verbum 94
VIII. Wortbildungslehre 98
IX. Syntax 105
1. Gesamtdarstellungen 105
2. Einzclabhandlungen 110
a) Pi'ädikationsklasseu und Satzarten 110
b) Inkongruenz zwischen Subjekt und Prädikat Hl
c) Präi)üsitioneu 114
d) Satzverknüpfung 115
e) Syntax einzelner Literaturworke 117
X. Rhythmik 118
XI. Stilistik 122
Register 125
I. Geschichte der engHschen Sprache als Ganzes
1. Gesamtdarstellungen
Ein großangelegtes Werk über die Geschichte der englischen Sprache
in ihrer Gesamtheit ist noch ein Wunsch der Zukunft. Es müßte die
Hauptzüge ihrer äußern und innern Entwicklung, die Geschichte der
Schriftsprache und der Mundarten und ihr Verhältnis zueinander, die
Schrift und Schreibung, die charakteristischen Veränderungen auf gram-
matischem Gebiet, die Einflüsse fremder Sprachen auf den Bau und den
Wortschatz des Englischen und die Ausdehnung des englischen Sprach-
gebiets zu allseitiger Darstellung bringen. Bei der Auswahl des darzu-
stellenden Stoffs wäre die Bedeutung der Einzelheiten für die Entwick-
lung des Gesamtorganismus der Sprache im Auge zu behalten. Die
historische Gruppierung des Stoffs hätte, wie es auch in der politischen
Geschichte, in der Literatur-, Kultur- und Rechtsgeschichte geschieht,
nicht sowohl nach Längs- als nach Querschnitten zu erfolgen; nicht die
durchlaufende Geschichte der einzelnen Sprachkategorien, wie Lautlehre,
Formenlehre, Syntax usw., müßte das Einteilungsprinzip bilden, sondern
der Sprachzustand und die wichtigsten sprachlichen Veränderungen in
den aufeinander folgenden Perioden wären im Anschluß an die äußere
Sprachgeschichte zu schildern, um stets die Vorstellung der Gesamtheit
des sprachlichen Lebens wach zu erhalten. Bisher hat man mehr in
Längsschnitten gearbeitet, mehr den Ausbau der einzelnen Teile der
historischen Grammatik gepflegt.
Aber wenn auch eine zusammenfassende und erschöpfende Darstel-
lung der Geschichte der englischen Sprache in ihrer Gesamtheit bisher
noch fehlt, so haben wir immerhin eine Anzahl älterer und neuerer Ar-
beiten, in denen die Haupttatsachen der Sprachgeschichte mehr oder
weniger vollständig behandelt werden.
Eine anregende und fördernde, wenn auch ungleichmäßig durch-
geführte Skizze hat Kluge in Pauls Grundriß der germanischen Philo-
logie (1891, 2. Aufl. 1901) gegeben. Vollständiger ist O. F. Emer-
sons History of tlie English Language (1894), deren Mängel der Ver-
fasser in späteren Auflagen sowie in seiner Brief Hisfori/ of the English
Language (1896, wiederholt neu aufgelegt) zu beseitigen bemüht war.
Eine Fülle feiner sprachgeschichtlicher Beobachtungen enthält H. Bradleys
Büchlein The Making of English (1904). Die wichtigste und originellste
"Wissenschaftliclie Forschungsberichte IX. ^
unter den älteren Darstellungen der Entwicklungsgeschichte der engli-
schen Sprache ist wohl Jespersens Groivth and Strudure of tlie Emjllsh
Language (1905, 3. Aufl. 1919). H. C. Wylds Bücher llistorkal Study
of the Mother Tongue (1906) und The Groivth of English (1907), sowie
Krapps Modern English, its Groivth and Present Use (1909) bieten
gute Anleitungen zum historischen Studium des heutigen Englisch. Eine
vortreffliche kurze Einführung in den Gegenstand endlich gibt Lin-
delöf in seinen Grundzügen der Geschichte der englischen Sprache (1912).
Zu diesen verschiedenartigen Werken sind in den letzten Jahren
mehrere bemerkenswerte Arbeiten hinzugetreten. Eine durch Klarheit,
Knappheit und wissenschaftliche Gründlichkeit ausgezeichnete Zusammen-
fassung aller wesentlichen Züge der äußern englischen Sprachgeschichte
hat uns Karl Luick in der Einleitung zu seiner Historischen Gram-
matik der oiglischen Sprache (Leipzig 1914, Chr. Herm. Tauchnitz) ge-
liefert. Über die Geschichte des Englischen von der altenglischen Pe-
riode bis zur Gegenwart, über die zeitliche Gliederung, die Dialekte und
die Schriftsprache, die Schichten des englischen Wortschatzes, über Schrift
und Schreibung wird da eingehend und zuverlässig gehandelt. Manche
in letzter Zeit erörterte Probleme erhalten nach kritischer Prüfung ihre
abschließende Darstellung. Die große Bedeutung des Buchs aber liegt
nicht sowohl in der Darstellung der Entwicklung der Sprache im ganzen
als vielmehr, wie der Titel schon sagt, in der Behandlung der Geschichte
der grammatischen Formen. Wir werden darum später darauf zurück-
zukommen haben.
Ungefähr gleichzeitig mit Luicks historischer Grammatik erschien
ein Buch von H. C. Wyld: Ä Short History of English (London, Murray,
1914), das unter dem Titel Kurse Geschichte des Englischen von Mutsch-
mann ins Deutsche übertragen wurde (Heidelberg 1919, Winter). Es
bietet weit mehr, als der Titel sagt: es ist keineswegs bloß eine kurze
Einführung in die englische Sprachgeschichte, wie etwa der Abriß von
Lindelöf, sondern besteht in der Hauptsache aus einer recht eingehen-
den Darstellung der englischen Laut- und Formengeschichte. Die Ge-
schichte der Sprache im ganzen tritt dem gegenüber in den Hinter-
grund. Abgesehen von einigen kurzen Bemerkungen (in Kap. H) über
die Stellung des Englischen unter den Sprachen und seine mundartliche
und zeitliche Einteilung, wird nur im letzten Kapitel der Ursprung und
das Wachstum der Schriftsprache in großen Zügen behandelt. Von einer
Geschichte des Wortschatzes wurde Abstand genommen, „ da dieser Gegen-
stand von Bradley, Jespersen, Skeat u. a. in großer Ausführlichkeit dar-
gestellt worden ist". Dagegen sind den allgemeinen Prinzipien der Sprach-
geschichte und besonders den Sprachlauten zwei besondere Kapitel ge-
widmet. Im Vordergrund aber steht die Lautgeschichte, vor allem die
der neuenglischen Zeit. Der Verfasser hat die neueste Forschung, auch
die deutsche, in ausgiebigem Maß zu Rate gezogen, aber auch vieles aus
eignen Untersuchungen hinzugefügt. Insbesondere das Kapitel über
Formengeschichte bringt in der Darstellung des Artikels, der Pronomina
und der Konjugation viel Eignes. W^enn auch keine allseitige und er-
schöpfende Geschichte der englischen Sprache, ist Wylds Buch doch als
Darstellung der historischen Grammatik von mittlerem Umfang nament-
lich Studierenden und Lehrern bestens zu empfehlen.
Bedeutender jedoch ist das neueste Buch Wylds: Ä History of
Modern CoUoqiciul EnglisJi (London, Fisher Unwin, 1920). Schon der
Titel ist bemerkenswert. Wyld will keine Geschichte der eigentlichen
Schrift- oder Literatursprache, sondern der Umgangssprache geben. Er
weist in der Einleitung darauf hin, daß die übliche Scheidung des heu-
tigen Englisch in mustergültiges oder gebildetes Englisch {Standard English
bzw. Educated English) und Provinzialenglisch oder Dialekte (Regional
IHaleds) unzulänglich sei, da sie das Vorhandensein verschiedener
Klassendialekte [Class Dialeds) ignoriere. Man müsse bei dem Eng-
lisch der Gebildeten vielmehr weiterhin unterscheiden : eine allgemein
anerkannte Mustersprache (Received Standard English), wie sie nament-
lich durch den Einfluß der großen Internatschulen im ganzen Lande
verbreitet werde, so daß man sie auch als Public School English be-
zeichnen könne, und die zahlreichen modifizierten Formen der Gebildeten-
sprache (Modified Standard English), die sich teils unter dem Einfluß
der Provinzialdialekte, teils durch sozialdialektische Einflüsse heraus-
gestaltet haben. Die Geschichte der gebildeten Umgangssprache in ihren
verschiedenen Formen von der mittelenglischen Zeit bis zum Ende
des 18. Jahrhunderts darzustellen, ist die Aufgabe von Wylds Buch.
Er hat sich ihr mit großer Sachkenntnis und staunenswerter Be-
lesenheit unterzogen. Auf 400 großen, eng bedruckten Seiten bietet er
uns eine Unmenge wertvollen Stoffs, den er zum großen Teil selber aus
den Quellen zusammengetragen hat. Die Anordnung ist eine doppelte.
Nach eingehender Schilderung der für die Entstehung der heutigen Ge-
meinsprache vorzugsweise in Betracht kommenden mittelenglischen Dia-
lekttypen und ihres Fortlebens in neuerer Zeit beschreibt Wyld zunächst
in drei Querschnitten den Zustand der enghschen Sprache im 15., im
16. und im 17. und 18. Jahrhundert, wobei er die sprachlichen Eigen-
tümlichkeiten der Hauptvertreter der Literatur dieser Perioden genauer
erörtert. Dann folgt eine Anordnung nach Längsschnitten. Die Wand-
lungen der Vokale in betonten und in unbetonten Silben, die Verän-
derungen der Konsonanten und des Flexionssystems werden nacheinander
vom Mittelenglischen ins 18. Jahrhundert verfolgt. Bei der Darstellung
der Lautlehre legt Wyld — im Anschluß an Za ehr issons Methode in
seiner History of English Vowels 1400—1700 (Göteborg 191 3) — besondern
Wert auf Beobachtung der occasional spellings, der Abweichungen von der
traditionellen Orthographie, aus denen sich mancher Lautwandel früher
nachweisen läßt als aus den Angaben der Grammatiker, die mehr an dem
traditionellen Schriftbild kleben. Ein interessantes Kapitel über die
wechselnden Moden des „ Colloquial Idiom " macht den Beschluß. Eine
Darstellung der Geschichte der Syntax und des Wortschatzes fehlt auch
hier. Aber Wyld bemerkt in der Vorrede nicht mit Unrecht, es müsse
dem Verfasser überlassen bleiben, welche Seiten seines Gegenstands er
behandeln wolle. Und jedenfalls hat er uns in diesem und in früheren
1*
3
Werken so viel des Neuen und Wertvollen geboten, daß wir kein Recht
haben mehr zu verlangen. An Einzelheiten wird mancher etwas aus-
zusetzen linden; das Ganze ist eine sehr respektable Leistung.
Eine knappe, aber originelle und anregende Darstellung der Ge-
schichte der englischen Sprache, nach Längsschnitten geordnet, liefert
E. C lassen in seinen Oiitlines of thc History of the English Lamjuage
(London, Macmillan, 1919). Er betont den engen Zusammenhang der
Sprachentwicklung mit der Kulturentwicklung im allgemeinen; er nennt
die Sprache „ the rairror of civilisation " oder „ the autobiography of the
human race" (S. l). „Language is, therefore, in a pecuhar and inti-
mate sense a history not only of material progress, but also of the mental,
moral and emotional development of the people which speaks it" (S. 6).
Ihre Geschichte sollte deshalb auch im Zusammenhang mit der Kultur-
geschichte studiert werden. Die sprachUche Einheit für den Ausdruck
des Gedankens ist der Satz. Classen beginnt deshalb seine Darstellung
der Sprachgeschichte, nach einem kurzen Abschnitt über die Anfänge
der englischen Sprache, in etwas ungewöhnlicher Weise mit einer Ge-
schichte der Syntax. Daran reihen sich Kapitel über die Geschichte
des Wortschatzes, Bedeutungswandels, der Wortbildung, der Flexion,
der Laute, über die Entwicklung des „ Standard English, Correct EngUsh "
und endlich ein kurzes Schlußkapitel über die Geschichte der englischen
Schrift. Eine zusammenhängende Darstellung der äußern Sprachgeschichte
fehlt. Das Hauptgewicht wird auf die kulturelle Seite des Problems
gelegt; der Verfasser bemüht sich, die sprachlichen Erscheinungen psy-
chologisch zu erklären, statt nur Formulierungen mechanischer Sprach-
gesetze zu geben. Es sind also Ideen, wie sie auch von deutschen
Sprachfor.schern seit einiger Zeit nachdrücklich vertreten werden.
An Introdudion to the History of the English Language von
P. G. Thomas (London, Sidgwick & Jackson, 1920) ist mehr eine
Einführung in die allgemeine als in die englische Sprachwissenschaft.
Es handelt zunächst über die Sprachwissenschaft im allgemeinen, wobei
der Verdienste der älteren Sprachforscher aus der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts, eines Franz ßopp, A. W. von Schlegel, Jakob Grimm,
Pott und Schleicher mit einigen Worten gedacht wird. Dann folgen Ab-
schnitte über Klassifikation der Sprachen, Elemente der Phonetik, Ur-
sachen und Wirkungen des Lautwandels, über die germanische Laut-
verschiebung, über Ablaut, Bedeutung und Analogie, Sprachentwicklung
und endlich über das Verhältnis von Laut und Schrift. Der Verfasser
knüpft in seiner gedrängten Darstellung vorzugsweise an die Verhält-
nisse der englischen Sprache an, aber sie dienen ihm zur Erläuterung
der allgemeinen Prinzipien der Sprachgeschichte, deren Studium, wie er
in der Vorrede mit Recht bemerkt, oft ungebührlich vernachlässigt wird.
Wir wenden uns nunmehr einer Anzahl von Monographien über
einzelne Eutwicklungsphasen der englischen Sprachgeschichte zu, die
wegen ihres allgemeinen Interesses vielleicht eine ausführlichere Behand-
lung verdienen.
2. Dialekt- und Stammesgrenzen in altenglischer Zeit
a) Anfänge der englischen Sprache und Dialektbildung
In der Benennung der germanischen Eroberer Britanniens schwanken
die zeitgenössischen Quellen zwischen den Namen ' Sachsen , 'Angeln
und 'Angelsachsen'. Die frühzeitige Entscheidung dieses Wettstreits
zugunsten der Angeln, die schon in altenglischer Zeit sowohl der Sprache
(englisc) als auch dem Lande (Angelcyn, später Englaland) den Namen
gaben, stellt ein Problem dar, dessen Beurteilung für die Auffassung der
Entstehung der enghschen Nation von Belang ist. Chadwick in seinem
eigenkräftigen, anregenden Buch TJie Origin of the English Nation (1907)
nahm an, die Sachsen seien in ihren Ursitzen auf dem Festland von
den ihnen benachbarten, aber ursprünglich nicht näher verwandten Angeln
unterworfen worden und mit ihnen zu einem Volk verschmolzen. In
dem so entstandenen Mischvolk aber hätten die Sachsen allmählich wieder
die Oberhand gewonnen, während die Angeln sich zu einer Militär-
aristokratie verflüchtigten. Angeln und Sachsen seien als einheitliches
Volk nach Britannien gelangt, wo sie von den Briten als Sachsen be-
zeichnet wurden, während sie selbst frühzeitig Sprache und Volk nach
den Angeln benannten. Bei der Bevölkerung der „anglischen" und
„sächsischen" Reiche in Britannien könne demnach von einer Stammes-
verschiedenheit nicht mehr die Rede sein. Die germanischen Eroberer
der Insel seien nicht in drei, sondern nur in zwei deutlich getrennte
Nationalitäten zerfallen: die Juten und die „Angelsachsen", die sich
durch ihr Wergeidsystem unterschieden.
Ich habe diese stark konstruktive Theorie Chadwicks, die sich zu
Bedas Bericht (Hist. Eccl. 1, 15) in Widerspruch setzt, in dem Artikel
'Angelsachsen'' meines Reallexihons der germanischen Alterhimslcunde
(1911) zu widerlegen gesucht und die geschichtlichen und sprachlichen Tat-
sachen zusammengestellt, die Bedas Angabe, daß die Angeln und Sachsen
als getrennte Stämme Britannien besiedelt haben, stützen. L u i c k in seiner
Historischen Grammatik (§ 6 u. 9, Anm.) hat sich mir angeschlossen.
Jordans Untersuchungen (Eigentiimlichkeiten des anglischen Wortschatzes,
Anghst. Forsch. 17; 1906) — um hier nur einen Punkt hervorzuheben —
haben gezeigt, daß die altenglischen Mundarten, die wir auf Grund sprach-
licher und hterarischer Kriterien als anglische ansetzen, untereinander in
ihrem Wortschatz auffallende Übereinstimmungen aufweisen, an denen
die sächsischen Mundarten nicht teilhaben , die aber in den nordischen
Sprachen Parallelen finden, während umgekehrt die südenglischen Dia-
lekte, die wir als sächsische bezeichnen, sich näher zum Friesischen und
Altsächsischen stellen. Zu diesen angestammten Verschiedenheiten im
Wortschatz der Angeln und Sachsen kamen sicher auch gewisse Ab-
weichungen in der Aussprache.
Aber diese Unterschiede können nur vinerheblich gewesen sein. Die
germanischen Stämme, die sich in Britannien niederließen, weichen in
Typus, Sprache und Kultur zu Anfang verhältnismäßig so wenig von-
einander ab, daß sie dem Ausland als ein Volk erschienen und von
den Kelten mit einem Namen ('Sachsen') benannt wurden, und daß
sie selbst sich dem Ausland gegenüber als ein Volk fühlten und das
Bedürtuis nach einer gemeinsamen Benennung empfanden. Auch als im
Laut der Zeit sich dialektische Unterschiede stärker ausprägten , blieb
das Getülil der Zusammengehörigkeit bestehn; die politischen Einiguugs-
versuche sowie der Gegensatz zu den Briten und später zu den Dänen
trugen zu seiner steten Belebung bei.
Wenn als Sieger aus dem Kampf um den Gesamtnamen der beiden
Hauptstämme schließlich bei den Festlandsvülkern und den Inselgermanen
nicht (wie bei den Kelten) die Sachsen, sondern die Angeln hervorgingen,
so war der Grund dafür wohl ein doppelter: einerseits das Bedürfnis,
die Inselsachsen von den Altsachsen des Festlands zu unterscheiden, die
ein allbekannter, mächtiger Stamm waren ; anderseits die Tatsache, daß
die Angeln nach ihrer Niederlassung in Britannien auf dem Festland
keine Rolle mehr spielten, während sie auf der Insel nicht nar an Aus-
dehnung der Hauptstamm waren, sondern im 7. und 8. Jahrhundert
auch pohtisch das Übergewicht hatten und zuerst eine Nationalliteratur
entwickelten. Ais dann im 9. Jahrhundert die Hegemonie auf pohti-
schem und literarischem Gebiet an die Sachsen überging, war die Namen -
frage bereits entschieden.
Angeln, Sachsen und Juten sind also getrennt voneinander in Bri-
tannien eingewandert und haben getrennte Gebiete in Beschlag genommen.
Dadurch war ein gewisser dialektischer Gegensatz zwischen Angeln,
Sachsen und Juten auch auf britannischem Boden von vornherein ge-
geben. Aber die dialektischen Unterschiede waren zu Anfang, wie ge-
sagt, gering. Und da die Besiedlung nach allem, was wir wissen, nicht
durch die Stämme in ihrer Gesamtheit, sondern in kleineren Scharen
und Verbänden während eines Zeitraums von mindestens anderthalb Jahr-
Imnderten erfolgte, so wurde die örthche Gruppierung der Einwanderer
zueinander innerhalb der Stämme in Britannien sicher nicht ^^^enau die
gleiche wie in der Heimat. Dadurch aber war eine neue Epoche in der
sprachlichen und pohtischen Entwicklung gegeben, die ihren Ausgangs-
punkt von der geographischen Nachbarschaft auf britannischem Boden
nahm. Etwa vorhandene dialektische Abweichungen innerhalb der ein-
zelnen Stämme mußten sich ausgleichen. Überkommene sprachliche
Stammeseigentümlichkeiten werden auf benachbarte Gebiete des andern
Stammes übergegriffen haben. Anderseits mußten sich sprachliche Neue-
ruijgen einstellen, deren Verbreitungskurven bei dem Mangel an völker-
scheidenden natürlichen Hindernissen die alten Stammesgrenzen vielfach
überwucherten. An die Stelle der alten Stammesdialekte traten neue,
geographische Dialektgruppen. Bei deren Ausbildung spielte
natürlich die spracheinigende Macht der Staatenbildungen eine wichtige
Kolle; aber die angestammten Unterschiede zwischen 'Sächsisch' und
'Angüsch' werden in der altenglischen Grammatik meist zu stark be-
tont; in Wirklichkeit sind sie wohl bald durch die insularen Neubildungen
und Verschiebungen in den Hintergrund gedrängt worden. Auf politi-
ö
schem Gebiet blieb der Stammesunterschied zwar noch lange deutlich
ausgeprägt, aber auch hier machte sich die Einwirkung der geographi-
schen Lage geltend.
Zu meinen Ausführungen im Beallexilcon bemerkte A. Brandl in
einer Besprechung des Werks (Archiv f. n. Spr. 127, 465; 1911), er könne
sich „eine solche Überwucherung eines Dialekts durch Bodenverhältnisse,
namentlich in jener Zeit geringen Verkehrs und Verwaltungseinflusses,
nicht recht vorstellen". AberLuick in seiner Historischen Grammatilc
(1914) stellt sich durchaus auf den von mir vertretenen Standpunkt, und
seine Darlegungen treffen zweifellos das Richtige.
„Die alteo Stammesunterscliiede ", sagt er (§ 9), „waren wohl an sich nicht
groß und mußten sich in einem Lande verwischen, in dem der Verkehr zwischen den
Eroberern infolge ihrer Interessengemeinschaft gegenüber den Unterworfenen ein viel
lebhafterer war als auf dem Festland, auch die Verkehrshindernisse größerer Gebirge
fehlten und die insulare Lage an sich schon einen gewissen Zusammenschluß begün-
stigte. Die sprachlichen Verschiedenheiten, welche uns in der literarischen Zeit ent-
gegentreten, hatten sich zum größten Teil erst in Britannien entwickelt: diejenigen,
welche schon zur Zeit der Besiedlung vorhanden waren, konnten kaum als bedeutend
empfunden werden. So entstand aus den einzelnen Stämmen das englisclie Volk, das
zwar noch die alten Stammesnamen weiter gebrauchte, aber wesentlich nur mehr als
geographische Bezeichnungen." Und weiter {§ 19, S. 29): ,,Daß die alten Stammes-
grenzen auch Dialektgrenzen waren, ist nicht zu erweisen, ja gewisse Erwägungen
machen es sogar unwahrscheinlich. Somit sind die üblichen Dialektbezeichnungen hloß
geographische Hinweise, und man muß sich vor dem Irrtum hüten, bei ihnen an ge-
schlossene Dialektgebiete zu denken. Die Sprache der Angeln und der Sachsen war
wohl schon auf dem Festland etwas differenziert, jedenfalls auf dem Gebiet des Wort-
schatzes und wohl auch in einigen wenigen lautlichen Zügen. Aher die Hauptmasse
der Unterschiede, die uns in den überlieferten Texten entgegentreten, ist erst in Bri-
tannien erwachsen. Sprachliche Veränderungen pflegen sich nun nach Maßgabe der
Verkehrsverhältnisse auszubreiten. Diese mögen in der ersten Zeit nach der Besied-
lung von der Stammeszugehörigkeit stark beeinflußt gewesen sein; in dem Maß aber,
als sich die Verschmelzung der Stämme zu einem Volk vollzog , werden die natür-
lichen geographischen und die darauf berahenden wirtschaftlichen Verhältnisse für
sie ausschlaggebend gewesen sein, zumal das Land keine großen Verkehrshindernisse
zwischen den Stammessiedlungen bot. Daraus erklärt sich, daß Dialekte, die einander
geographisch näher stehen, auch eine stärkere Verwandtschaft aufweisen. Und so
werden die sprachlichen Veränderangen auch vielfach die alten Stammesgrenzen über-
wuchert haben." (Vgl. auch § 36, Anm.)
Brandl hat die hier angeregte Frage der Mundartenbildung in-
zwischen in einer Akademieschrift Zur Geograpliie der altenglisclien
Dialekte (Abhandl. d. Preuß. Akad. 1915, Phil.-hist. Kl. 4) ausführlicher
erörtert. Er geht darin von dem alten Standpunkt der Stammesdialekte
aus. In einem ersten Abschnitt gibt er eine verdienstliche, aber in manchen
Punkten angreifbare Zusammenstellung der Siedlungsberichte, Na-
mentlich die Skizzierung der mercischen Verhältnisse scheint mir unter
dem Einfluß der späteren Erweiterung des Begriffes ' Mercisch' verzeichnet.
Die Annahme häufiger „ Umkolonisierungen ", d. h. Ausrottung der Unter-
worfenen, in heidnischer Zeit führt Brandl gelegentlich zu gewagten
Hypothesen, so, wenn er (S. 14) den mercischen Dialekt, in dem der
Priester Farman zu Harewood bei Leeds in der zweiten Hälfte des
10. Jahrhunderts das Matthäusevangelium in der Rushworth-Handschrift
glossierte, durch die Vermutung erklären möchte, daß der heidnische
Mercierkönig Penda nach seinem Sieg über die Nordhumbrier bei Haethteld
(= Hatfield am Ostrand des West Riding von Yorkshire) in jener Gegend
Mercier angesiedelt habe.
Im zweiten Abschnitt seiner Schrift gibt Brandl belangreiche Dar-
legungen über die Entstehung der angelsächsischen Bistümer.
Sein Grundgedanke ist dabei, daß die angelsächsische Kirchengeographie
die Volksgeographie widerspiegele, daß die kirchliche Regierung an die
weltlichen König- und Häuptlingschaften gebunden war.
Alle diese Stammes- und kirchengeschichtlichen Ausführungen sind
ihm aber nur Mittel zum Zweck der Umgrenzung der Dialekte. „Es
ist denknotwendig'', sagt er (S. 29), „daß der Dialekt ursprünglich am
Stamme hängt; es ist in jener primitiven Zeit, wo jeder Stamm nach
außen abgeschlossen und im Innern eng gefügt war, wohl auch lange so
geblieben '' — womit er sich in direkten Gegensatz zu der oben zitierten
Auffassung Luicks stellt.
Der ergiebigste Teil von Brandls Abhandlung ist der dritte. Hier
unternimmt er es, drei wichtige dialektische Lautkriterien: die Ent-
wicklung von westgerm, ä (ws. fe, angl. e), von ae. y und ae . ä,
durch mittelenglische Ortsnamen der verschiedenen Grafschaften zu ver-
folgen, um dadurch zu dialektischen Abgrenzungen zu gelangen.
b) Die altenglische ^/e-Grenze
Pogatscher hatte in seinem Aufsatz über Die englische ^ [ e- Grenze
(Angl. 23, 302; 1900) den Versuch gemacht, die mit strcet zusammen-
gesetzten Ortsnamen, wie Stratford, Stratton u. a., welche häufig Punkte
an Römerstraßen bezeichnen, für eine Festlegung der Verbreitungsgrenze
von ae.Ä; und e zu benutzen, da das im Mittel- und Neuenglischen als
a oder c erscheinende Ergebnis der Kürzung des langen Vokals vor
mehrfacher Konsonanz (Stratford: Strefford, Stratton: Strettoyi) einen
sichern Rückschluß auf die vormalige 7c- oder e-Qualität erlaubt. Er
war dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß das re- Gebiet stark ins
Älittelland übergreift. Die Grenzlinie verläuft nach Pogatscher von
Thetford am Südrand von Norfolk zunächst südwärts nach Bury St. Ed-
munds in Suffolk, von da an in ihrer Hauptrichtung ziemlich gerade
westwärts über Cambridge — St. Neots in der Südecke von Hunting-
donshire — Northampton — Warwick durch Worcester nach dem Severn,
aber mit zwei starken südlichen Vorsprüngen des e- Gebiets: zwischen
Bury St. Edmunds und Cambridge bis tief nach Essex und Hertfordshire
hinein und zwischen Northampton und Warwick bis ins nördliche Ox-
fordshire und nordöstliche Gloucestershire.
Ritter hat später (Angl. 37, 269; 1913) einige methodische Be-
denken gegen Pogatschers Aufstellungen geltend gemacht, die sich vor
allem gegen die Benutzung neuenglischer Ortsnamen als Ausgangspunkt
der IJntersucbung richten.
Mit Recht hat deshalb Brandl durchweg auf mittelenglische Namens-
formen zurückgegriffen, wobei er sorgfältig alle denkbaren Sondereinflüsse
8
und analogischen Ausgleichungen berücksichtigt. Sein Ergebnis ist im
wesentlichen eine Bestätigung von Pogatschers Beweisfüh-
rung, nur daß er die beiden südlichen Ausbuchtungen desselben be-
seitigt. Die Grenzlinie des a- und e-Gebiets folgt nach Brandl
(S. 42) „zunächst der Westgrenze von Norfolk und Cambridgeshire " ^),
dann dem Nordrand der südmittelländischen Grafschaften Hertford, Bed-
ford, Buckingham und Oxford und verläuft weiter durch Warwickshire
an dem Nordrand der alten Diözese Worcester entlang bis an den Severn.
Pogatscher spricht in seiner Abhandlung vorsichtigerweise nur von einer
rt^/e- Grenze; für Brandl fällt sie zusammen mit der Stammesgrenze
zwischen Angeln und Sachsen. „Die erdrückende Mehrzahl der me.
Belege zeugt für Strat- bei den Sachsen und Ostangeln, für Stret- bei
den übrigen Angeln'', sagt er (S. 41). Shakespeares Heimatstadt fallt
nach ihm noch eben in das Sachsengebiet (S. 42).
Es ist allerdings wahrscheinlich, daß wir in der Scheidung von ce-e
für wgerm. ä einen alten Dialektunterschied zwischen Sachsen und Angeln
zu erblicken haben. Aber das <e- Gebiet hat sich in historischer Zeit
offenbar erweitert. Schon das Übergreifen des 7e in die ostanglischen
Länder zeigt, daß die aus den mittelenglischen Ortsnamen erschlossene
Sprachkurve sich zur Zeit der Verkürzung des langen Vokals vor schwerer
Konsonanz (um 1000) nicht mehr mit der alten Stammesgrenze deckte;
und es ist höchst zweifelhaft, ob die beiden in ihrem weiteren Verlauf
zusammenfielen, wie Brandl annimmt.
c) Die Dialektabstufung von ae.fy
Die früheren Anschauungen über die dialektische Weiter-
entwicklung von ae. ?/ waren durch Wyld in zwei wichtigen Auf-
sätzen (Engl. Stud. 47, 1 u. 145; 1913) berichtigt worden. Er verfolgte
die Wiedergabe einer Anzahl von Probewörtern mit ae. y in mittel-
englischen Ortsnamen und kam dabei zu dem Ergebnis, daß die drei
mittelengl. Entsprechungen u, i, e für ae. y sich dialektisch anders grup-
pieren, als man bisher angenommen hatte. Das alte y hat sich als
gerundetes \ü\ aber in der französischen Schreibung u, erhalten im west-
lichen Mittellande (Chesh., Shropsh., Heref., Staff., Worc, Warw.) und
in einer Gruppe des zentralen Mittellands (Northampt. , Bück., Bedf.,
Hertf.). In den an diese reinen z<- Gebiete angrenzenden Grafschaften
Lanc, Derb., Leic, Oxf herrscht vorwiegend u neben seltnerem r, in
Sussex und Essex steht u neben e. In Yorkshire sowie in den ost-
mittelländischen Grafschaften Line. , Nott. , Rutl. , Hunt. , Cambr. und
Norf. ist ?/ zu i entrundet worden; ein zweites i- Gebiet findet sich im
Südwesten des Landes: Devon, Dorset, Somerset und weniger aus-
gesprochen in den angrenzenden Gebieten. Kent ist in mittelengl. Zeit
der Mittelpunkt eines e - Gebiets, das sich westwärts nach Sussex, nord-
wärts nach Essex, Suffolk und vielleicht darüber hinaus erstreckt.
1) So ; eine unverständliche Angabe , da Norfolk ce-, Cambr. aber e-Gebiet ist.
Es soll wohl heißen : „ der Grenze von Norf. und Cambr."
So förderlich Wylds Untersuchung war, lassen sich methodisch
doch verschiedene Einwendungen gegen sie erheben. Die von ihm be-
nutzten Probewörter sind nicht alle ganz einwandfrei; insbesondere aber
war es ein Fehler, daß er die Entwicklung von betontem und un-
betontem y unterschiedslos durcheinander mischte. Schon eine ober-
flächliche Prüfung seines Materials zeigt, daß sich e, u, i (?/) in un-
betonten Silben vielfach in Gegenden finden, wo sie in hochtonigen
Silben ungewöhnlich sind.
Es war ein verdienstliches Unternehmen Brandls, in seiner Arbeit
Zur Gcogr. d. altemß. Dialekte die Frage auf erweiterter Grundlage
nochmals einer ebenso mühevollen wie umsichtigen und gründlichen
Untersuchung zu unterziehen. Dabei haben sich manche Berichtigungen
von Wylds Resultaten ergeben.
1. Brandl stimmt mit Wyld darin überein, daß das w- Gebiet
seinen Schwerpunkt im westlichen Mittelland, vor allem im
Grenzland von Wales hat: in Chesh., Shropsh., Heref , nächstdem in
Lanc, Staff. , Warw., Worc. und Glouc. Aber die zentrale w- Gruppe
Wylds kommt nach Brandl ganz in Wegfall. Die hierher gestellten
Grafschaften Northampt., Bedf, Bück,, Hertf., sowie auch Leic, Hunt.,
Middlesex und Surrey zeigen u in starker Mischung mit i oder e. Auch
Wylds i- Gebiet im Südwesten verflüchtigt sich bei näherer Prüfung;
der ganze Südwesten (Hants. , Berks. , Wilts., Dorset, Somerset,
Devon, Cornwall) ist nach Brandl vielmehr zum ?*- Gebiet zu schlagen.
Doch zeigt das von ihm gesammelte Material immerhin einen beachtens-
werten i- Einschlag.
2. Der Kern des i-Gebiets ist offenbar in den nordhum-
brischen Grafschaften (Yorks., Durh., Northumb., Westm., Cumb.)
zu suchen: aber auch das Nordostmittelland (Nott, Line, Rutl.)
hat weit überwiegend i. Hunt, und Norfolk zeigen i in Mischung
mit e.
3. Hinsichtlich der Verbreitung des Übergangs y zu. e bestätigt
Brandl im wesentlichen Wylds Ergebnisse. Die Hochburg des e-
Gebiets ist zweifellos Kent, wo der Übergang bald nach 900 erfolgte,
und wo im Mittelengl. e einheitlich herrscht. Aber von Kent aus hat
sich der Lautwandel über den ganzen Südosten verbreitet:
nach Sussex, wo es sich mit ii in die Herrschaft teilt, nach Surrey,
I\Iiddlesex, Hertfordshire, Essex und Suffolk, wo neben vorherrschendem
e ein «-Einschlag auftritt, und weiter nordwärts nach Norfolk, Cambr.
und Hunt. , wo e gegenüber vorherrschendem i wenigstens eine starke
]\Iinderheit darstellt. Selbst bis nach dem südlichen Yorks, reichen die
Ausläufer des e.
4. Von den Kerngebieten des ii, i, e laufen Strahlen aus, die sich
in der Mitte des Landes kreuzen, wo infolgedessen bunteste
Mischung herrscht. Aber auch sonst lassen sich alle drei Vokale in
fast allen Grafschaften, die nicht gerade Kerngebiete sind, mehr oder
weniger häufig belegen.
30
Die Ortsnamenschreibung deckt sich mit den Reimen bei Dichtern
aus demselben Dialektgebiet, soweit sich dieses zuverlässig festlegen läßt.
In der heutigen Aussprache der Ortsnamen hat in der Regel i gesiegt;
es hat das u des Westens vöUig verdrängt; nur das südöstliche e hat
sich vielfach erhalten.
d) Die mittelenglische ä/ö-Grenze
Im Anschluß an diese Untersuchungen über die dialektische Ent-
wicklung von westgerm. ä und ae. ij geht Brandl noch kurz auf ein
drittes, wichtiges Dialektkriterium ein: die Verdumpfung von ae.ä
zu ö, die bekanntlich seit etwa 1100 im Mittelland und Süden eintrat.
Auf' Grund der Ortsnamen kommt er zu dem Ergebnis, daß ganz Lan-
cashire und möglicherweise die Südosteeke des West Riding von York-
shire zum ö - Gebiet gehören, während Ekwall (GRM. 5, 597 ff. ; 1913),
gleichfalls durch eine Ortsnamenprüfung , zu dem Schluß geführt war,
daß die ä/ö-Grenze in mittelengl. Zeit dem Flusse Ribble folgte, der
im Domesday-Buch Cheshire und Yorkshire scheidet. Nach Brandl
würden «t- Grenze und ö- Grenze zusammenfallen, nach Ekwall nicht.
Allerdings gibt auch Ekwall an, daß die ö- Grenze sich später nördlich
verschoben habe. Die Frage bedarf wohl noch einer erneuten Über-
prüfung.
e) Die Dialektabstufung des wgerm. a vor l + Kons,
im Altenglischen
Auf Brandls Pfaden wandelt Ekwall in seinen wertvollen Con-
trihutions to the History of Old Englisli Dialects (Lunds Universitets
Ärsskrift N. F. I, 12, 6; Lund, Gleerup, 1917). In der ersten dieser
zwei Abhandlungen untersucht er die dialektische Verbreitung
der Brechung von wgerm. a vor l + Kons, im Altenglischen.
Nach der herrschenden Ansic-ht wurde a vor l -\- Kons, im Sächsischen
und Kentischen zu ea gebrochen, während es im Anglischen ungebrochen
blieb oder nach vorübergehender Aufhellung zu ce wieder zu a ver-
dunkelt wurde. Es war aber bisher noch nicht genauer untersucht
worden, wie weit der Geltungsbereich der Brechung von a vor l und
Kons, reicht. Und kürzlich haben Dölle (Zur Sprache Londons vor
Cliaticer, 1913, S. 83) und Schlemilch {Beiträge 0ur Sprache und
Orthographie spätaltengl. Sprachdenhnäler , 1914, S. 27) im Anschluß
an Äußerungen ihres Lehrers Morsbach die Ansicht ausgesprochen,
daß die Brechung des a vor l -{- Kons, überhaupt nur in den südöst-
lichen Mundarten von Kent bis Hampshire eingetreten sei.
Ekwall hat darum diese Frage auf Grund der alt- und mittel-
englischen Ortsnamen einer gründHchen Prüfung unterzogen unter mög-
lichster Vermeidung aller Fehlerquellen. Er geht dabei von der Er-
wägung aus, daß ea in zwei Fällen Spuren im Mittelenglischen hinter-
lassen mußte: 1. wenn c der g davor stehe, die durch den Einfluß des
ea palatalisiert wurden und im Mittelenglischen als ch bezw. y erscheinen,
11
während vor dem angl. « keine Palatalisierung eintreten konnte; 2. in
der Gruppe -eald, wo ea gelängt und im Mittelengl. zu e wurde, während
die angl. Gruppe -ald zu -idd, me. -uld gedehnt wurde. Die Probe-
wörter, auf die er sich stützt, sind in der Hauptsache die folgenden:
1. ae. öealc, calc 'Kreide', ceald, cald 'kalt', cealf, calf 'Kalb'; gealga,
gdlga 'Galgen'; 2. eald, ald 'alt', weald, wald 'Wald'.
Eine Untersuchung der Ortsnamen , die diese Elemente enthalten,
führt Ekwall zu folgenden Ergebnissen. Das e«- Gebiet umfaßt
einmal sämthche Grafschaften südlich der Themse, ferner nördhch der
Themse die Grafschaften Essex, Middlesex, den südlichen Teil von
►Suffolk, Hertf, Bedf., den größten Teil von Hunt, Bück., Oxf. sowie
Glouc. und Worc, obwohl die beiden letzten fast durchweg a- und nur
ein paar ca-Formen aufweisen. Zum a- Gebiet gehören der nördl,
Teil von Suffolk, Norfolk, Cambr., North., Warw., StafF., Shropsh., Heref.
und die Grafschaften nördlich davon.
Auf Grund eines Vergleichs dieser Ergebnisse mit Brandls histori-
schen Aufstellungen glaubt Ekwall (S. 38) konstatieren zu können, daß
das m-Gebiet sich auffallend genau mit dem von Brandl erschlossenen
sächsisch-kentischen Stammesgebiet decke. Er schließt daraus, daß die
Brechung von a vor l -\- Kons, eine allgemeine Eigentüm-
lichkeit der sächsischen und kentischen Dialekte sei, und
daß sie nur in diesen Mundarten erfolgte.
f) Vergleich der eaja- mit der ^/e-Grenze
Daß die Brechung von a vor l -\- Kons, ursprünglich nur den
Sachsen und Juten eigentümlich war, wird wohl richtig sein; aber die
von Ekwall auf Grund der mittelengl. Ortsnamen erschlossene ea/ «-Linie
deckt sich weder genau mit der von Brandl vermuteten Grenze zwischen
sächsischen und anglischen Bistümern, noch mit dem von Brandl fest-
gestellten Verlauf der ^/e- Linie. Warwick, nach Brandl «-Gebiet,
zeigt keine ea - Formen ; Gloucester und Worcester haben fast ausschließ-
lich a- und nur ein paar vereinzelte ea- Formen, was Ekwall durch
frühzeitiges Eindringen der a - Formen zu erklären sucht. Huntingdon
springt als ea- Gebiet weit nordwärts in das umschließende a- Gebiet
von Northampton und Cambridge vor, was Ekwall durch die Annahme
erklärt, daß Huntingdon eine sächsische Kolonie sei. Und während in
Ostanghen nur der südl. Teil von Suffolk zum ea- Gebiet gehört, um-
schließt das et' -Gebiet nach Brandls Ergebnissen ganz Ostanglien.
Diese Tatsachen zeigen: 1. daß die ce-\e- und die ea-/a-Linie
sich nicht decken; 2. daß beide doch recht erhebhche Abweichungen
von der auf Grund der späteren Diözesaneinteilung erschlossenen alten
Stamraesgrenze zwischen Sachsen und Angeln aufweisen.
Es ist allerdings wahrscheinlich, daß die Lautabstufungen cc\e
und eala vor l -}- Kons, alte sächsisch-anglische Dialekt-
unterschiede darstellen. Aber wenn sich auch somit die ceje- und
ca/a-Linie ursprünglich (im 6. Jahrh.) miteinander und mit
12
der Stammesgrenze deckten, so zeigt doch der Verlauf der auf
Grund der mittelenglischen Ortsnamen erschlossenen ceje- und ea/a-Linien,
daß die beiden Lautkurven sich im Lauf der altenglischen
Zeit offenbar verschoben haben, aber nicht in gleichlaufender
Richtung. Die Lautabstufung des a.e.y aber läßt sich zur Feststellung
der alten sächsisch-anglischen Grenzlinie überhaupt nicht verwerten.
g) Sprachkurven und Stammesgrenzen
Brandl ist im Verlauf seiner Untersuchungen von einer Über-
schätzung der alten Stammesgrenzen abgekommen. Er muß (S. 74)
zugeben: wer da hoffe, die mittelengl. Dialektabstufung des y würde
ein Fortleben der alten Stammesgrenzen darstellen , werde im wesent-
lichen enttäuscht; und er warnt schheßlich (S. 77) vor der Neigung,
„die Spuren so fernabliegender Dinge, wie es die ursprüngliche Grup-
pierung des Volks nach Stämmen ist, einseitig in der Dialektgeographie
später Jahrhunderte wiederfinden zu wollen". Das ist vollkommen
richtig. Wir wissen über die Abgrenzung der altenglischen Mundarten
ja noch wenig Sicheres. Man kann zweifeln, ob es in altenglischer Zeit
überhaupt in sich einheitliche, durch mehrere gemeinsame Sprach-
erscheinungen ausgezeichnete Dialekte gab. Jedenfalls haben aber die
alten, vom Festland mit herüber gebrachten Stammesunterschiede zwischen
Angeln und Sachsen nach allem, was wir heute sagen können, für die
Dialektbildung eine geringe Rolle gespielt. Das Entscheidende für
die altenglische Dialektbildung war die geographische
und politische Neugruppierung der Stämme auf der Insel.
Dabei ist die wichtige Tatsache nicht aus den Augen zu verlieren, daß
die Besiedlung Britanniens durch die Angelsachsen nicht wie die Wande-
rungen der Festlandsgermanen in geschlossenen Stammesverbänden, son-
dern in kleineren Gruppen auf Schiffen erfolgte, die bald hier, bald
dort landeten und so regellos durcheinander gewürfelt wurden. Ahnlich
ist es später mit den Niederlassungen der norwegischen und dänischen
Wikinger.
Bei der Weiterentwicklung der dialektischen Unterschiede sind die
politischen und kirchlichen Grenzen zweifellos von Einfluß gewesen ;
aber in einem Lande mit wenig hervortretenden natürlichen Verkehrs-
hindernissen war doch die geographische Nachbarschaft das Ausschlag-
gebende. Wo die politischen und kirchlichen Grenzen mit natürlichen
Verkehrsscheiden zusammenfielen, war die Möglichkeit zur Ausbildung
dialektischer Unterschiede natürlich in erhöhtem Maß gegeben. Aber
im allgemeinen haben die alten Stammesbezeichnungen Sachsen, Angeln,
Mercier usw. in sprachlicher Hinsicht nur noch geographische Bedeutung.
Gerade das Durcheinander der Dialektabstufung des y in den zentralen
Grafschaften des Mittellands zeigt, wie wenig die staatlichen und kirch-
lichen Grenzen den sprachlichen Austausch behindern konnten. Eine
wissenschaftlich durchgeführte historische Dialektgeographie wird für die
älteren englischen Sprachperioden sicher die gleichen sich kreuzenden
13
Lautkurven ergeben, wie sie uns in den Karten der heutigen deutschen
Dialekte entgegentreten.
h) Der i-Umlaut von wgerm. a vor l -\- Kons,
im Altenglischen
Ekwalls zweite Abhandlung, die den i- Umlaut von wgerm.
«vor l -\- Kons, in seiner dialektischen Abstufung behandelt;
ergänzt die erste in willkommener Weise, obschon sie für die Fest-
stellung der Grenze zwischen sächsischem und anglischem Gebiet ohne
Belang ist. Nach der herrschenden Ansicht wurde ca durch «'-Umlaut
WS. zu ie, kent. zu e, während angl. a vor l -Verbindungen durch i-Um-
laut zu r/', selten e wurde.
Ekwall legt seinen Untersuchungen ausschließlich mittelenglische
Ortsnamenformen zu Grunde, wobei er sich leider fast nur auf die
Wörter iviell 'Quelle, Brunnen' und ivielni 'Fließen' mit ihren Varianten
stützen konnte. Das ist bedauerlich, weil gerade diese Wörter wegen
der Möglichkeit einer verdunkelnden Einwirkung des iv zum Teil keine
allgemeinen Schlüsse gestatten.
Die Ergebnisse, zu denenfEkwalFkommt, und die er inzwischen
durch weitere Untersuchungen (Angl. Beibl. 29, 73; 1918) ergänzt hat,
sind aber recht interessant. 1. Sachs, ea vor / -\- Kons, wurde
durch i-Umlaut in den westlichen und mittleren Graf-
schaften zunächst zu ic. Dieses ie wurde in Devon und Somerset
weiter zu 3ie..mQ.i(-wille)] in Dorset, Wilts., Hants., teilweise auch in
Oxf und West- Sussex und wahrscheinlich in Berks. wurde es nach
w zu ae. y ^ me. u (o) (-ivulle, -wolle).
2. In Kent, wahrscheinlich auch in Essex, Ost- Sussex und viel-
leicht in den östlich- westsächsischen Bezirken wurde ea durch i -Um-
laut zu e (-ivelle).
3. Angl. a vor l -\- Kons, wurde durch i-UmlautimWest-
mercischen (Heref, Shropsh., Staff., Chesh., S. Lanc, Derbysh.) zu
ae. «', me. a (-ivaMe, -walle), in allen übrigen anglischen Mund-
arten zu einem e-Laut, der ae. ce, me. aber e geschrieben wird.
Vom westlichen Mittelland hat sich das a nach E. auch über die ursprünglich
westsächsischen Grafschaften Glouc, Worc, Warw., sowie nach SW. Lanc.
verbreitet, wo sich einige Fälle von -ivalh finden, obwohl hier -ivelle das
gewöhnliche ist. Ekwall (S. 63 f) weist darauf hin, daß das Gebiet,
wo a der regelmäßige Vertreter des umgelauteten a vor ?- Gruppen ist,
sich fast genau mit den beiden Diözesen Hereford und Lichfield decke,
wenn auch die Spuren von -walle in Warwickshire schwach seien.
Ferner falle die Grenzlinie zwischen tvalle und wdle im Nordmittelland
mit der von ti und * aus ae.?/ zusammen, da nach Brandl Derby zum
u-y Nottingham zum i- Gebiet gehöre. Er möchte auch hier eine alte
Stamraesgrenze vermuten, wagt aber aus Mangel an Material keine
Entscheidung.
14
3. Einfluß des Angelsächsischen auf das Althochdeutsche
Man hatte mehrfach vermutet, daß die althochdeutsche Übersetzungs-
literatur, insbesondere die Isidor- und Tatianüber Setzung, unter angel-
sächsischer Leitung und nach' angelsächsischem Vorbild entstanden oder
wenigstens durch Angelsachsen sprachlich beeinflußt worden sei, weil sie
zahlreiche Wörter enthält, die dem Althochdeutschen sonst fremd sind
und nur im Angelsächsischen Entsprechungen haben. Gegen diese Auf-
fassung wandte sich Kögel, der grundsätzHch jegliche Anglosaxonismen
im Althochdeutschen leugnete. Wenn er darin auch zu weit ging, so
haben doch Steinmeyer für die Isidorgruppe, Gutmacher und
Braune für Tatian überzeugend nachgewiesen, daß es sich bei den
Übereinstimmungen des Wortschatzes jener beiden fränkischen Denk-
mäler mit dem Angelsächsischen nicht um Entlehnungen, sondern um
altes westgermanisches Sprachgut handelt, das in den übrigen Mund-
arten entweder ausgestorben oder nur literarisch unbelegt ist.
Doch weist das Althochdeutsche in andrer Hinsicht tatsächlich
tiefgreifende angelsächsische Einflüsse auf. Im 8. Jahrhundert hielten
sich in deutschen Klöstern zahlreiche enghsche Mönche auf, deren über-
legene literarische Kultur im deutschen Schrifttum zur Geltung kam.
Ihr Einfluß zeigt sich am augenfälligsten in dem Eindringen der
insularen, anglo-irischen Schrift, die namentHch in Fulda und
St. Gallen in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts mit der heimischen,
kontinentalen Schreibweise in Wettbewerb trat, aber in der ersten Hälfte
des 9. Jahrhunderts wieder verschwand.
Wichtiger ist der angelsächsische Einfluß auf die ahd.
Glossenliteratur, der durch zwei Bonner Dissertationen: von Ley-
decker. Über Beziehungen zivischen ahd. und ags. 6r Zossen (1911) und
Michiels, Üher englische Bestandteile altdeutscher Glossenhandschriften
(1912), klargestellt ist. Leydecker behandelt den 1., Michiels den 2.
bis 4. Band der von Steinmeyer und Sievers herausgegebenen Ähd. Glossen.
Aus ihren Untersuchungen ergibt sich, daß nicht nur in viele ahd.
Glossare einzelne ags. Wörter mechanisch eingemischt sind, sondern daß
sogar ganze althochdeutsche Glossenstücke Übersetzungen angelsächsischer
Glossen darstellen. Nur das Hauptwerk der ahd. GlossenUteratur, das
Keronische Glossar, ist von ags. Einflüssen ganz frei.
Daß dieAnregungzuderaltsächsischenBibeldichtung:
zum Heliand und zur Genesis, von der angelsächsischen geist-
lichen Dichtung ausgegangen ist, war längst bekannt; es ist
durch die Arbeiten von Grüters, Über einige Besiehungen zwischen
altsächsischer und altenglischer Dichtung (Bonner Beiträge zur Anglistik
17,1; 1905), und Grau, Quellen und Venvandf schaffen der älteren
germ. Barstellungen des Jüngsten Gerichts (Studien z. engl. Phil. 31,
S. 199 ff.; 1908), im einzelnen genauer nachgewiesen worden. Braune
(PBB. 43, 380) vermutet, daß auch der Dichter des ahd. Muspilli An-
regungen von dem ags. Crist III erhalten habe.
15
Aber alle diese Beziehungen zu der angelsächsischen Sprache und
Dichtung haben mehr gelehrten, literarischen, schriftmäßigen Charakter
und lassen keinen Schluß auf Beeinflussung der lebenden althochdeut-
schen Sprache zu. Namentlich die angelsächsischen Elemente in den
althochdeutschen Glossaren haben nur ein papiernes Leben geführt und
sind nicht etwa als wirkliche Fremdwörter aufzufassen. Rein literarische
ags. Fremdwörter gibt es weder im Althochdeutschen noch im Altnieder-
deutschen, weil es keine altdeutsche Übersetzungsliteratur nach ags. Vor-
lagen gab. Heliand und altsächsische Genesis sind wohl dureh ags.
Muster angeregt, aber nicht aus dem Angelsächsischen übersetzt, wie
man wohl gemeint hat, und enthalten deshalb keine ags. Lehnwörter,
während um.gekehrt der Verfasser der ags. Genesis B bei der Über-
tragung aus dem Altsächsischen auch Fremdwörter wie liearra ' Herr',
Wcer wahr' u. a. mit herübergenommen hat.
Dagegen hat das Angelsächsische in vorliterarischer Zeit tatsächlich
einmal einen lebendigen Einfluß auf die deutsche Sprache ausgeübt.
Durch die Missionstätigkeit der Angelsachsen, die durch
Wilfriths Predigt bei den Friesen 678 eingeleitet wurde, in der Wirk-
samkeit des Bonifaz in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts ihren
Höhepunkt und mit der Ernennung V\^illehads zum Bischof von Bremen
787 ihren Abschluß erreichte, sind zahlreiche christliche Lehn-
wörter aus dem Angelsächsischen ins Althochdeutsche
eingedrungen, von denen einige noch heute zu unserm häufigst ge-
brauchten Sprachgut zählen. Dies in zweifelloser Weise festgestellt zu
haben, ist das Verdienst von W. Braunes methodisch und inhaltlich
gleich bedeutsamer Abhandlung ÄUhocJideutsch und Angelsächsisch (PBB.
43,361, besonders 38lff.; 1918).
Schon vor dem Auftreten der angelsächsischen Mis-
sionare in Mitteldeutschland waren christliche Sendboten in
Süddeutschland und am Rhein erfolgreich tätig gewesen und
hatten eine Reihe von christlichen Ausdrücken im alt-
hochdeutschen Wortschatz eingebürgert. Mit dieser älteren
süddeutschen Gruppe christlich-kirchlicher Wörter trat nun die im 8. Jahr-
hundert von den Angelsachsen in Mitteldeutschland eingeführte in Wett-
bewerb. Aus dem Kampf der beiden konkurrierenden Gruppen gingen
meist die süddeutschen Ausdrücke als Sieger hervor, weil
sie im Sprachgebrauch des oberdeutschen und rheinisch - fränkischen
Gebiets schon so gefestet waren, daß die angelsächsischen Missionare in
deutscher Rede sie nicht umgehen konnten. So ergab sich schließlich
eine einheitliche hochdeutsche christliche Terminologie, in der das süd-
deutsche Element das Übergewicht hatte. Braune zeigt an einer Reihe
von Beispielen, wie dieser Kampf zwischen der älteren, süddeutschen
und der unter angelsächsischem Einfluß stehenden mitteldeutschen oder
fuldaischen Schicht im einzelnen verlaufen ist.
In einigen Fällen waren süddeutsch-fränkische Ausdrücke schon so
fest eingebürgert, daß jede angelsächsische Konkurrenz ausgeschlossen
war. So bei dem Lehnwort ahd. Jcrüzi 'Kreuz' aus lat. cräcem, gegen-
16
über ags. röd und gedlga, galga. Ahd. moto bedeutet nur ^ Rute', gdlgo
nur "Galgen'. — Völlig fest waren auch abd. toufi"Va,\xfe, toufen'idivSen',
gegenüber ags. fulwiht, fulluM bzw. fuhvian, fullian] ferner ahd. higiJit
'Beichte', hijelian 'beichten' gegenüber ags. andetting und anäettan. —
Auch ahd. opfar, opfaron, ein altes, vor 600 aufgenommenes Lehnwort
aus lat. operäri, hat dem ags. offrian aus lat. offerre gegenüber stand-
gehalten; schon Tatian hat ohpliar. — Etwas stärkere Spuren hat ags.
gödspel 'Evangehum' hinterlassen, das als ahd. gofsiiel nicht nur bei
Tatian und Isidor, sondern auch in Oberdeutschland auftritt; doch hat
es sich auf die Dauer gegen das Fremdwort ahd. evangclio nicht halten
können. — Die von den ältesten christlichen Sendboten in Süddeutsch-
land geprägten Ausdrücke für die spezifisch christlichen Begriffe 'Er-
barmen', "Trost' und 'Demut' haben sich erst nach längerem Kampf gegen
die von den angelsächsischen Missionaren eingeführten Bezeichnungen
durchsetzen können: ahd. harmhers, irharmen (Lehnübersetzungen von
lat. 'misericors, misereri') siegten über ags. müdheort, mütsian] ahd.
tröst, frösfjan über ahd. fluöbara, ßuoblren, as. frohra, froXyrean, die nach
dem Vorbild von ags. fröfor, frefran christlich umgeprägt waren; das
ahd. Adjektiv theomuoti, deomuoti, das nach Braune (S. 397) ursprüng-
lich "dienstwillig, dienstbereit' bedeutete und durch die ältere süddeutsche
Kirchensprache in christlichem Sinne zu "demütig' umgedeutet war, ver-
drängte die von den angelsächsischen Missionaren nach dem Muster
ihres eapmöd, eapmede christianisierten Ausdrücke ahd. odmuotig, as. üd-
mudi, die wie jenes ursprünglich "mit leichtem Sinn', dann 'mit mildem
Sinn, wohlgesinnt' bedeuteten.
Während bei den bisher genannten Begriffen die oberdeutschen
Ausdrücke durchgedrungen sind, hat bei einer andern Gruppe umgekehrt
die angelsächsich-fränkische Bezeichnung gesiegt. Zur
Wiedergabe des christlich-ethischen Begriffs der Heiligkeit, des lat.
'sanctus' und "sacer', fand das Christentum zwei gemeingerm. Wörter
verwandten Sinnes vor, die nur wenig umgedeutet zu werden brauchten:
got. iveilis und liailags. Urgerm. '^-unhaz war, wie ags. weoli, wlg " Götter-
bild' und anord. i^e, as ivih "Tempel' zeigen, ein heidnisches Kultwort
mit der Bedeutung 'den Göttern geweiht'. Urgerm. ^haila^as bedeutete
"unverletzlich', wie das Stammwort ^liailas und besonders der Sinn von
anord. heilagr in der Rechtssprache beweist. Von den beiden Wörtern
liegt offenbar ^tvihas dem christlichen Begriff "sanctus, sacer' näher,
und dies ist auch sowohl im Gotischen wie in der älteren süddeutschen
Kirchensprache im christlichen Sinne umgedeutet worden. Im Alt-
nordischen und Angelsächsischen aber war *iviJias ausgestorben und durch
*liaila7,as ersetzt; es hat nur in anord. ve "Tempel' und vigja "consecrare',
in ags. iveoJi, ivlg 'Götterbild', tveofod 'Altar' aus ^tvih-heod 'heiliger
Tisch', fuhvian 'taufen' aus * ful-tvihan, tviglere "Wahrssiger, Zauberer'
seine Spuren hinterlassen. Im Angelsächsischen stand also nur liälig
(ne. holy) zur Verfügung, und dies ist denn auch von Anfang an zur
Wiedergabe von 'sanctus' benutzt worden. Das davon abgeleitete Verbum
ludgian (ne. hallow) bedeutet sowohl ' sanctificare , heiligen' als auch
Wissenschaftliclie Forschungsberichte IX, 2
17
'consecrare, weihen'. — Durch die ags. Missionare kam nun in der
ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts die christhche Anwendung von Jiälig
nach Deutschland, wo soM'ohl tvih wie heilag vorhanden waren. Von
Fulda, dem Mittelpunkt der ags. Mission in Hessen und Thüringen, hat
sich die christianisierte Gebrauchsweise von heilag zunächst nach Rhein-
franken, dann in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts auch nach
Oberdeutschland und Niederdeutschland verbreitet und das ältere ivih
verdrängt, wobei der viel gebrauchte Ausdruck der lieilego geist jeden-
falls hauptsächlich zu ihrer Ausbreitung beigetragen hat. Auch das
Verbum ahd. tviheti wurde im Sinne von ' sanctificare ' durch heüagön
ersetzt und hat sich nur in der Bedeutung 'consecrare* als iveihen bis
ins Nhd. erhalten. Das Adjektiv tvih lebt heute nur noch in den festen
Verbindungen Weihnachten (mhd. diu iv'ihe naht, zen wihen nahten),
Weihrauch und in bayrischen Ortsnamen wie Weihenstephan, Weihen-
zeil fort.
Mit der Wiedergabe des lat. 'sanctus' ist die von lat. 'spiritus',
griech. '' 7TvEvi.ia wegen der überragenden Rolle des 'spiritus sanctus' im
christlichen Dogma eng verknüpft. Der Seelenglaube war bei allen
Germanen schon in der Urzeit entwickelt, und so gibt es ein gemein-
germ. Wort für 'Seele': got. saiwala, ags. säwol, ahd. sela] der ab-
straktere Begriff der höheren Seelenkräfte aber, die wir heute als 'Geist*
bezeichnen, fehlte ihnen in vorchristlicher Zeit. Die Entsprechung von
^ Ttvevfxa, Spiritus' ist infolgedessen bei den altgerm. Völkern verschieden:
die Goten haben ahma 'Sinn, Verstand' (zu ahd. a/ito 'Meinung', ahtön
' beachten'), die ältere süddeutsche Kirchensprache übersetzt den griech. -
lat. Ausdruck wörtlich mit üttini 'Atem, Hauch', ebenso das Altnordische
mit andi 'Atem'. Das Angelsächsische greift auf das Wort gast zurück,
das Braune in sehr ansprechender Weise mit ags. gastan 'schrecken',
ne. ghastly 'schrecklich', aghast 'erschrocken, bestürzt' zusammenstellt
und als 'Schreckbild, ghost, Geistererscheinung' deutet. Die christliche
Umprägung des Worts ist von England nach Deutschland gekommen,
wo geist zur Bezeichnung der erscheinenden Seele eines Verstorbenen
schon vorhanden war und sich ohne weiteres der christlichen Anwendung
fügte, geist hat dann das obd. rdum rascher und gründlicher verdrängt
als heilig das ältere ivih\ statt der iviho ätum findet sich wiederholt der
tviho heist, bis sich schließlich der heilago geist allgemein durchsetzt.
Noch früher und gründlicher ist der ags. Name des Osterfestes
auf dem ganzen hochdeutschen Sprachgebiet durchgedrungen. Für
Ostern haben die meisten germanischen wie auch alle romanischen
Völker das jüdische pascha aus der lat. Kirchensprache entlehnt: got.
paslia, as. päscha, mnd. pasche, paschedach, westf. päshe, mfrk, pösche,
püschdaag, mndl. paeschdach, atries. pascha, anord. päsicar (aus dem
AltsächsischenJ, dän. paaske, schwed. paslc. Nur das Englische und das
Hochdeutsche haben statt dessen einen einheimischen Ausdruck: ags.
eastre, ahd. ostra, meist als Plural gebraucht: ags. öastron, ahd. ostoron,
östarün. Dieses Auftreten desselben Namens in zwei Sprachgebieten,
die durch das weite ;>rtsc//a - Gebiet vöHig voneinander getrennt sind,
18
kann nicht auf Zufall beruhen. Beda (De Temporum Ratione o. 13;
s. Kluges Ags. Lesebuch) berichtet, der April habe seinen ags. Namen
Eostiirmonatli nach einer Göttin JEostrae erhalten, der man in diesem
Monat Feste gefeiert habe, und nach ihr sei auch das christhche Oster-
fest (paschale tempus) benannt. Braune hält an der Richtigkeit dieser
seit Weinhold mehrfach bezweifelten Angabe fest. Er meint (S. 416),
das heidnische Frühlingsfest sei auch bei den hochdeutschen JStämmen
zu der Zeit, als die ags. Missionare zu ihnen kamen, noch wohlbekannt
gewesen, und sie hätten deshalb den ags. Osternamen ohne weiteres
übernommen. In den dazwischenliegenden Gebieten der Niederfranken,
Friesen und Sachsen, sowie auch bei den Skandinaviern, habe man das
heidnische Fest nicht mehr gekannt, sonst hätte man sich auch hier
wohl der christlichen Terminologie der Nachbarn angeschlossen.
Ein Gegenstück zu dem englisch - deutschen Osternamen erblickt
Braune in der angelsächsisch- nordischen Benennung des Weihnachts-
festes. Lat. (dies) natalis, nafivitas, die Grundlage der Benennungen
des Christfestes in den romanischen und keltischen Sprachen, hat sich
bei den Germanen nicht eingebürgert. Der alte süddeutsche Ausdruck
WeiJmacJiten (s. oben S. 18) hat sich seit dem 15. Jahrhundert auch
in Norddeutschlaud ausgebreitet und ist heute in Deutschland der herr-
schende Name des Festes. Die bodenständige niederdeutsche Benennung
desselben scheint 'Christtag, Christnacht' gewesen zu sein: mnd. Kers-
dach, Kersnacht, köln. Kreßdaag u. a. Der holländische Ausdruck ist
'Christmesse': mndl. Kersmisse, nndl. Kersmis. Letztere Bezeichnung
kommt seit dem 11. Jahrhundert auch in England auf: erster Beleg
1021 Cristes-messe in Hs. D der Sachsenchronik, ne. Christmas. Der
ältere ags. Name für Weihnachten aber ist geol oder geohhol (ne. ytde),
das in anord. jöl, schwed. dän. jul wiederkehrt. Es bedeutete ursprüng-
lich 'Mittwinter, Wintersonnenwende', sodann das heidnische ' Mittwinter-
fesf . Bei den Angelsachsen wurde der Name auf das Christfest über-
tragen, und diese christhche Umprägung wurde unter ags. Einfluß von
den Skandinaviern übernommen. Im Deutschen war das entsprechende
ahd. *geJial nicht mehr vorhanden, weshalb das ags. geol hier keinen
Anklang fand.
Auch das Wort 'Heide' im Sinn von 'gentilis, ethnicus, paganus'
verdanken wir nach Braune den Angelsachsen. Ich habe das viel um-
strittene Wort im Anschluß an Braunes Ausführungen kürzlich in der
Braune - Festschrift (Aufsätze z. Sprach- u. Literaturgesch. , Dortmund
1920, S. 27 ff.) zusammenfassend behandelt und bin zu folgenden Er-
gebnissen gekommen. Zu idg. *Icoitom, germ. ^haipa n. 'Wildland,
Heide', das als y'ö-Stamm in got. haipi, ahd. heida, ags. häp vorliegt,
bestand eine gemeingerm. Ableitung *haipana0, "^haipinaz, ^haipnas,
die wir in ahd. keidan, ags. Kcepen, got. haipns usw. haben. Ihre ur-
sprüngliche Bedeutung war 'Heideleute, Wildnisbewohner', dann 'Wilde,
Barbaren'. Bei der Christianisierung der Angelsachsen wurde das Wort
zum Ausdruck des Begriffs 'ethnicus, gentilis' verwandt. In Ober-
deutschland hatte sich in der älteren Bekehrungsepoche vom 4. — 7. Jahr-
hundert zunächst ethniciis], kirchenlat. ennicus als Fremdwort in der
Gestalt von ahd. innizzi als Benennung der Nichtchristen eingebürgert.
Im Zeitalter der angelsächsischen Missionstätigkeit wurde es durch das
unter ags. Einfluß christlich umgeprägte obd. Iteidan vordrängt. Die
christliche Umprägung dieses altgermanischen Worts bei den Nieder-
deutschen, Friesen und Skandinaviern steht gleichfalls unter dem Ein-
fluß der angelsächsischen Mission.
Auch nichtkirchliche Ausdrücke sind jedenfalls durch die
angelsächsischen Missionare verbreitet worden. Ich hatte schon im
Reallexikon (I 349 f.) die Vermutung ausgesprochen, daß die Wieder-
gabe von lat. litera als 'Buchstabe' bei den Angelsachsen entstanden
und von ihnen mit dem Christentum den Deutscheu und Skandinaviern
übermittelt worden sei. Braune findet den Gedanken ansprechend und stellt
seinerseits die bemerkenswerte These auf, daß auch das Wort 'deutsch'
im völkischen Sinne (mlat. theodiscus, theofiscus, ahd. dmtisJc) angel-
sächsischen Ursprungs sei. Er denkt (S. 413), wie vor ihm Dove,
an den Kreis um Bonifaz als den Ursprungsort des Namens, da sich
bei den angelsächsischen Missionaren zuerst das Bedürfnis nach einer
Gesamtbezeichnung für die deutschen Einzelsprachen geltend machen
mußte. Er weist darauf hin, daß die Angelsachsen schon in ihrer
Heimat außer dem Substantiv gepeode n. 'Sprache' auch ein Adjektiv
peodisc 'volkstümlich' hatten, und daß sie auf Grund desselben für die
verschiedeneu deutschen Mundarten die zusammenfassende Bezeichnung
theodisca lingua einführten, die auf deutschem Boden als Ausdruck der
kirchlichen lateinischen Umgangssprache zuerst 788 in den Lorscher
Annalen belegt ist. Zur Stütze von Braunes Vermutung sei hier noch
bemerkt, daß schon das eo des kirchenlat. theodisca den angelsächsischen
Ursprung verrät ; ferner sei auf eine Stelle in einer ags. Originalurkunde
von 843 hingewiesen, wo fheodisce 'in der Volkssprache' bedeutet:
„unus singularis silva ad hanc eandem terram pertinens, quem nos theo-
disce snad norainamus" (Gray Birch, Cartul. Sax. II, S. 18, Nr. 442 =
Sweet Oldest Engl. Texts 25). Nach Bi'aunes Darlegungen scheint es
in der Tat sicher, daß das deutsche Volk seinen Namen den Eng-
ländern verdankt.
Auf den übrigen Inhalt von Braunes wichtiger Abhandlung ein-
zugehn, muß ich mir versagen. Es sei nur angedeutet, daß er noch
über die Herkunft jeuer älteren Schicht christlicher Wörter in .Süd-
deutschland handelt: über die Bedeutung der Rheinlinie für die Über-
mittlung lateinischer und griechischer Kulturwörter an die westgermani-
schen Völker und über gotische Einflüsse aufs Althochdeutsche.
4. Einfluß des Lateins und des Christentums auf den alt-
englischen Wortschatz
Über den Einfluß des Lateins auf den altenglischen Wortschatz ist
Pogatschers klassisches Buch Zier Lautlehre der griechischen, latei-
20
nischen und romanischen Lehmvorte im Altenglisclien (1888) immer noch
die grundlegende Abhandlung. Wichtige Nachträge dazu lieferten Sie-
vers in seinem Dekanatsprogramm Zum angelsächsischen VoJcalismus
(Leipzig 1900) und Luick in seinem Aufsatz Zu den lateinischen Lehn-
wörtern im Alt englischen (Arch. f. N. Spr. 126, 35; 1911). Während
Pogatscher nur zwischen volkstümlichen und gelehrten Entlehnungen
unterschieden hatte, teilte Sievers die letztern weiter in gelehrte Lehn-
wörter, die auf Grund der jeweils üblichen gelehrten Aussprache des
gesprochenen Kloster- und Schullateins sich in der mündlichen Ver-
kehrssprache eingebürgert haben, und in rein literarische Fremdwörter,
die ausschließlich an Schriftbilder ohne feste, traditionelle Aussprache
anknüpfen. Er wie auch Luick erörterten besonders die Betonung und
Quantitierung der gelehrten Entlehnungen, wobei sie vielfach zu andern
Ergebnissen gelangten als Pogatscher. Eine vortreffliche knappe Dar-
stellung des Vokalismus der lateinischen Lehnwörter aller Arten gibt
Luick in seiner Histor. Grammatih § 210 ff. Über die geschichtliche
und kulturgeschichtliche Bedeutung der älteren lateinischen Lehnwörter
im Alteoghschen habe ich im 14. Kapitel meines Buchs Waldbäume
und Kidturptlansen im germanischen Altertum (1905) gehandelt.
Neuerdings hat Otto Funke in einer etwas unpraktisch angelegten,
aber wertvollen Arbeit die gelehrten lateinischen Lehn- und Fremd-
ivörter in der altenglischen Literatur von der Mitte des 10. Jahrhunderts
bis um das Jahr 1066 einer gründlichen Prüfung unterzogen (Halle,
Niemeyer, 1914). Der Blütezeit der klassischen Studien in England im
Zeitalter Aldhelms und Bedas wurde durch die Däneneinfälle ein jähes
Ende bereitet. Die hochfliegenden Pläne Alfreds des Großen, der seinem
Volk die wertvollsten Schätze der lateinischen Literatur in englischen
Übersetzungen zugänglich machen wollte, erlitten infolge der Wieder-
aufnahme der Wikingerzüge das gleiche Schicksal. Ein neuer, nach-
haltiger geistiger Aufschwung begann erst mit der kirchlichen Ke-
formbewegung, die Erzbischof Dunst an von Canterbury, Bischof
vEthelwold von Winchester, Bischof Oswald von Worcester und ihre
Mitarbeiter nach dem Vorbild der Reformbestrebungen des französischen
Bllosters Fleury seit 960 ins Werk setzten. Diese Reformära, auf die Funke
im 3. Kapitel seines Buchs ausführlich eingeht, hub mit der Einführung der
Benediktinerregel an, die sehr bald ins Englische übertragen wurde, und
erreichte um lUOO in der Wirksamkeit iElfrics und Wulfstans ihren li-
terarischen Höhepunkt. Sie führte zu einer Neubelebung der Latein-
kunde, wenn auch längst nicht in dem Maße wie im 7. und 8. Jahr-
hundert. Das Ziel der Reformbewegung des 10. Jahrhunderts war kein
wissenschaitliches, sondern ein praktisches: die sittlich-religiöse Hebung
des Priesterstands und des ganzen Volks. Deshalb wurde die Landes-
sprache zur kirchlichen Literatursprache erhoben. Alfreds Tradition
wurde fortgesetzt: eine lange Reihe von Übersetzungen und Interlinear-
versionen entstanden in dieser Epoche. Dazu kamen jetzt religiöse und
wissenschaftliche Originalwerke in englischer Prosa in immer zunehmen-
der Zahl, die sich freilich in Stoff und Ideen durchweg an ältere Vor-
21
bilder der klassischen und patristischen Literatur anlehnten. Nur selten
bediente man sich des Lateins zu literarischen Zwecken; noch seltner,
vielleicht nur im Verkehr mit ausländischen Geistlichen , wurde es als
mündliche Umgangssprache verwandt. Die Verkehrssprache auch der
geistlichen Kreise in dieser Zeit war das Englische.
Aber während die meisten lateinischen Ausdrücke, welche die Ein-
führung des Christentums im 7. Jahrhundert mit sich brachte, durch
einen großzügigen Sprachschöpt'ungsprozeß ins Englische übertragen und
so volkstümlich gemacht worden waren, wurden jetzt zahllose lateinische
Wörter auf gelehrtem Wege mehr oder weniger unverändert übernommen.
In dieser Ära der Klosterreform undÜbersetzungsliteratur
des 10. und 11. Jahrhunderts ist die Mehrzahl der gelehrten
Entlehnungen aus dem Latein ins Altenglische einge-
drungen. Funke scheidet sie, ähnlich wie Sievers, in Fremdwörter,
die die lateinische Flexion beibehalten, und Lehnwörter, welche die
altenglische Flexion annehmen, wozu noch eine Mittelstufe kommt,
bei denen der Nominativ lateinische Foi'm hat, die andern Kasus aber
altengHsche Flexion zeigen (S. VIL 44. 158).
Zahlreiche dieser gelehrten Entlehnungen gehören dem religiösen
Gebiet an. Es sind Ausdrücke des Klosterlebens, wie cäinhd '^ Mönchs-
versammlung, Kapitel , glüria, nodern ' Abendpsalm, Nachtmette', jirim
'Morgensang, -gottesdienst'; oder Bezeichnungen für kirchliche Ein-
richtungen und Gebräuche, yf'ie altüre, caZ/c ' Kelch, Becher ', cliör, credo,
-a, predican ' predigen', stole 'Stola, Priestergewand' u. a., oder für
geistliche Rangstufen : gräd ' Rang', deric, cänonic, decan, diaconus, lector,
presbyfer. — Eine zweite, zahlreiche Gruppe sind wissenschaftliche
Ausdrücke. Die Schule oder Grammatik lieferte : casus, dedinian,
declinung, f erstem 'Verse machen', nieter, scolu, scolere, sott 'töricht.
Tor'. Die Medizin: Cancer, -or, plaster, temprian 'mischen, mäßigen'.
Besonders zahlreich sind die Pflanzennamen: agrimonie, hctonice, caul,
laur, märuhie, por, quinquefoUe, säßne. — Eine dritte Gruppe sind rein
literarische Ausdrücke, die vornehmlich der Bibel entnommen
wurden, wie: angel, angelic, anticrist, arc(e) , cämel, ceder-(heam), flc-
(xppel, -heam, -trtow u. a. (Funke 108 — 110).
Manche dieser gelehrten Lehn- oder Fremdwörter trafen dabei auf
ältere volkstümliche Entlehnungen desselben Etymons, so angel - engel,
arc-earc, calic-celc, cleric-cliroc, coriander - cellendre, lätin-lmden; seltner
auf ältere gelehrte Lehnwörter, wie altäre- alter. — Andre trafen auf
ältere Übersetzungen des latein. Etymons, wie: haptista- ftdhihtere, cantic-
lofsong, confessor-andcttere, evangelista-godspellere, passio-pröwung, pro-
cGsso—gmhegang , pr opheta - ivitega ; oder auf sonstige synonyme Aus-
drücke: ampidla-ffft, cämel- olfend, paradisus-neorxnaivang (F. 136 ff.;.
Hierher stellen sich auch die lateinischen Monatsnamen Janua-
rius, Fehruarnis usw., die vom 10. Jahrhundert an in der literarischen
Sprache fast ausschheßlich herrschend werden (F. 147). — Einige schon
vorhandene Lehnwörter nehmen in dieser Zeit eine neue Bedeutung
an, so cäpdid, das als 'Kapitel eines Buchs' schon bei Alfred vorkommt,
22
aber jetzt auch ' Mönchskapiter oder den Ort dieser Mönchsversamm-
lung bezeichnet (F. 149).
Funke unterwirft diese gelehrten Lehnwörter in bezug auf Betonung,
Vokalquantität, Flexion und Wortbildung einer eingehenden Untersuchung.
Für die Beurteilung ihrer Laut- und Akzentverhältnisse ist offenbar eine
genaue Kenntnis der Aussprache des damaligen Kirchenlateins von grund-
legender Wichtigkeit. Funke widmet deshalb das 1. Kapitel seines Buchs
einer Erörterung der Beziehungen zwischen Hochlatein und Vulgärlatein,
zwischen Latein und Französisch. Im Anschluß daran gibt er auf Grund
der Quaestiones Grammatieales des Abbo von Fleury, der auf Ein-
ladung des Erzbischofs von York zwischen 980 und 988 die Kloster-
schule zu Ramsey leitete, eine Darstellung der Akzent- und Quantitäts-
verhältnisse sowie des Konsonantismus des Klosterlateins im 10. Jahr-
hundert. Diese Schrift, die Abbo für seine englischen Schüler schrieb,
zeigt uns nach Funkes Darlegungen, daß die Aussprache des damaligen
Klosterlateins stark vom Französischen beeinflußt war, während man sich
im übrigen in den klösterlichen Lateinschulen auf die grammatischen
Lehren des Donat und Priscian und auf die Metrik des Horaz uüd Vergil
stützte. J ellin ek hat in der Braune-Festschrift in seinem Beitrag ^t(r
Äusspraelie des Lateinischen im Mittelalter (Aufsätze z. Sprach- u. Lit.-
Gesch. 11 ff.; 1920) Funkes Schlußfolgerungen aus Abbos Schrift einer
beachtenswerten Kritik unterzogen.
Das 2. Kapitel von Funkes Buch, das den nur für den Anfang zu-
treffenden Titel „Die Kriterien gelehrter Entlehnung" führt, behandelt
in der Hauptsache die Akzent- und Quantitätsverhältnisse.
Hinsichtlich der Wurzel vokale lateinischer zweisilbiger Wörter kommt
Funke (S. 52) zu dem gleichen Ergebnis wie Luick (Hist. Gramm.
§ 218, 1): das romanische Gesetz, wonach kurze, betonte Vokale
in freier Stellung seit dem 6. Jahrhundert gelängt werden,
gilt im allgemeinen auch für die lateinischen Lehnwörter im Altenglischen ;
daher ae. gräd, scül, cöc, stöl, sön, chör = vlglat. grüdus, schola, cöcus,
stola, sönus, chorus, für klasslat. gradus, scJiola, coquiis, stola, sonus,
cJiorus. Aber vielfach wurde unter gelehrtem oder kelti-
schem Einfluß die hochlateinische Kürze in der Aussprache
des mittelalterlichen Schullateins wiederhergestellt und kehrt dann
zum Teil auch in der altenglischen Aussprache wieder: neben ae. scöl
steht scohi, neben stöl stole, neben söt ' Tor, töricht' sot(t). Alfric sagt
in einer bemerkenswerten Stelle seiner Grammatik (ed. Zapitza S. 2),
auf die Funke (S. 51) hinweist: viele Leute sprächen Silben, die metrisch
kurz seien, wie das a in pater und malus, nach britischem Vorbild auch
in Prosa kurz, während doch die Prosa an die metrischen Gesetze nicht
gebunden sei ; er selber ziehe eine gedehnte Aussprache pcder, mcdiis vor.
Für Funkes Erörterung über die Quantität der dreisilbigen
Wörter ist es verhängnisvoll, daß er Luick s oben erwähnten wich-
tigen Aufsatz Zu den laf. Lehnwörtern im ÄUenglischen übersehen hat.
Nach Luick (S. 39) bewahren die lat. Proparoxytona bei früher
volkstümlicher Entlehnung die lat. Quantität des Ton-
23
Vokals: rädic, iigle, cliroc nach lat, ^rädica für rädicem, tegula, dericus;
bei jüngerer gelehrter Entlehnung hingegen erhalten sie
nach Maßgabe der inzwischen üblich gewordenen Aussprache des La-
teins durchaus Kürze: also nicht nur calic nach lat. calicem, sondern
auch clcric, predicap, -tan, huter e, lilie, fifele 'Spange^ gegenüber lat.
dericus, praedicat, hüiynim, lilium, flbula. — Auch Sievers' einschlägige
Abhandlung Zum amjelsädisisdien Vokalismus wird von Funke nur in
einem Nachtrag kurz behandelt, weil sie ihm während der Drucklegung
seiner Arbeit nicht zugänglich gewesen sei (S. X)!
Im Anschluß an eine Besprechung von Funkes Buch hat F. Hütten-
brenner (Anglia Beibl. 28, 38) nochmals ausführhch über die Akzen-
tuierung und Quantitierung der Fremdnamen in der ae. Diclitung ge-
handelt. Er kommt dabei zu Ergebnissen, die zum Teil sowohl von
Sievers' wie von Funkes Aufstellungen abweichen, — ein Beweis für
die Vieldeutigkeit der stofflichen Unterlage.
Was die Betonung betrifft, so beweist m. E, die stabende Ver-
wendung von Fremdwörtern wie cometa, cristallus, istoria, psulterium,
reliquias, nnguentum, ysopon, hdsiliscan im Alliterationsvers, daß man
alle gelehrten Lehnwörter und Fremdwörter beim Gebrauch in der ge-
sprochenen Rede der heimischen Anfangs beton ung anzupassen sich
bemühte.
Von einer zusammenhängenden Behandlung der Lautlehre der
gelehrten Entlehnungen im Altenglischen hat Funke leider abgesehen.
„ Die Lautlehre muß dabei ganz zurücktreten ", sagt er S. IX. Nach
der gründlichen Erörterung der Aussprache des Klosterlateins im 1. Ka-
pitel versteht man nicht, warum er gerade diesen wichtigen Abschnitt
übergangen hat. So bleibt es dem Leser überlassen, sich aus den Fest-
.stellungen über die Aussprache des Klosterlateins seine Schlüsse für die
Lautung der altenglischen Lehnwörter zu ziehen.
Hinsichtlich der Flexion der gelehrten Entlehnungen bei ihrem
übertritt ins Altenglische kommt Funke (S. 13o) zu dem Ergebnis, „daß
im großen und ganzen alle lateinischen Stäaime mit Ausnahme derer
auf -a der ae . a - Deklination zufallen, während die lat. -a-Stämme sich
in die ae . schwache Flexion einreihen". Er zieht daraus mit Recht den
Schluß, daß in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts im Altenglischen
nur mehr zwei Flexionstypen wirklich lebenskräftig waren:
die germanische «-Deklination und die schwache Flexion. Es
sind dieselben beiden Typen, die sich noch bis ins Mittelenglische lebendig
erhalten haben. —
Mit dem Einfluß des Lateins hängt der des Christentums auf
den altenglischen Wortschatz eng zusammen. Einen recht willkommenen
Beitrag zur Kenntnis desselben liefert die Abhandlung von Albert
K eiser, The Inßuence of Cliristianity on tJie Vocahulary of Old English
Foetry (Univ. of Illinois Studies in Lang, and Lit. 5, 1. 2; Urbana 1919).
Der Verfasser will darin für das Altenglische das tun, was R. von Rau-
mer (1845) für das Althochdeutsche, B. Kahle (1890 u. 1901) für
das Altnordische geleistet haben. Er setzt ein, wo Mac Gillivray
24
in seiner weitschweifigen Arbeit Tlie Influence of Christianity on tlie
Vocahulary of Old English (Part I, 1^* Half; 1902) stecken geblieben
war. Aber im Unterschied von Mac Gillivray beschränkt sich Keiser
auf den poetischen Wortschatz der Angelsachsen, den er mit sorgsamer
Gründlichkeit möglichst vollständig behandelt. In der Anordnung des
Stoffs schließt er sich, wie Kahle und Mac Gillivray, an die Einteilung
Raumers an. Eine kurze Einleitung unterrichtet über den kulturgeschicht-
lichen Hintergrund. Wortlisten am Schluß der Abhandlung verzeichnen
die ausschließlich poetischen Wörter (fast durchgehends Komposita), die
lateinischen Lehnwörter und die hybriden, aus klassischen und einhei-
mischen Elementen zusammengesetzten Bildungen.
5. Norwegische Siedlungen in Nordwest-England
Die nordischen Seeräuber, die seit der Mitte des 8. Jahrhunderts
die Britischen Inseln heimsuchten, w^aren teils Norweger, teils Dänen.
Im allgemeinen haben die Dänen vornehmlich die Ostküste Englands
verheert, seit 850 in immer größeren Scharen sich dauernd dort nieder-
gelassen und allmählich auch das Hinterland erobert, während die Nor-
weger hauptsächlich Schottland mit den vorgelagerten Inseln, Irland
und die Westküste von England heimsuchten. 839 gründete der Nor-
weger Thorgisl (air. Turges) auf Irland das erste Wikingerreich im
Westen. Von hier wurden Raubfahrten einerseits nach der Westküste
Frankreichs, anderseits nach den gegenüberliegenden Küstenstrichen
Englands unternommen. Vorübergehend sind freilich auch Dänen bis
nach Irland vorgedrungen und haben den Norwegern die Herrschaft
über die Insel streitig gemacht. (Über die Wikinger fahrten vgl.
Alex. Bugges Artikel 'Wikinger' in meinem Reallexikon § 12 0".)
Die Skandinavier, die sich im Nordwesten Englands
ansiedelten, waren der allgemeinen Annahme zufolge Norweger. Eine
Prüfung der Ortsnamen bestätigt diese Vermutung im wesentlichen.
Sichere sprachliche Ortsnaraenkriterien für westnordischen
Ursprung sind die Lehnwörter me. houth 'Bude' aus awnord. hüä;
gegenüber aonord. höp, ferner gill 'Schlucht, enges Tal' aus awnord.
gil, und scide 'Hütte' aus awnord. shäli^ die beide im Ostnordischen
fehlen, Kriterien für ostnordischeu Ursprung sind me. höth
'Bude' und in gewissen Grade thorp 'Dorf. Eine Prüfung der skan-
dinavischen Ortsnamen in Nordwest- England auf Grund dieser Kriterien
ergibt, daß Cumberland und der angrenzende Teil von Nord-Lancashire
ganz oder überwiegend von Norwegern, Westmorland und Süd-Lanca-
sbire teils von Norwegern, teils von Dänen kolonisiert wurden. Die
Norweger scheinen durchweg von Westen her zur See gekommen, die
Dänen von Osten durchs Land vorgedrungen zu sein.
Die Norweger Nordwest-Englands sind nach der gewöhn-
lichen, sehr wahrscheinlichen Annahme aus den Wikingerkolonien
Irlands, der Insel Man und der Hebriden eingewandert,
wo sie längere Zeit in engster Berührung mit einer in mancher Hinsicht
25
höher zivilisierten keltischen Bevölkerung gestanden hatten. Diese Be-
ziehungen der Skandinavier zu den irisch-schottischen Kelten haben
deutliche Spuren in der altnordischen Sprache, Literatur und Kunst
hinterlassen, während umgekehrt auch das Irische und Manx zahlreiche
skandinavische Lehnwörter aufgenommen haben. Die frühesten nordi-
schen Lehnwörter im L'ischen düriten nicht vor 820 — 30 aufgenommen
sein, und um dieselbe Zeit etwa ist der Beginn des irischen Einflusses
auf die Sprache der Skandinavier anzusetzen; aber größere Bedeutung
gewinnt diese Einwirkung erst mit der dauernden Niederlassung der
Skandinavier in L-land um 840. Wenn nun die Einwanderung in Nord-
westengland, wie wir aus einem irischen Zeugnis schließen können, um
1)00 ihren Anfang nahm , so waren die meisten dieser Einwanderer
offenbar schon in keltischen Landen geboren, viele werden keltische
Mütter gehabt haben, und alle werden in Sprache und Kultur stark
vom Keltentum beeinflußt gewesen sein.
Literarische Denkmäler der ehemaligen skandinavischen Bewohner
Nordwest-Englands sind uns nicht erhalten ; lediglich die Namen in den
Urkunden, vor allem die Ortsnamen, geben uns ein Mittel an die Pland,
uns eine ungefähre Vorstellung von der Eigenart ihrer Sprache zu machen.
Eine systematische Untersuchung des keltischen Einflusses auf die Orts-
und Personennamen des nordwestlichen Englands und ihrer Bedeutung
für die Siedlungsgeschichte hat Eilert Ekwall in einer sehr inter-
essanten Studie: Scandinavians and Celts in the NortJmest of England
(Lunds Universitets Ärsskrift NF. Avd. 1, Bd. 14, Nr. 27 ; Lund, Gleerup,
1918) unternommen.
Ekwall beschäftigt sich im Hauptteil seiner Abhandlung mit eigen-
tümlichen Kompositionsbildungeu wie KirJqmtrick, Kirkundrews, KirJc-
michael, Kirkosivald 'Patrickkirchen' usw., JBriggethorfin ' Thorfinsbrück',
Gümorvill 'Morvills Schlucht', bei denen das Bestimmungswort hinter
dem Grundwort steht, während sonst in allen germanischen Sprachen
die umgekehrte Anordnung Regel ist; engl. Chrisfclmrch, Peterhorough,
d. Faidinzelle, Sehaldshnlcli usw. Derartige I n v e r s i o n s k o m p o s i t a ,
wie Ekwall sie kurz nennt, enthalten in ihrem ersten Element ein Appel-
lativum wie Kirche, Brücke, Insel, Tal, Schlucht, Hag u. dergl, im
zweiten meist einen Personennamen: den Namen des Schutzheiligen einer
Kirche oder des ehemahligen Besitzers eines Guts, seltner, wie in Tern-
merran 'der Sumpf am Merran', einen Orts- oder Flußnamen.
Zusammengesetzte Ortsnamen dieser Art sind im englischen Nord-
westen ungemein häufig. Das erste Element ist meist ein skan-
dinavisches Wort, wie heck 'Bach' (anord. hckkr), houth 'Bude'
(awnord. hüä), fit 'niedrige Wiese am Fluß' (awnord. //7), gill 'Schlucht,
enges Tai' (awnord. gil), höhn 'Flußniederung, Werder' (awnord. hohnr
'Insel'), tarn, me. tern 'Sumpf (awnord. tiorn). Auch Jcirk und hrig
hält Ekwall für skandinavische Formen (awnord. kirkia, hryggia), da
nach seiner Äleinung k und g vor i, j in allen eughschen Dialekten zu
tS bezw. d^ assibiliert wurden (S. 48, A. 3. 4). — Zweifellos englisch
ist nur croff 'eingezäuntes Grundstück, Hag* in Crofthathoc und Croft-
26
morris. — Keltische Wörter als erste Elemente sind gleichfalls selten;
außer air. cros 'Kreuz' (in Cr oscr in 'Grins Kreuz'), das als hross früh-
zeitig ins Altnordische übernommen wurde, liegen nur ein paar zweifel-
hafte Fälle vor.
Dieses Vorherrschen nordischer Elemente in den Grundwörtern der
nordwestenglischen Ortsnamen- Komposita zeigt, daß das Volk, das diese
Ortsnamen schuf, eine skandinavische Sprache redete. Und Dialekt-
kriterien wie houth, gill, scäle beweisen, daß es eine westnordische
Sprache, also jedenfalls Norwegisch war.
Aber das Nebeneinander von keltischen (goideüschen) und nordi-
schen Namen in den Bestimmungswörtern, den zweiten Bestandteilen
der Komposita, lehrt uns, daß die Sprache dieser Skandinavier einen
starken goidelischen Einschlag hatte. Eine derartige Durch-
dringung mit goidelischen Elementen kann aber nicht in England ent-
standen sein, wo die unmittelbare Berührung mit einer Bevölkerung
goidelischen Stammes fehlte; sie ist nur erklärlich, wenn diese Skan-
dinavier aus keltischen Ländern des Westens kamen, wo
sie bereits in innige Berührung mit solchen Völkern getreten waren.
Die wenigen englischen Elemente in den Inversionskompositis gehen
auf die alten anglischen Bewohner zurück, die zur Zeit der skandinavi-
schen Einwanderung in Nordwestengland saßen.
Die Inversionskomposita der nordwestenglischen Ortsnamen sind
keine Neuschöpfungen der skandinavischen Besiedler des Landes. Die
Stellung des Bestimmungsworts nach dem Grundwort ist in germanischen
Ortsnamen etwas durchaus Ungewöhnliches, und noch auffallender ist,
daß das zweite Element nicht, wie man erwarten sollte, im Genitiv
steht, sondern unflektiert ist. Höchstwahrscheinlich beruhen diese
Inversionskomposita auf keltischem Einfluß, und zwar auf
goidelischem, nicht britischem, da eindeutig britische Elemente in
ihnen nicht nachweisbar sind.
Im Urkeltischen wurden die Komposita nach denselben Grund-
sätzen wie im Germanischen und in andern indogermanischen Sprachen
gebildet, d. h. das Bestimmungswort wurde vor das Grundwort gestellt,
so in gall. Ortsnamen wie Lugdumim, Rigomagus u. a. Auch in histori-
schen Zeiten sind diese Bildungen noch übhch, besonders mit adjek-
tivischen Bestimmungswörtern, wie Noviodunum. Aber daneben kamen
frühzeitig Bildungen auf, in denen das Grundwort voran und das Be-
stimmungswort nachgestellt wurde, letzteres, sofern es ein Substantiv
war, im Genitiv. Es ist derselbe Typus, der in lat. Campus Martis
(oder, mit nachgestelltem Adjektiv, Campus Martins) vorliegt. Dies ist
in historischen Zeiten bei weitem die häufigste Kompositions-
bildung in den keltischen Sprachen; sie ist durchaus die Regel,
wenn das Bestimmungswort ein l^ersonen- oder Ortsname ist. In den
britischen Sprachen ist der Genitiv frühzeitig verloren gegangen , und
das nachgestellte Bestimmungswort zeigt infolgedessen keine Flexion.
In den goidelischen Sprachen blieb der Genitiv lebendig, aber im Iri-
schen unterscheidet er sich vom Nominativ in der Regel nur dadurch,
27
daß der Endkonsonant durch die später abgefallene Genitivendung
palatalisiert wurde. Dieser geringfügige Unterschied wurde wohl von
den Skandinaviern unbeachtet gelassen, und sie bildeten ihre Inversions-
komposita, wie die Briten, mit nachgestellten flexionslosen Bestimmungs-
wörtern.
Nordische Inversionskomposita sind nicht auf das nordwestliche
England beschränkt ; sie finden sich auch in den andern Ländern des
Westens, wo Skandinavier sich angesiedelt hatten, so in Irland, auf der
Insel Man, auf den Hebriden, im südwestlichen Schottland und auf den
Shetlands-Inseln.
Den Ursprung der skandinavischen Inversionskomposita denkt
sich Ekwall mit Recht so, daß zunächst das erste Element goi-
delischer Namen einfach übersetzt wurde, während das zweite,
das meist einen Namen enthielt, unverändert blieb. So ist Holm-Tatricli
in Irland und auf Man eine Übersetzung von Inish -Patrick (ir. Inis-
Padraicc 'Insel des Patrick^), und auf der Ilebrideninsel Skye finden
wir gäl. Kilcrist 'Kirche Christi' einerseits durch Kirhclirist, anderseits
durch CJirisfAshirlc wiedergegeben. Gerade die Namen mit kirk sind
wohl vielfach Übersetzungen älterer goidelischer Namen mit 7«7 'Kirche'.
Von da bis zur Bildung selbständiger nordischer Inver-
sionskomposita war dann nur ein Schritt.
Die keltischen Inversionskomposita haben den Hauptton auf
dem zweiten Element: kymr. Carmdrthen, Carnärvon, ir. Kilddre,
gäl. Künidrnock, Inverness, AberdJen. Das Gleiche gilt in der Regel
von den skandinavischen Nachbildungen : Kirkpdtrick, Kirkosivald, Gil-
cdnibon.
Die Inversionskomposita gehören sicher zu den ältesten skandinavi-
schen Ortsnamen in diesem Gebiet. Aber auch nach der normannischen
Eroberung waren solche Bildungen noch raöghch, wie der Name Croft-
morris, me. Croftmores zeigt, der in seinem zweiten Teil den normanni-
schen Namen Maurice 'Moritz' enthält. Die Zeit von 9 00 — 1 1 0»0
dürfte also die Ursprungszeit dieser nordwestenglischen Inversions-
komposita gewesen sein.
So bestätigt Ekwall auf Grund der Ortsnamenforschung die schon
von Historikern ausgesprochene, aber nicht genügend begründete Ver-
mutung, daß die nordwestenglischen Grafschaften Cumberland, West-
morland, Lancashire etwa von 900 an durch Norweger besiedelt wurden,
die vorher in Irland oder auf andern Inseln des Westens ansässig ge-
wesen waren und in enger Berührung mit keltischer Kultur gestanden
hatten.
6. Der alte Londoner Dialekt
Von keinem mittelenglisehen Dialekt hatte man bisher so wenig
sichere Kenntnis wie von der Londoner Mundart in der Zeit vor Chaucer.
Zwar war Morsbach in seinem grundlegenden Buch Über den Ur-
sprung der neuenglischen Schriftsprache (1888) auf Grund des Laut-
28
Stands der im Tower aufbewahrten Proklamation Heinrichs III. von
1258 und der älteren Londoner Urkunden zu dem Ergebnis gekommen,
daß die Londoner Sprache ursprünglich ein südlicher, genauer südöst-
licher, und zwar sächsischer Dialekt gewesen sei, der später vom Mittel-
land beeinflußt wurde, bis schließlich der mittelländische Sprachcharakter
völlig überwog (S. 161 ff.). Aber es fehlte bislang an einer breiteren
Basis, auf der man ein zuverlässiges Gebäude des Altlondoner Dia-
lekts hätte errichten können. Diese unentbehrhche Unterlage suchen
zwei neuere Arbeiten zu liefern.
Ernst Dolle in seiner Schrift Zur Sprache Londons vor Chaucer
(Studien z. engl. Philol. 32; Halle 1913) wandelt im wesentUchen in den
Bahnen seines Lehrers Morsbach. Er stützt seine Untersuchungen auf
einige spätaltenglische Urkunden aus der Zeit von 1066 — 1150, auf die
Proklamation Heinrichs III. von 1258 und auf die fünf Träume des
Adam Davy, Wappenherolds von Stratford atte Bowe, über Eduard II.
(1307 — 1327). Er kommt zu dem Ergebnis, daß die ältesten Londoner
Urkunden „in den wesentKchsten Punkten die Züge der westsächsischen
Schriftsprache der Übergangszeit", aber „mit mannigfachen mundart-
lichen, namentlich südostsächsischen Elementen durchsetzt" erkennen
lassen (S. 81). Dieser „südöstlich-sächsische Charakter der älteren Sprache
Londons ist noch in der Proklamation vom Jahre 1258 im wesent-
lichen erhalten, v/enngleich hier schon mittelländische Laute und Formen
einzudringen anfangen. Im 14. Jahrhundert gewinnt der anglische Ein-
fluß so sehr die Oberhand, daß fortan die Londoner Sprache ein vor-
wiegend mittelländisches Gewand trägt, das sie bis auf den heutigen
Tag behalten hat" (S. 82). Es wird aus Dölies Darstellung nicht klar,
in welcher Grafschaft oder welchen Grafschaften er sich den Hauptsitz
dieses „ südlich-sächsischen " bzw. „ südostsächsischen " Dialektes (S. 90)
denkt, der den Grundstock für die Londoner Sprache abgegeben haben
soll. Aber da er, wie Morsbach, ausdrücklich von dem „sächsischen
Süden" (S. 82) spricht, dürfte er Sussex, Surrey und Middlesex im
Auge haben.
Neue Pfade schlägt W. Heuser in seiner belangreichen Programm-
arbeit AlÜondon, mit 'besonderer Berüchsiclitigung des Dialekts (Jahresber.
d. Realgymn. Osnabrück 1914) ein. Er bezweifelt zunächst (S. 20), daß
der in der königlichen Kanzlei hergestellte, zur Versendung an alle
Grafschaften bestimmte Erlaß von 1258 tatsächlich die Londoner Volks-
sprache darstelle, und betont, daß die handschriftliche Überlieferung der
Verse des Londoners Adam Davy wahrscheinlich gar nichts mit der
Hauptstadt zu tun habe, so daß sich nur die Reime als Dialektkriterium
verwerten lassen. Zudem seien beide Texte sehr wenig umfangreich.
Die zahllosen Londoner Urkunden sind leider in dem älteren Ab-
schnitt der mittelenglischen Periode meist lateinisch, später auch fran-
zösisch geschrieben; die ersten englischen Urkunden setzen erst 1375,
also in Chaucers Zeit, ein. Aber in dem Ungeheuern Namenmaterial
jener lateinischen und französischen Urkunden und sonstiger Quellen-
werke, ihren zahllosen Personen-, Orts- und Straßennamen, haben wir
29
ein wichtiges Hilfsmittel zur Feststellung der alten Londoner Mundar*-
Es ist das Verdienst Heusers, dasselbe in der genannten Arbeit zuerst
für die Dialektforschung nutzbar gemacht zu haben. Leider hat er
dabei Dölles Arbeit, deren Resultate mit den seinigen teils in Überein-
stimmung, teils in Widerspruch stehn, unbeachtet gelassen.
Durch eine Vergleichung der Sprache der Urkundensammlungen
von London und Essex kommt Heuser zu dem wichtigen Ergebnis, daß
London als alte Hauptstadt von Essex zum ostsächsischen
Dialektgebiet gehörte. Als Hauptmerkmale dieses Dialekts
stellt er die folgenden auf:
1) Ae. ce jedes Ursprungs wird ostsächs. ä, während die
andern Mundarten dafür einen offenen oder geschlossenen e - Laut haben ;
z. B. s^rä^ 'street*, tnäd 'mead'; häth'^hea.th\ c?äwe 'clean', sä 'sea', das
besonders in zahlreichen Personennamen auftritt, u. a. Bis 1300 herrscht
ä entschieden vor; doch treten daneben frühzeitig e- Formen auf, die
von 1300 an ä allmähhch zurückdrängen.
2) Der i-Umlaut von a vor Nasalen erscheint als a, das
auf ae. ce zurückweist gegenüber gemeinae. e. Z. B. imny 'peny', fan
' ien\ dane (sie. dene) 'Tal', ivanden 'sich wenden', Thamis 'Thames'
u. a. (Vgl. auch Morsbach Me. Gr. § 108, A. 1.) Daneben e- Formen,
die im 14. Jahrhundert herrschend werden.
3) Die Gruppe germ. -ald erscheint ostsächs. als -eld (aus ae.
-eald): eld 'old', chcld 'cold', iveld 'Weald'. Mittelländ. -öld (aus ae.
ald) gelangt erst nach 1375 in London zur völligen Herrschaft.
4) Die normale Entsprechung von ae. y (/- Umlaut von rc)
ist in Essex und London in der älteren mittelengl. Zeit e,
das schon bei Beginn der Periode durchaus herrscht: crepel (ae. crypel
'cripple'), 2^et {2ie.pyt 'pit'), melle (ae. myleti 'milF). Der Übergang
von y zu e, der in Kent um 900 einsetzt (s. oben S. 10), hat sich also
offenbar noch in spätae. Zeit über die benachbarten Grafschaften aus-
gebreitet. Wortformen wie hesy, Jcessen, lest, dent bei Chaucer, die man
früher für Kentizismen hielt, werden deshalb von Heuser mit Recht als
Nachklänge der älteren Londoner Volksaussprache aufgefaßt. Doch be-
gegnen neben e von Anfang an u und i: hregge- hrugge- hrigge, in London
häufiger, in Essex seltner; schließlich siegen die i- Formen. Nur in hüll
(ae. hyll ' hiir) und -bury {sie.byrig, dat. v. hurg) überwiegt in London
u und wird bald absolut herrschend; in -hury hat es sich in der Schrei-
bung bis heute erhalten, hüll ist zu Anfang des 16. Jahrhunderts durch
h.ill ersetzt worden. Essex hat in beiden Wörtern e, aber u in hruge
' Brücke*.
5)Ae. eoistostsächs. le neben e: lief-Uf (ae. Uof), ried (ae. hreod
'reed'), fliet (aq. feot).
Alle diese Merkmale des ostsächsischen bzw. Londoner Dialekts
findet Heuser in den sogen. Mittelkentt sehen Evangelien, jener im
12. Jahrhundert entstandenen modernisierten Abschrift der westsächsi-
schen Bibelübersetzung, und in dem um 1200 geschriebenen religiösen
Traktat Vices and Viriues wieder, die er deshalb für die ältesten
30
Londoner Sprachdenkmäler bält (S. 34. 46f. 60). Ferner möchte
er die Versromanzen Arthoiir and Merlin und King Alisaumler, sowie
die Novellensamralung TJie Seven Sages nach London verlegen (S. 60 f.).
Dagegen kommt Wyld (Essays and Studies by Members of the Engl.
Assoc. 6, 133; 1920) zu dem Ergebnis, daß der Text von Vices and
Vertues nicht in London, noch in Middlesex, sondern sehr wahrschein-
lich in Nordost-Essex, in der Gegend von SafFron Waiden, ge-
schrieben wurde.
Ein Schüler Luicks, Otto Strauß, hat seitdem in seiner Disser-
tation über Die Sprache der mittelenglischen Predigtsammlung in der
Handschrift B. IL 52 des Trinity College, Cambridge (Wiener Beiträge
45 ; 1916) nachgewiesen, daß auch der um 1200 schreibende letzte Schreiber
dieser irühmittelenglischen HomiHensammlung dem ostsächsischen
Dialekt angehörte. Er schreibt ä für ae. m, e neben i für ae. y, le für
ae. eo, e für ae. ea vor Id (s. Strauß 135 u. 39).
Nach Luick (Hist. Gr. § 362, A. 4) hat sich der ostsächsische
Lautwandel von^ zu ä vor oderumllOOvollzogen; an der
Verdumpfung des ae. ä zu 5 nahm dies neu entstandene ä nicht mehr teil.
Heuser ist noch in den oben (S. 7 ff.) bekämpften Anschauungen
von den Stammesdialekten befangen. Indem er der Ausdehnung
des eigentümlichen, der gemeiuenglischen Entwicklung widersprechenden
tib-^rgangs von ae. ^ zu ä nachgeht, kommt er zu dem Ergebnis, daß
dieses „südöstl. ä nur in bestimmten Grafschaften auftritt, welche mit
Essex und Middlesex ein zusammenhängendes Gebiet nördlich der
Themse bilden" (S. 37). Dies ä- Gebiet umfaßt die Grafschaften
Essex, Middlesex, Hertford, Bedford, Huntingdon und
vielleicht auch Cambridgeshire (S. 37). Heuser meint nun (S. 37):
„Der Umstand, daß die Verbreitung des südöstl. a genau an den Grenzen
von East-Anglia Halt macht, legt die Vermutung nahe, daß wir es hier
mit einem spezifisch ostsächsischen Kriterium zu tun haben, im
Gegensatz zu dem AngHscheö ebenso wie zum Westsächsisch- Ken tischen.
Dann aber würde die landläufige Ansicht falsch sein, daß Hertford,
Bedford, Huntingdon anglischen Sprachcharakter haben, den man be-
kanntlich dem ganzen Ostmittellande — außer Essex — zuschreibt."
Daß dieser Lautübergang im alten Essex wurzelt, ist wohl richtig. Aber
aus dem ostsächsischen Grundcharakter dieses Lautwandels läßt sich
keineswegs schheßen, daß jenes ganze ä- Gebiet alter sächsischer Stammes-
boden sein müsse ; er kann sich sehr wohl von sächsischem auf benach-
bartes anglisches Gebiet ausgebreitet haben. Daß der Wandel „genau
an den Grenzen von East-Anglia Halt macht ", ist nicht richtig : er greift,
wie Heuser S. 41 und 43 selbst zugibt, auch nach Suffolk über; und
von Middlesex aus ist er südlich der Themse außer nach Surrey (4 Fälle)
vereinzelt (in 2 Fällen) auch nach Kent vorgedrungen (S. 42).
Aber Heuser möchte nicht nur die oben genannten Grafschaften,
sondern den größten Teil des Ostmittellands überhaupt dem sächsischen
^prachgebiet zuweisen. Er stützt sich dabei auf eine interessante Beob-
31
s
achtung über die Verbreitung zweier Flurnamen: der ae. femi-
ninen ?('-!Stänime oyi'^d 'Wiese' und hJ's 'Weide' (Gen. mädtve, Icfstve).
Nach Heusers Feststellung (S. 37. 42 — 45) sind diese beiden Ausdrücke
in me. Zeit im ganzen Süden und im südlichen Mittelland (von Glouc.
bis Essex) in der Form onede, östl. mädc, und lese, östl. läse, dagegen
im ganzen West- und Nordmittelland (von Heref. und Worc. über Lanc.
nach Line), sowie in Cambr. und Ostanglia in der Form medwe und
Icsive verbreitet, während die zentralen Grafschaften schwanken: Northp.
und besonders Hunts, bevorzugen medc (neben mäde), lese, Warw. medive,
leswe ^). Heuser meint nun, daß das ganze mittelländische mede-, lese-
Gebiet „sächsischen Sprachcliarakter hatte und nicht anglischen, daß
also eine Grundanschauung der me. Grammatik irrig" sei (S. 38). Aber
er fügt selbst zögernd hinzu : „ Ob auch die alte historische Überlieferung,
daß die Angeln das mittlere England besiedelt haben? Das ist eine
ganz andere Sache, denn es ist ja durchaus möglich, daß die spät und
dünn besiedelten mittleren Graliächaften des alten Merciens die über-
legene Sprache und Kultur der Ost- und Westsachsen angenommen haben/'
Nein, aus der Verbreitung dieser beiden Flurnamenformen ergibt sich
keineswegs, daß die Mittelangeln die sächsische Sprache als Ganzes an-
genommen, sondern nur, daß die in Südengland gebräuchlichen Formen
jener Wörter sich bis weit ins Mittelland, verbreitet hatten. Erstrecken
sie sich doch auch bis nach Suffolk hinein (Heuser 41). — Auch te für
ae. eo (in ried, ae. hreod) greift übrigens nach Suffolk über (S. 41).
Mit Unrecht versucht man immer wieder, auf Grund der Verbrei-
tung solcher sprachlicher Einzelerscheinungen nicht bloß Dialektgebiete,
sondern sogar alte Stammesgrenzen festzulegen. In Wahrheit handelt
es sich hier überall nur um geographische Verbreitungskurven
einzelner Laut- und Wort formen, die sich in den seltensten
Fällen genau miteinander decken. So deckt sich z. B. das südöstl. Gebiet
von ä für '7' durchaus nicht mit dem gleichfalls südöstl. Gebiet von e
für y : Kent hat e, aber nicht ä, Hunts, umgekehrt «, aber nicht e. Auch
das Gebiet des ä und des a vor Nasal decken sich nicht: Hunts, kennt
das a vor Nasal nicht.
7. Der Übergang zur Gemeinsprache
Morsbach hat in seinem schon erwähnten Buch Uher den Ur-
sprung der neuengli selten Schriftsprache (1888) überzeugend dargetan,
1) Die Doubl etten me. viede - medive {ne.mead-meadou-) und me. lese-lesnc
galten bisher allgemein für flexivische Doppelformen : me. werfe (ne. mead) uud me.
lese wurden al.s Fortsetzungen der altengl. Nominative , me. med/ce (ue. meadoic) und
me. kswe als Fortsetzungen der altengl. Akkusativo angesehen. Emerson hat kürz-
lich (MLNotes 35, 147; Murch 1920) nachgewiesen, daß auch mede (mcad) und lese
auf alte Akkusative zurückgehn, und zwar auf analogische Neubil-
dungen nach der ö-Deklination, die schon in altengl. Zeit eingetreten waren :
ae. 7nml - mfrde, Itps-läse nach är-äre, nirdl - ncrdle. Emersous Beobachtung, daß die
me. Formen durchweg mede, lese, nicht med, les lauten, wird durch Heusers Beleg-
material bestätigt.
32
daß die Wiege der heutigen englischen Schriftsprache in der Hauptstadt
stand. Aber diese Londoner Gemeinsprache kennt nichts
mehr von den erwähnten auffallenden ostsächsischen Eigen-
tümlichkeiten der alten Londoner Volksmundart. Chaucer im letzten
Drittel des 14. Jahrhunderts hat nur noch e für y in größerem Umfang
bewahrt. Die andern ostsächsischen Eigentümlichkeiten sind im Lauf
des 14. Jahrhunderts sämtlich geschwunden, und auch e für tj ist um
1400 fast ganz durch i verdrängt.
Heuser erklärt dieses Schwinden der ostsächsischen Formen in der
Hauptsache durch Vordringen des „Westsächsischen" (S. 49 ff.); aber
dieser beliebte alte Stammesausdruck ist zu unbestimmt, da er sowohl
südliche wie südmittelländische Bezirke umiaßt. Es handelt sich hier im
allgemeinen wohl um einen Einfluß der westlich an Middlesex angren-
zenden Gebiete des süd hohen Mittellands. Die Verdrängung von ostsächs.
-eld durch -pld aber wie auch die von ostsächs. müde durch medowe',
ne. meadow kann nur vom angiischen Mittelland ihren Ausgang genommen
haben (s. oben S. 32); auf welchem Wege dies geschah, müßte wohl
noch näher untersucht werden.
Zur Erklärung des Schwankens zwischen e, u, i für ae. y
im Londoner Dialekt und der schließUchen Verdrängung des an-
gestammten südöstl. e durch i sieht Heuser von der Annahme eines Ein-
dringens des i aus dem halbdänischen Norden oder Nordostmittelland,
wo reines i frühzeitig zur völligen Herrschaft gelangt war, ab, weil dafür
jede verbindende Brücke fehlt. Er erklärt sich den Kampf zwischen u
und i, der nach den Untersuchungen von Wyld und Brandl in den
ganzen mittleren und südheheu Grafschaften beobachtet werden kann,
vielmehr aus einer allgemein vorhandenen spontanen Neigung
zur Entrundung, die auch in dem südöstl. Übergang von y zu. e
zum Ausdruck gelangt, und die auf dem größten Teil des übrigen Sprach-
gebiets schließlich zum Sieg des i führte. Diese spontane Neigung zur
Entrundung des y zu i, die nach Luick (Hist. Gr. § 287) auf einem
großen Teil des Sprachgebiets schon im 10. und 11. Jahrhunderts er-
folgte, hat im Lauf der mittelengl. Zeit jedenfalls immer weitere Kreise
gezogen. Heuser meint nun (S. 52), das dialektische östliche e in London,
sei durch das von Westen eindringende gemeinengl. y allmählich zurück-
gedrängt, und dieses sei dann zu i entrundet worden. So werde die
relative Schwäche von u in London und sein rasches Verschwinden ver-
ständlich ; auch die Herrschaft von u in Imll und hury, wo der gerundete
Laut durch die konsonantische Umgebung erhalten wurde, stehe dann
nicht mehr als Anomalie da, sondern als der erste Sieg des westlichen
Lauts.
Den ausgesprochen mittelländischen Charakter der Schriftsprache,
der allmählich immer stärker wurde, erklärt Heuser zum Teil aus der
Lage der Hauptstadt auf dem Nordufer der Themse: der Londoner
Dialekt und wohl der ostsächsische überhaupt habe von
Anfang der me. Periode an einen mittelländischen Grundzug
gezeigt, so z. B. in der strengen „ Erhaltung des -n der Endungen, welche
"Wissenschaftliche Forschiinjiis'berichte IX. 3
33
die Vices und Virtues mit Orm wie mit Genesis und Exodus gemein
haben" (S. 54). Für die Beseitigung der speziell ostsächsi-
schen Dialektmerk male sei der Umstand bedeutsam gewesen, daß
London an der Berührungsstelle des Ostsächsischen und
Westsächsischen lag, der beiden wichtigsten Dialektformen, welche
die ae. Schriftsprache fortsetzten , während die eigenartige , allväterliche
Mundart des ebenfalls benachbarten Kent, südlich der Themse, dem
hauptstädtischen Dialekt gegenüber in merkwürdiger Abgeschlossenheit
verharrte. Nur die Form isen (in iscnmongere) hat London mit Kent
gemein. Der besondere Charakter Londons als Residenzstadt und Han-
delszentrale, als Sammelpunkt des Adels und der Geistlichkeit, der bür-
gerlichen und abenteuerlichen Elemente aus ganz England aber hat nach
Heuser die sprachliche Entwicklung in rascher Bewegung gehalten. So
habe sich durch einen natürlichen Auslese- und Entwick-
lungsprozeß in der Hauptstadt von selber allmählich eine fei-
nere städtische Aussprache herausgebildet, indem unter der
Führung der höheren Schichten die alten dialektischen Eigenheiten ab-
gestoßen und das Lebenskräftigste von allen Seiten aufgenommen wurde
(S. 49. 55). Hierdurch, nicht durch eine allmählich südwärts dringende
„Anglisierung", erklären sich gewisse nördliche Züge der Schriftsprache,
die sich um 1400 bereits zu einem ausgeglichenen Verkehrsmittel ersten
Ranges entwickelt hatte. Mitten in die Zeit dieses Läuterungsprozesses
sei dann durch Schicksalsfügung der große Londoner Chaucer getreten,
der dieser aus praktischen Bedürfnissen erwachsenen Gemeinsprache von
vornhereio den Charakter einer allbeherrschenden Literatursprache ge-
sichert habe (S. 56).
Die letztere, auch sonst weitverbreitete Auffassung, daß Chaucer die
Londoner Gemeinsprache zur Literatursprache erhoben und ihr dadurch
zum Siege verholfen habe, wird durch eine gründliche und tüchtige Unter-
suchung eines Schülers von Luick, Friedrich Wild, über Die spnicli-
lichen Eigentümlic-liheiten der wichtigeren Chaucer-Handschriften und die
Sprache Chaucers (Wiener Beiträge 44 ; 1915) widerlegt. Wild konnte
Pleusers Feststellung des ostsächsischen Charakters der alten Londoner
Sprache nicht mehr verwerten. Er knüpft an Morsbachs und DöUes
Ergebnisse an, daß die Einwohner Londons ursprünglich ein sächsisches
Patois sprachen, daß aber im Lauf des 14. Jahrhunderts mehr und mehr
mittelländische Bevölkerungselemente in London eindrangen und die
]\Iundart der Hauptstadt umgestalteten. Er vergleicht nun die Sprachen
der wichtigeren Chaucer-Handschriften mit dem Lautstand der Reime,
worin des Dichters eigne Aussprache zutage tritt, und er erkennt, daß
die Sprache der Handschriften außerhalb der Reime ebenso
wie die der Londoner Urkunden einen jüngeren Typ darstellt
als die Sprache der Reime. Wild zieht daraus den Schluß, daß
Chaucer ebenso wie die Hof kreise noch das altmodische sächsische
Patois sprach, das nur geringe mittelländische Elemente enthielt, wo-
gegen die jüngere Generation eine stärker mittelländisch getarbte Sprache
redete.
31
Zur Erklärung dieser Veränderung des hauptstädtischen Idioms weist
Wild darauf hin, daß die Pest der Jahre 1361, 1369, 1375 und der
Aufstand Wat Tylers 1381 wahrscheinlich einen großen Teil der Be-
völkerung Londons hinwegrafften, während anderseits der darauffolgende
wirtschaftliche Aufschwung zahlreiche Personen aus dem benachbarten
Mittellaud in die Hauptstadt lockte. Dadurch vollzog sich im Londoner
Dialekt ein großer Umschwung, der in den seit etwa 1384 einsetzenden
Londoner Urkunden schon klar hervortritt, während die Sprache Chaucers,
die wohl in den sechziger und siebziger Jahren bereits vollständig aus-
gebildet war und sich von späteren Einflüssen freihielt, noch die älteren
Formen hat.
In den uns erhaltenen Chaucer-Handschriften, deren älteste erst nach
1420, also mehrere Jahrzehnte nach des Dichters Tod, entstanden sind,
haben die Schreiber die altmodischen Formen in großem Umi'ang durch
die jüngeren, zu ihrer Zeit geltenden ersetzt; aber die Reime konnten
sie nicht ändern, und diese bezeugen die konservative Sprechweise des
Dichters.
Der Londoner Sprache wurde also nicht durch die Sprache der
Chaucer-Handschriften ihr Weg vorgezeichnet, nicht durch einen
einzelnen wurde der englischen Schriftsprache ihr Gepräge
verliehen, sondern die jüngere Londoner Gemeinsprache
ist erst sekundär in die Manuskripte der Chaucerschen
Dichtungen eingedrungen.
8. Die heutige Umgangssprache
Als Henry Sweet 1885 sein Elementarbucli des gcsproclienen
Englisch herausgab, bediente er sich für seine phonetischen Transskrip-
tionen der ihm geläufigen gebildeten Londoner Aassprache, aber es lag
ihm fern, damit eine mustergültige Norm für das beste Englisch aufzu-
stellen; er wollte nur ein getreues Abbild des von Gebildeten, und in erster
Linie von ihm selbst, gesprochenen Englisch geben. Trotzdem wurde
sein Buch als vermeintlicher Versuch, das Londoner Englisch als Muster
der Gebildetensprache hinzustellen, bald heftig angegriffen. 1899 ver-
öffentlichte Lloyd sein Northern English, worin er sich zu Sweet in
bewußten Gegensatz stellte. Auch er wollte zunächst seine eigne Aus-
sprache wiedergeben; aber das Englisch, das er schrieb, war nicht das
Sweetsche Südenglisch, sondern die Sprache der Gebildeten Nordeng-
lands zwischen Birmingham und Durham. In verschiedenen Aufsätzen
betonte er nachdrücklich die Überlegenheit der nördlichen Aussprache.
Seitdem ist die Idee von der Überlegenheit des Nordenglischen immer
allgemeiner durchgedrungen und wiederholt von bekannten englischen
Phonetikern, Dichtern und Schriftstellern öffentlich ausgesprochen worden.
In einem Aufsatz über Northern English or London English as
the Standard Prommciation (Anglia 38, 405; 1914) hat Zachrisson
diese Ansprüche des Nordenglischen vom sprachgeschichtlichen und pho-
netischen Standpunkt aus einer eindringenden Kritik unterworfen. Er
3*
85
weist an der Hand einer Reihe von Zeugnissen nach, daß das Londoner
Englisch im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts die Literatursprache
wurde und diese Stellung seitdem behauptet hat. Schon damals scheint
man in den Provinzen begonnen zu haben, das Londoner Englisch nicht
nur in der Schrift, sondern auch beim Sprechen nachzuahmen. Im 16.
und 17. Jahrhundert setzte sich das Londoner Enghsch auch in der
Umgangssprache immer mehr durch. Wahrscheinlich wurde es mehr in
großen Städten als in kleinen Provinzialorten.^gesprochen. Im 18. Jahr-
hundert muß es als mustergültige Umgangssprache aligemein anerkannt
gewesen sein, da es von Orthoepisten aus allen Gegenden Englands ge-
lehrt wird Provinzielle Aussprachen, die sich von der Mustersprache
unterschieden, wurden als minderwertig angesehen. Das Nordenglische
ist somit nur ein Ableger des Englisch der Hauptstadt. Die These von
seiner Überlegenheit hat nach Z. keine historische Berechtigung.
Aber selbst wenn man zugibt, daß das Londoner Englisch einstmals
das beste und reinste Englisch war, und daß das Nordenglisch nur eine
Abart der hauptstädtischen Gemeinsprache ist, so könnte doch vielleicht
jemand behaupten, daß diese reine Form des Englischen sich eben im
Nordenglischen unverfälscht erhalten habe, während sie in dem modernen
Londoner Englisch durch die Cockney- Vulgarismen der niederen Klassen
entstellt wurde. Das Nordenglische stelle einen einheitlichen Typus dar
und sei dem Londoner Englisch phonetisch überlegen. Zachrisson sucht
auch diesen Einwand zu entkräften, wobei er sich auf Untersuchungen
von Lloyd und Wyld und besonders auf einen „extremely interesting
and valuable article'^ von Schröer über Das Problem und die Dar-
stellung des Standard of „SpoJcen English" (GRM. 4; 1912) stützt. Er
kommt zu (ioni Ergebnis (S. 430), daß die Vorstellung von der Über-
legenheit des Nordenglischen auch phonetisch unberechtigt sei; denn seine
phonetische Eigenart gehe nicht bloß auf das alte Londoner Englisch
zurück, sondern entstamme noch einer Menge andrer Ursachen: dia-
lektischen, orthographischen Einflüssen usw.
Das Londoner Englisch brauche deshalb seinen gerechten, ange-
stammten Anspruch, als das mustergültige Englisch angesehen zu werden,
nicht aufgeben. Es sei der Urquell aller Formen der Gebildetensprache
in den Provinzen; es übe immer noch einen bedeutenden Einfluß auf
das Provinzialenglisch aus. und es scheine auch einheitlicher im Typus
zu sein als das Nordenglische.
9. Weltsprach-Dialekte und Welt -Gemeinsprache
Aber die Frage nach einer mustergültigen Norm für das beste
Englisch muß jetzt, wo England ein ^^'eltreich, die englische Sprache
eine Weltsprache geworden ist, von einem höheren Gesichtspunkt als
dem intern englischen betrachtet werden. 1 )urch den Weltkrieg haben
sich die englischen Kolonien zu selbständigen Nationen erhoben, die sich
mit dem Mutterland zu einer 'Commonwealth of Nations called the
British Empire' vereinigt haben. Sie werden bald auch hinsichtlich der
36
Sprache ihre Gleichbereclitigung geltend machen. Die älteste Tochter,
die sich politisch bereits vor 140 Jahren von der Mutter loslöste, be-
ginnt in neuster Zeit auf literarischem und sprachlichem Gebiet schon
trutzig ihr Haupt zu erheben und eigne Wege zu wandeln.
In einem groß angelegten, kühnen Entwurf hat H. L. Mencken,
vielleicht der begabteste und zukunfti'eichste unter den jüngeren ameri-
kanischen Kritikern, TJie American Language darzustellen versucht
(l. Aufl. 1919, 2. erweiterte Aufl. 1921; New York, Alfred A. Knopf).
Wie der Titel sagt, nimmt er für das Englisch, das in Nordamerika
gesprochen wird, den Rang einer selbständigen Sprache in Anspruch.
Das ist sicher sensationell übertrieben: so weit ist die Differenzierung
des amerikanischen Englisch von der Muttersprache noch nicht vor-
geschritten. Aber daß das Englische auf amerikanischem Boden im
Lauf der Jahrhunderte und namentlich in neuster Zeit ein kräftige
dialektische Eigenart entwickelt hat, die sich sowohl im Wortsciiatz wie
in der Aussprache und Grammatik kundgibt und auch dem Laien viel-
fach in die Augen springt, kann nicht bezweifelt werden. Und wer
dennoch daran zweifeln sollte, daß das amerikanische Englisch eine durch-
aus eigenkräftige Abart der englischen Spraahe darstellt, dem wird das
ungeheuer reiche, von Mencken gesammelte Material die Augen öffnen.
Gewiß ist es nicht schwer, vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt an
dem Buch Kritik zu üben und Ausstellungen zu machen; aber dem
eigentlichen Wert des Werkes wird dadurch kein Abbruch getan. Es
ist Menckens Verdienst, auf Grund jahrelanger Sammlungen und For-
schune;en zum erstenmal eine umfassende Darstellung der Entwicklung
und Eigenart des Englisch in den Vereinigten Staaten gegeben zu haben.
Die Ursprünge und das Wachstum des amerikanischen Dialekts, seine
Unterschiede von der Muttersprache im Wortschatz, in der Aussprache,
Schreibung, Formenlehre, Syntax und Namengebung, die in ihm wirken-
den Tendenzen, die wechselseitigen Beziehungen und Beeinflussungen
des britischen und amerikanischen Englisch und die Zukunftsaussichten
beider werden in anziehender Weise besprochen und kritisiert. Die Dar-
stellung ist immer frisch und lebendig. Es ist ein Buch, das nicht nur
dem Schriftsteller und Gebildeten im allgemeinen, sondern auch dem
Sprachforscher eine Fülle von interessantem Stoff und von anregenden
Bemerkungen bietet.
Von den übrigen Teilen des englischen Sprachgebiets außerhalb
Großbritanniens hat besonders das irische Englisch eine Reihe merk-
würdiger Besonderheiten aufzuweisen. Sie sind von James M. Clark
in einer interessanten, populär geschriebenen Studie ül)er The Vocabulary
of Anglo-lrish (Wiss. Beilage d. 17. u. 18. Jahresber. d. Handelshoch-
schule St. Gallen; 1915/16 u. 1916/17) zusammengestellt. Die Schrift
bietet mehr, als der Titel erwarten läßt. Der Verfasser entwirft zu-
nächst eine allgemeine Charakteristik des Anglo-Irischen und schildert
die Eigenarten der Aussprache, des Akzents und der Grammatik. Dann
geht er zum Y/ortschatz über und handelt nacheinander iiber keltische
Lehnwörter; über Relikte aus älterer Zeit, die in der heutigen englischen
37
Gebildetensprache untergegangen sind und höchstens noch in englischen
oder schottischen Dialekten leben; über nordenglische oder schottische
Dialektwörter, die niemals schriftsprachlich waren; endlich über Slang
und Neubildungen.
Der fortschreitenden Differenzierung der Dialekte der englischen
Weltsprache arbeitet der zunehmende Weltverkehr mit seiner völker-
mischenden und ausgleichenden Tendenz entgegen. Die Ausbildung der
Dialekte wird in den verschiedenen Gebieten der angelsächsischen Welt
vornehmlich in den bodenständigen untern Schichten der Bevölkerung
vor sich gehn, während unter den beweglicheren obern Schichten sich
eine übernationale angelsächsische Gemeinsprache ausbilden wird. Bei
der Prägung dieser englischen Weltgemeinsprache werden auch die Do-
minions und vor allem die Vereinigten Staaten ein gewichtiges Wort
mitzureden haben. Ob dabei das Londoner Englisch den Grundton ab-
geben wird, ist immerhin fraglich. Die jetzigen Gemeinsprachen der
Gebildeten in den Vereinigten Staaten und den britischen Dominions haben
jedenfalls nicht das Londoner Idiom als hauptsächliche Grundlage. Unter
diesen Umständen ist es auch fraglich, ob in dem Kampf zwischen Nord-
und Südenglisch innerhalb Großbritanniens dem letztern uneingeschränkt
die Zukunft gehört. Die Verhältnisse haben sich in dem Zeitalter des
Weltkriegs und Weltverkehrs gegen früher doch etwas verschoben.
II. Wo r t k u n d e
1. Lexikographie
Das große Oxforder historische Wörterbuch der englischen Sprache,
A New Englisli Dictionary on HistoHcal Principles, hat durch den
Tod seines Begründers und Hauptleiters Sir Jafnes Murray am
26. Juli 1915 einen schweren Verlust erlitten. Mit einem großartigen
Organisationstalent, einer streng philologischen Gelehrsamkeit und einem
gesunden Urteil für seine Autgabe ausgerüstet wie kein zweiter, hat
er das große Werk durch drei Jahrzehnte mit eisernem Fleiß und be-
wundernswerter Aufopferung geleitet. Mit erstaunlicher Pünktlichkeit
erschien jedes Vierteljahr eine Lieferung, die in engem Druck auf
großem Format eine Fülle von Stoff vereinigte. Und wenn es dem
ehrwürdigen Mann mit dem langen weißen Bart nicht mehr vergönnt
gewesen ist, sein Lebenswerk vollendet zu sehen, so war doch die Fort-
führung so gut vorbereitet, und die weitere Leitung befand sich in so
bewährten Händen, daß er die Feder mit der sichern Zuversicht auf
baldige Fertigstellung des Ganzen aus der Hand legen konnte. W^enn
auch nicht mehr ganz mit der gleichen Regelmäßigkeit wie früher, ist
das große Werk doch auch nach Murrays Tode trotz Krieg und allem
mit festen Schritten in den bewährten 13ahnen weiter gegangen. Von
Oktober 1914 bis Juli 1921 sind die folgenden Lieferungen erschienen:
38
Speech — Sqtioyle von W. A. Craigie; St—Styx von Henry Bradley;
Su — Ssmihite von C. T. Onions; Trinh — Tzirid von Sir James A.
H. Murray, JJ — Unforseeahle von W. A. Craigie; V — Vyiver von
W. A. Craigie; W — Wasli von Henry Bradley; X — Zyxt von
C. T. Onions. Es bleibt jetzt nur noch die Arbeit an den Buchstaben
U und W durchzuführen, dann ist das monumentale Werk vollendet.
Ein andres großes lexikalisches Unternehmen ist. kürzlich nach fast
vierzigjähriger Arbeit (1882 — 1921) abgeschlossen worden: Bosworth-
T oller, An Änglo-Saxoti Didionary (ÖKi'ovd, Ciavendon Press). 1916
erschien der zweite, 1921 der dritte und letzte Teil des „Supplement".
Damit liegt nun diese umfassende Sammlung des angelsächsischen Wort-
schatzes vollendet vor uns. Sie ist ja nicht gleichwertig in allen ihren
Teilen; der erste, noch von Joseph Bosworth besorgte Abschnitt
(etwa von Ä — F) war schon zur Zeit seines Erscheinens nicht ganz
auf der Höhe der sprachwissenschaftUchen Forschung und in der An-
ordnung des Stoffs zeigten sich verschiedene Mängel, die dem Fortsetzer,
Prof. T. Northcote Toller, seine Arbeit erschwerten. Aber Toller
hat dann alles getan, um in den weiteren Lieferungen den heutigen
wissenschaftlichen An t orderungen zu entsprechen, und im Nachtrag hat
er die Lücken des Hauptwerks unter Ausnutzung aller ihm zugäng-
lichen Quellen nach Möglichkeit auszufüllen sieh bemüht. Mit Befriedi-
gung darf er auf den Abschluß dieses seines Lebenswerks schauen,
das noch auf lange hinaus die unschätzbare Grundlage für alle For-
schungen auf dem Gebiet der angelsächsischen Sprache und Literatur
bilden wird.
Ein kleineres angelsächsisches Wörterbuch hat während des Kriegs
eine 2. Auflage erlebt: John R. Clark Hall, Ä Concise ÄngJo-Saxon
Dicfionary for the Use of Students (Cambridge, Univ. Press, 1916).
Der ersten Auflage hafteten zahlreiche Mängel an, so daß das Buch
gegen Henry Sweet' s The Süidenfs Dictionary of Anglo-Saxon (Ox-
ford 1897) nicht aufkommen konnte. Hall ist redlich bestrebt gewesen,
diese Mängel in der 2. Auflage zu beseitigen, und da er außerdem die
Zahl der aufgenommenen Wörter erheblich vermehrt und viele derselben
durch knappe Quellenangaben belegt hat, wird man in Zukunft das
Buch zur Benutzung durch die Hand der Studenten unbedenklich
empfehlen können.
Zur Sammlung des mittelenglischen Wortschatzes ist in den
letzten beiden Jahrzehnten nichts von Belang geschehen. Mätzners
Mittelenglisches Wörterbuch, dessen 13. und letzte Lieferung (bis mis-
hileven^ Berlin, Weidmann) 1900 herauskam, hat keinen Fortsetzer
gefunden. Das einzige vollständige mittelengUsche Wörterbuch, das uns
zur Verfügung steht, ist immer noch Stratmann's 3liddle English Dic-
tionary in der Neubearbeitung von Henry Bradley (Oxford 1891);
aber das ist sehr wenig reichhaltig.
Auf dem Gebiet der neuenglischen Lexikographie ist es sehr zu
begrüßen, daß das vortreffliche Wörterbuch von Grieb-Schröer mit
seinen ausführlichen Bedeutungserklärungen, seinen zuverlässigen Aus-
39
sprachebezeichnuiigen und knappen etymologischen Hinweisen, das auf
unerfreuliche Weise lange Zeit vom Markt verschwunden war, durch
den Mentor- Verlag (Berlin- JSchöneberg) jetzt wieder zugänglich ist. Es
gibt kein Wörterbuch mittlerer Grolle, das man so angelegentlich wie
dieses seinen Studenten empi'ehleri kann. Einen knappen Auszug daraus
hat uns Schröer in seinem Neuenglischen Ausspraclieivörterhuch (Heidel-
berg 1913) besorgt.
2. Etymologie
Kluge-Lutz, English Etymology (Straßburg 1898), lange Zeit
das einzige neuere in Deutschland erschienene etymologische Wörterbuch
der englischen Sprache, hat neuerdings in Ferd. Holthausens kleinenr
Etymologischen Wörterbuch der Englischen Sprache (Leipzig, ßernh.
Tauchnitz, 1917) einen Konkurrenten erhalten. Holthausens Buch ist
einerseits viel reichhaltiger als Kluge-Lutz, da es auch die Lehnwörter
in groliem Umfang heranzieht; anderseits wird der Titel des Buchs
manchen enttäuschen, der etwa genauere Angaben über die etymologi-
schen Verwandtschaftsverhältnisse der Wörter, wenn auch nur in dem
knappen Ausmaß der Bemerkungen bei Kluge-Lutz oder in Skeat's
Concise Etymological Dictionary of the English Language (New Edition,
Oxf 1901), darin suchen wollte. Holthausen gibt nur die alt- oder
mittelenglische Grundform und bei Lehnwörtern das unmittelbare Stamm-
wort an. Außerdem verzeichnet er bei jedem Wort die Aussprache,
allerdings meist nur durch knappen Hinweis auf Betonung und Aus-
sprache des Wurzelvokals. Dann werden die Hauptbedeutungen auf-
geführt. Daß die etymologischen Angaben durchweg zuverlässig und
auf der Höhe der heutigen Forschung sind, braucht bei der Hingabe,
mit der sich Holthausen seit Jahren der etymologischen Forschung ge-
widmet hat, kaum besonders betont zu werden.
3. Bedeutungslehre
Grein und Toller haben sich in ihren großen lexikalischen
Werken um die Sammlung und Erklärung des angelsächsischen Wort-
schatzes die größten Verdienste erworb(^n. Aber jeder, der sich ein-
gehender mit angelsächsischen Texten befaßt hat, wird wohl öfter das
Gefühl gehabt haben, daß hinsichtlich der schärferen Festlegung der
Bedeutung gewisser Wörter doch noch manches zu tun übrig bleibt,
und daß nicht selten die Auffassung wichtiger Stellen von der Deutung
eines Wortes abhängt.
Einen bedeutsamen Beitrag in dieser Hinsicht liefert Levin L. Schü-
cking in seinen Untersuchungen mr Bedeutungslehre der angelsächsischen
Dicldersprache (Heidelberg 1915). Schücking betont, daß vor allem
die Grenze zwischen dem poetischen und dem prosaischen Wortgebrauch
viel schärfer zu ziehen sei, als es bisher meist geschehen ist. Er will
zeigen, „daß erst die Berücksichtigung des allgemeinen Stilcharakters
und der sich aus ihm ergebenden Grundsätze für die Wortwahl in einer
40
so regelfesten und stilisierten Kunstsprache zur richtigen Deutung des
einzelnen Ausdrucks führen kann*'. Die Sprache der Prosa könne viel-
fach nur für die Ansetzung der Grundbedeutung eines Worts in Frage
kommen. Die Wortbedeutung im Mittelenglischen könne wegen des
gänzlichen Abbruchs der Tradition und des Wandels im Stilcharakter
kaum herangezogen werden, in andern Dialekten, wie dem. altsächsi-
schen und altnordischen, viel mehr als etymologische Anhaltspunkte
zu suchen, bleibe gleichfalls in schwierigen Fällen immer gewagt. Unsere
Aufgabe müsse daher sein, die innere Form jener ausgebildeten Kunst-
sprache der angel.'^ächsischen Dichter aus sich heraus zu begreifen, die
Anschauungsweise des Sprechenden nach Möglichkeit zu erfassen und
von ihr bei der Deutung der einzelnen Worte oder Ausdrücke auszu-
gehn (S. Vf.). Zur Ermittlung der zugrunde liegenden Anschauung ge-
lange man durch die Parallelen, die grade in der angelsächsischen Dichtei'-
sprache so ungemein zahlreich sind, und die Grundbedeutung eines Worts
sei nur durch die genaue Untersuchung und den Vergleich aller in Frage
kommenden Stellen zu ermitteln (S. VI).
Schücking stellt fest, daß enge anpaäas keineswegs 'enge Einzel-
wege', daß earm nicht eigentlich 'arm', hliä gewiß nicht überall 'Klippe',
mist offenbar nicht 'Nebel' und mör nicht 'Moor', noch auch stanboga
'Steinbogen' heißt. Diese Nachweise, die an und für sich oft unerheb-
lich erscheinen, gewannen dadurch an Bedeutung, daß teilvveise mit ihnen
„eine Reihe vöüig irriger Vorstellungen über den Inhalt und den Ge-
dankengang angelsächsischer Gedichte beseitigt werden können" (S. VII).
Die Untersuchungen über die Örtlichkeit des Grendelsees z. ß. mit ihren
Schlußfolgerungen betreffs der Komposition des Beoivulf, die archäo-
logische Betrachtungsweise von Stjerna mit ihren Schlüssen, die behauptete
Abhängigkeit der Exodus vom Beoiüulf hängen im Grunde von dem
Bedeutungsansatz einiger bisher nicht genügend auf ihren Sinn hin ge-
prüfter Wörter {mor, stanboga, enge) ab.
Von solchen Erwägungen aiisgehend, hat Schücking eine große An-
zahl von Wörtern auf ihre poetische Bedeutung hin einer erneuten
Prüfung unterzogen, und auf Grund derselben hat er für über 300 Stellen
in zahlreichen angelsächsischen Dichtungen, vor allem im Beoivulf, neue,
von den bisher üblichen abweichende Erklärungen aufgestellt. Sowohl
die von ihm gegebenen Bedeutungsansätze wie die daraus gefolgerten
Schlüs.^e über die Erklärung poetischer Stellen und die Auffassung der
betreff'enden Szenen oder ganzen Gedichte werden manchmal Wider-
spruch erfahren ; das verringert aber nicht die Bedeutung dieser Unter-
suchungen, die voll anregender Vorschläge sind.
Von sonstigen semasiologischen Monographien ist zunächst eine umfang-
reiche Abhandlung von H. O. Schwabe zu nennen: Tlie Semanlic Deve-
lopment of Words for Eat'mg and Drinhing in Germanic (Linguistic
Studies in Germanic 1; Chicago 1915). Die Absicht des Verfassers ist,
„to trace the development in meaning of the idea 'consume by eating
and drinking', as represented in the Germanic dialects". Aber von
einer Bedeutungsentwicklung der Ausdrücke für den Begriff" ' Essen und
41
Trinken' ist in der Arbeit wenig zu spüren. Sie besteht lediglich in
einer mechanischen Aneinanderreihung von zahllosen Ausdrücken für
* Essen und Trinken' ohne jeden verbindenden Text, nur gruppenweis
zusamraengeordnet und mit Überschriften wie ' EatV^ood: Feed, Eat',
*Partake of a Certain Article of Food', 'Pasture: Feed, Graze, Eat'
usw. versehen. Auch eine lautliche Behandlung der Ausdrücke ist nicht
weiter versucht. Der Wert der Arbeit besteht in der fleißigen Samm-
lung eines gewaltigen Materials, und in dieser Hinsicht hat sie ihre
unleugbaren Verdienste.
Auf einem ganz andern Niveau wissenschaftlicher Durcharbeitung
des Stoffs steht eine Studie von Karl Brugmann, Z^«" Wortsippe'' alt'
(PBBeitr. 43, 2, 310; 1918), sowie Zivei sprachliche Aufsätze zur etymo-
logischen und semasiologischen Forschung von Herbert Petersson
(Lund 1917), von denen der erste „Die idg. Wurzeln ^)er- und Jcer-
* sprühen, spritzen' und ihre Ableger '', der zweite „"ishd. bald, geschwind
und schnclV' behandelt. Alle drei Abhandlungen sind bis ins einzelnste
durchdacht und sind auch für die englische Etymologie und Semasio-
logie von erheblichem Belang.
4. Synonymik
Das beste Buch über englische Synonymik ist Gustav Krüger s
Synoyiymili und Wortgehrauch der englischen Spraclie (Dresden u. Leipzig,
1. A. 1897, 2. A. 1910, 3. A. 1920); es bildet den ersten Teil seiner
Schivier igkeiteu des Englischen, das als Gesamtwerk weiter unten gewür-
digt werden wird. Auf 1081 Seiten ist hier ein gewaltiger Stoff zusammen-
getragen und unter 2227 alphabetisch geordneten deutschen Stichwörtern
verarbeitet. Das Buch verfolgt keine sprachgeschichtlichen , sondern
rein praktische Zwecke. Daher ist von Etymologie und historischer
Synonymik ganz abgesehen; es wird nur der heutige Sprachgebrauch
festgestellt. Dabei wird auf knappe, klare Definition besonderes Gewicht
gelegt; alles Phrasenhafte, wie es sich in Crabb's English Synonyms und
andern älteren Werken vielfach breit macht, wird grundsätzlich gemieden.
Der Wortgebrauch wird durch zahlreiche Beispiele erläutert, leider ohne
Verfassernamen und Belegstellen. In einem Anhang ist eine Zusammen-
stellung stamm- und sinnverwandter englischer Wörter angefügt,
gleichfalls in alphabetischer Ordnung. Ein ausführliches Register er-
schließt den reichen Inhalt dieses wertvollen Buchs.
Auszüge hieraus sind Krügers Englische Synonymik. Mittlere
Ausgäbe (ebd., 1. A. 1912, 2. A. 1919) und Die wichtigsten sinnverwandten
Wörter des Englischen (1911). Beide sind kritische Auslesen für Unter-
richtszwecke: die zweite ist eine kleine Schulsynonymik, die erste soll
Studierenden und Seminaristen als Einführung in die Synonymik dienen.
Während Krügers Bücher die englischen Synonyma vom Stand-
punkt des Deutschen aus betrachten, ist das Werk des Holländers
J. H. A. Günther, English Synonyms cxplained and illustraied (Gro-
ningen, J. B. Wolters, 1. A. 1904, 3. A. 1917), in engüscher Sprache und
42
vom englischen Gesichtspunkt aus geschrieben. Von vereinzelten Hin-
weisen auf das Holländische abgesehen, gibt es keine Übersetzungen,
sondern nur Umschreibungen und vor allem eine Fülle von Beispielen
aus der Literatur der letzten 50 Jahre zur Erläuterung des Gebrauchs
der sinnverwandten Ausdrücke. In dieser ausgiebigen Beispielsaramlung
liegt der Hauptwert des Buchs. Leider werden bei den Beispielen nur
die Namen der Schriftsteller, nicht die genaueren Belegstellen angeführt,
so daß eine Nachprüfung unmöglich ist. Ein Deutscher wird im all-
gemeinen Krügers Synonymik den Vorzug geben, weil darin der ße-
grifFsurafang der sinnverwandten deutschen und englischen Ausdrücke
vergleichend erörtert und gegeneinander abgegrenzt wird, was der
schärferen Erfassung der Wortbegriffe in beiden Sprachen zugute kommt.
Aber das Buch Günthers, der den Standpunkt des Ausländers außer
acht läßt und über englische Synonyma so schreibt, wie ein Engländer
darüber schreiben würde, ergänzt Krügers Werk in erfreulicher Weise
und kann auch von Deutschen neben jenem mit Vorteil benutzt werden,
zumal beim Unterricht zur Einübung von Definitionen in der Fremd-
sprache.
Im Gegensatz zu Günthers Buch ist Clemens Klöppers Eng-
lische Synonymik und Stilistik (Breslau 1907) wieder vom deutschen
Standpunkt geschrieben. Die Anordnung ist, wie bei Krüger, alphabetisch
nach deutschen Stichwörtern. Die Folge davon ist natürlich, daß unter
manchen Stichwörtern englische Ausdrücke zusammengestellt werden,
die für den Engländer keine Synonyma sind. Unter Geist z. B. führt
Klöpper auf: mind, spirit, intelhct, genius, ghost, spedre. Bei Günther
wird man unter mind vergebens nach ghost und spedre suchen; er er-
örtert nur den Unterschied von mind und spirit. Krüger stellt in seiner
großen Synonymik in reichlich regelloser Ordnung mind, spirit, sprite,
ghost, deverness nebeneinander, in seiner mittleren Ausgabe nur mind,
spirit, ghost. Es ist jedenfalls gut, wenn schon der Anfänger darauf
hingewiesen wird, daß engl, ghost, die etymologische Entsprechung von
deutsch Geist, nur den Sinn von ' Gespenst' hat, also den ursprünglichen
Sinn des Wortes beibehält, während die intellektuelle Bedeutung durch
mind oder spirit wiedergegeben wird. Klöpper befolgt mit Recht den
Grundsatz, daß die beste und kürzeste Definition eines enghschen Worts
die Übersetzung durch den passendsten deutschen Ausdruck ist; nur
im Notfall bedient er sich der Umschreibung, die für den Engländer
das einzige Mittel zur Begrifi"serklärung synonymer Ausdrücke der
eignen Sprache ist. Klöppers Synonymik, die sich am ehsten mit der
mittleren Ausgabe von Krügers Werk vergleichen läßt, obschon sie nicht
ganz so reichhaltig ist, kann recht wohl neben diesem benutzt werden. —
Die beigefügte ziemlich ausführliche Stilistik, in der die Eigenarten
des englischen Stils im Unterschied vom deutschen erörtert werden,
erhöht noch die selbständige Existenzberechtigung von Klöppers Buch.
Ein eigenartiges Werk ist AUen's Synonyms and Antonyms (^eyf
York und London 1920), von F. Sturges Allen, dem Herausgeber
von Webster''s Neiv International Didionary. Es ist ein Wörterbuch
43
von 482 Seiten, in dem die Fremdwörter stark vorherrschen, und ist
in erster Linie für den praktischen Gebrauch durch Juristen, Schrift-
steller, Geistliche, Geschäftsleute usw. bestimmt, die sich über die Be-
deutung eines seltneren oder die Bedeutungsschattierungen eines be-
kannten Worts unterrichten oder rasch eine Anzahl synonymer Ersatz-
wörter dafür bei der Hand haben wollen. Der Verfasser gibt deshalb
'unter jedem Stichwort die nächstliegenden Ersatzwörter, eventuell mit
kurzer Andeutung ihrer Gebrauchsweise, ob archaisch, bildlich, formell,
affektiert usw. Hat ein Wort mehrere Bedeutungen, so führt er für
jede derselben die Synonyma an, was in den gewöhnlichen Synonymiken
fast nie geschieht. Am Schluß jedes Artikels oder jeder Unterabteilung
gibt er zu weiterer Klarstellung des Begriffs des betreffenden Ausdrucks
sein Antonym, sein Gogenwort , soweit ein solches vorhanden ist. Be-
sondere typographische Hilfsmittel und Anordnung erhöhen die Über-
sichtlichkeit des Buchr.. Ein Beispiel möge das Gesagte erläutern:
beauty n. 1. loveline.ss, loveliliead {rare\ formosity (archaic), pulchritiide (rare),
liistre; spec. g'loiy, prettiness (beauty ivühout dignity). Antonyms: see
ugliiicss, deformity. — 2. belle, fair lady, fair one; spec. belliboue (obs.).
Antonyms: see liag.
Aliens Buch gibt auf knappstem Raum eine konzentrierte Fülle von
Belehrung, ist hervorragend praktisch angelegt und wird auch deutschen
Lehrern und Studierenden gute Dienste tun.
III. Namenkunde
1. Personennamen
Eine populäre Einführung in das Studium der englischen Personen-
namen ist das Buch von Ernest Weekley, Tlie liomance of Names
(London 1914). Der Verfasser plaudert in unterhaltendem Ton über
die verschiedenen Arten von Familiennamen, wie sie ihm im Londoner
Adreßbuch, in den Zeitungen oder auf den Straßen begegneten. Er
versteht es, zwischen zu gelehrter und zu oberflächlicher Darstellung
die richtige Mitte zu halten, bespricht in anregender Weise die Ent-
stehung der Familiennamen und weiß den Leser nicht nur für seinen
Gegenstand zu interessieren, sondern ihm auch die Schwierigkeiten und
Klippen der Namendeutung zu Geraüte zu führen.
Über Nordische Fersonennamen in England in alt- und frühmittel-
enfjlischer Zeit hat Erik Björkman gehandelt (Halle 1910). Diese
Abhandlung sowie die sich daran anreihenden Beiträge Zur englischen
Namenhunde (1912) führten zu einer Kontroverse zwischen dem Ver-
fasser und R. E. Zachrisson, der sie in seinen Notes an English Per-
sonal Names (Studier i Modern Spräkvetenskap G, 271 — 29ö; Upsala
1917) einer scharfen Kritik unterzog, worauf Björkman in einer An-
zeige dieser Notes (Angl. Beibl. 28, 225; Aug. 1917) und in eiiiem
44
Artikel Za den englischen Bei- und Spottnamen (ebd. 28, 207; Juli
1917) antwortete.
Während Björkman die englischen Namen skandinavischer Herkunft
behandelte, untersuchte einer seiner Schüler, Thorvald Forssner,
die Continental- Germanic Personal Na)nes in England in Old and
3ßddle English Times (Diss. üppsala 1916). Die nützliche Arbeit be-
steht in der Hauptsache aus einer alphabetischen Zusammenstellung der
in Betracht kommenden kontinentalgermanischen Namen mit Belegen
und Erörterungen. In der Einleitung werden die politischen und kom-
merziellen Beziehungen zwischen England und dem Festland im Früh-
mittelalter, die urkundlichen Zeugnisse für kontinentale Siedler und Nieder-
lassungen, sowie die wichtigsten Tatsachen der englischen Kii chengeschichte,
die für die Untersuchung von Belang sind, aufgeführt. In einem Schluß-
wort werden die Hauptkriterien für kontinentalgermanische Personen-
namen in England besprochen.
Ein andrer Schüler des inzwischen verstorbenen schwedischen Ge-
lehrten, Mats Redin, hat uns in seinen Studies an Uncomjwnnded
Personal Nantes in Old English (Diss. Uppsala 1919) eine gründliche
und wertvolle Zusammenstellung und Untersuchung der einfachen alt-
englischen Personennamen aus der Zeit bis 1066 geliefert. Er beschränkt
sich auf das einheimische Namenmaterial und nimmt nur solche Namen
auf, die selbständig vorkommen ; Personennamen als erste Glieder von
Ortsnamen werden nicht berücksichtigt.
Unzusammengesetzte Namen können entweder verkürzte Formen
zusammengesetzter Namen oder ursprüngliche Kurzformen ohne daneben
stehende Vollnamen sein. Erstere sind Kosenamen (Hypokorismen),
die aber später nicht selten den ursprünglichen Namen verdrängen und
als selbständige Namen benutzt werden. Kosenamen sind entweder
End- oder Anfangskosenamen , je nachdem ob das erste oder zweite
Glied des Vollnamens abgestoßen ist. Wegen der germanischen Anfangs-
betonung sind Anfangskosenamen in den germanischen Sprachen bei
weitem die häufigsten. Zur Bildung eines Kosenamens wird das ur-
sprüngliche Namensglied gewöhnlich durch eine Kose- Endung erweitert.
In den germ. Sprachen werden in der Regel die Suffixe -an und -ja
dazu verwandt. Außerdem werden gern sekundär noch Diminutiv-
suffixe angehängt: im Altenglischen vorzugsweise l- und Ä;-Suffixe. Eine
weitere Eigentümlichkeit der Kosenamen in allen idg. Sprachen ist das
häufige Auftreten von geminierten Konsonanten (S. XXX ff.), zum Teil im
Wechsel mit einfachen, z. B. ae. Eada — Eadda, Tuna — Tunna, JBica —
Sicca, die zum größten Teil sicher nicht auf schlechter Schreibung
beruhen, sondern Aussprachen mit kurzem und langem Konsonanten
darstellen. Da dieselbe Erscheinung in allen idg. Sprachen auch bei
Lallwörtern und Lallnamen auftritt, wie sie kleine Kinder zur Bezeich-
nung für sich selbst oder für andre Personen bilden {inamma, pappa
usw.), so mögen die Kurznamen teilweise aus Lallnamen entstanden
sein, indem letztere in familiärer Redeweise auch zur Benennung Er-
45
wachsener statt ihres wirklichen Namens gebraucht und dann als selb-
ständige Namen auf andre Personen übertragen wurden. Man hat
ferner darauf hingewiesen, daß Konsonantenverdoppelung in den germ.
Sprachen besonders häufig in Benennungen für runde, plumpe Gegen-
stände auftritt, zunächst für leblose Dinge, dann aber auch für Tiere
und menschliche Wesen, z. B. fläm. halbe 'Schwellung', schwed. habhe
'kleiner Knabe, Kind' (S. XXXIII). Die Erklärung dieser spontanen
Gemination ist umstritten. Man sucht sie jetzt gern in psychologischen
Gründen, indem man in diesen Wörtern Ausdrücke intensiven Gefühls
oder Interesses auf selten des Sprechers erblickt. Manche Kurznamen
mit geminierten Konsonanten werden wohl auf derartige Ausdrücke zu-
rückgehn; vgl. den altengl. Namen Bahha. In andern Fällen beruht
die Gemination der Kurznamen sicher auf einer Assimilation zwischen
dem Endkonsonanten des ersten Gliedes des Vollnamens und dem An-
fangskonsonanten des zweiten. Z. B. Wulfsian konnte nach Redins
Meinung (S. XXXV f.) entweder einen Kosenamen Wulfa oder Wuffa
ergeben , Tidgar entweder Tida oder Tidda. Die Assimilation und
Gemination ist nur fakultativ, ist nur eine Tendenz. So stammt die
in altengl. unzusammengesetzten Namen auftretende Konsonantenver-
doppelung wahrscheinlich aus verschiedenen Quellen ; aber die verschie-
denen Ursachen haben zusammengewirkt, der Gemination einen gewissen
hypokoristischen Wert zu verleihen (S. XXXVI).
Der Hauptteil von Redins Arbeit besteht aus dem Verzefchnis der
von ihm gesammelten einfachen Namen mit Belegen und dazu gehörigen
Erörterungen. Er teilt sein Material nach der Stammbildung in fünf
formale Gruppen: I. Starke Namen: masc. Beorn, Wine, Hörn, Brun,
Hun, Lull; fem, Badu, Hüd, Hwatu, Eafu. II. Schwache Namen:
masc. Beorna, Diidda, Lulla, Hwita, Huna; fem. Gode, Rune, Lidle.
III. Namen auf -i(-e), alle masc: Godi, Ini, Baede, Lidle. III. Dimi-
nutiva: Duddel, Hiddila; Hivituc, Baduca. IV. Namen auf -ing: Ad-
ding, Bruning, Billing.
Die Gesamtzahl der von Redin gesammelten selbständigen uneusammen-
gesetzten Personennamen aus altengl. Zeit ist 736. Davon kommen 79
sowohl mit einfachem als auch mit doppeltem inlautendem Konsonanten
vor. Von 694 Namen sind 301 als Kurzformen aus belegten zusammen-
gesetzten Namen entstanden; bei 393 Namen fehlen entsprechende Kom-
posita. Es sind also durchaus nicht alle unzusammengesetzten Namen
im Altenglischen als Kurzformen zusammengesetzter zu erklären. Fälle,
wo ein Vollname und ein daraus gebildeter Kurzname zur Bezeichnung
der gleichen Person belegt sind, gibt es im Altengl. nur sehr wenige.
In den meisten unzusammengesetzten Namen, die keine Kurznaraen
sind, haben wir wahrscheinlich ursprüngliche Beinamen verschiedener
Art zu erblicken. Der Gebrauch von Spottnamen war bei den Angel-
sachsen nicht so häufig wie bei den Skandinaviern. Ihre Zunahme
gegen Ende der altengl. Periode ist wahrscheinlich auf skandinavischen
und normannischen Einfluß zurückzuführen.
46
2. Völkernamen
Über englische Völkernamen ist verhältnismäßig wenig gearbeitet
worden. Um so dankbarer begrüßen wir die Darstellung der Geschichte
einer bestimmten Gruppe dieser Namen, die uns Gösta Langen feit
in seiner tüchtigen Dissertation über Toj)onymics or Derivations froni
Local Names in English (Uppsala 1920) gibt. Sie ist gleichfalls aus
der Schule Björkmans hervorgegangen. Unter Topo'nymika (nach
Analogie von „Patronymika" gebildet) versteht Langenfeit Ableitungen
aus Namen von Orten, Gauen, Ländern zur Bezeichnung
der Einwohner, Tiere, Produkte derselben. Es ist ein rein
grammatischer Ausdruck, der die Zugehörigkeit des Trägers eines solchen
Namens zu einer bestimmten Örtlichkeit bezeichnet, einerlei ob dieser
Träger ein Mensch, eine Maus, ein Mineral oder eine Handelsware ist.
Aber in erster Linie ist unter Toponymika doch eine bestimmte, klar
urarissene Gruppe von Völkernamen zu verstehen. Für Völkernaraen,
die nicht diesem Typ angehören, gebraucht Langenfeit den wenig glück-
lich gewählten Ausdruck Demonymika, während er die beiden Arten
unter dem Obernamen Ethnonymika zusammenfaßt. Nhd. Schott-
länder, ScJilesiviger, Berliner, ne. Holländer, Nonvegian, Roman wären
also Toponymika, nhd. Schotte, Schwahe, ne. Didch, Siviss wären Demo-
nymika.
Langenfeit verfolgt die Geschichte der englischen Toponymika in
vier zeitlich gegliederten Abschnitten aus dem Urgermanischen durch
das Altenglische und Mittelenglische bis zur Gegenwart. Er ordnet
sein reich belegtes Namenmaterial innerhalb der vier Perioden nach den
für Toponymika charakteristischen Ableitungssuffixen und Kompositions-
gliedern und macht mehrfach statistische Zusammenstellungen über ihr
zeitliches Auftreten und ihre Häufigkeit.
Im ersten Kapitel stellt er fest, daß die verschiedenen germanischen
Dialekte bei der Bildung von Toponymika bestimmte Suffixe und Kom-
position sglieder bevorzugen. Während dem Altnordischen Toponymika
auf -seti oder -hceme ganz, auf -verjar so gut wie ganz fehlen, sind
im Altenglischen -sTetan, -wäre und -Ji^me die ältesten und häu-
figsten Kompositionselemente für Toponymika. Von toponymischen Ab-
leitungssuffixen ist im Altenglischen das häufigste -i, seltner ist -a, noch
seltner -n. Feste Regeln über die Bildung der Toponymika lassen sich
nicht aufstellen: die Suffixe -a, -i, -n werden unterschiedslos durch-
einander gebraucht. Derselbe Völkername schwankt in den gleichen
Texten zwischen -i-, -a- und -w-Stamm: Swäfe —Stvcefas, Crece — Crecas,
Bnrgende — Burgendan, Longheardas — Longbeardan. Aber in der Stamm-
bildung der Toponymika und Demonymika ist ein bemerkenswerter
Unterschied: erstere sind überwiegend -/'- und -ri-Stämme, letztere vor-
wiegend -a-Stämme. Und das Häufigkeitsverhältnis der toponymischen
zu den demonymischen Völkernamen ist wie 3 : 2. Toponymika auf
-ing fehlen in der ältesten Zeit vollständig; sie erscheinen erst in der
zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Ihre zunßhmende Beliebtheit im
47
10. Jahrh. (Cantware — Centingas, Middelliäme — Middelhamminge) beruht
wahrscheinlich auf skandinavischem Einfluß. Das Öuifix -isc tritt zu-
erst 905 in dem Toponymikon Centisc (da Centiscan) auf, aber erst
nach 1000 wird es häufiger. Es wird in Fremdnamen gebraucht, wohl
unter Hterarischem Einfluß als Entsprechung tür lat. -iciis bei Über-
setzung klassischer oder biblischer Namen, wird dann aber auch auf
einheimische Namen übertragen. — Das häufigste Kompositionsghed für
Toponymika in älterer Zeit ist -saian oder -s^te. Auch -ivare ist sehr
häufig und wird sowohl für Ableitungen von einheimischen Ortsnamen
als auch von fremden Orts- und Ländernamen gebraucht. Während
-scetan in der Regel auf kleinere Ortlichkeiten beschränkt ist und nie
mit politischer Nebenbedeutung auftritt, erscheint -ivare umgekehrt gerade
zur Bezeichnung von Stämmen und Völkern als politischer Körper-
schaften (Cantware, Bönnvare). Das Wort man wird im AltengUschen
noch nicht für toponymische Zwecke gebraucht.
Im Früh mittelenglischen erfuhren die altenglischen Topo-
nymika einen gründlichen Wandel. Die Suffixe verloren ihren sema-
siologischen Yv'ert und verschwanden. Ableitungen von heimischen Orts-
namen fehlen vollständig. Die Kornpositionsglieder -srctan und -ivare
waren schon im Spätaltenglischen verfallen. Im Frühmittelenglischen
hört auch -ing auf, ein lebendes Suffix zu sein. Nur ~isc lebt als -ish
weiter und verrät Zeichen von Produktivität. Aber wirklich lebendige
Mittel zur Bildung von Toponymika hat die Übergangszeit nicht, oder
sie bildete toponymische Ausdrücke durch Vorsatz von of vor den
Ortsnamen.
Erst in der eigentlichen mittelenglischen Periode entstehen
neue, lebenskräftige toponymische Suffixe. Außer -ish, das für topo-
nymische Zwecke im späteren Mittelenglischen weniger gebräuchlich ist,
treten jetzt drei Lehnsuffixe: afrz. -ien, lat. -ian und lat. -on, in den
Vordergrund. Alle drei hängen eng zusammen und wechseln bei den-
selben Namen miteinander, z. B. It(dien, Italian , Italyon. Sie fallen
am Ende der Periode in -ian zusammen. Auch das nindl. (flämische)
-er dringt ein, wird zwar für heimische Namen noch nicht häufig ge-
braucht, aber gewinnt an Boden. Eine Zeitlang scheint es, als ob das
zentralfrz. Suffix -ais (Fraunceis , Cormvaleys, Londreis) sich im Eng-
lischen einbürgern werde, aber es behauptet sich nur kurze Zeit im
14. Jahrh. Komposita mit -man nehmen zu; sie werden nicht nur in
Zusammensetzungen mit Adjektiven auf -ish gebildet (Englishman,
Frenscheman, Scottishman), sondern im 15. Jahrh. auch mit Orts- oder
Ländernamen als erstem Element (Chesshireiuan, Sufjollceman, Ireland-
man, Calaisman). Außerdem sind auch toponymische Bildungen mit
of so häufig wie vorher: tnen of Macedony. Von altengl. Suffixen außer
-ish und -man haben sich keine Spuren mehr erhalten.
Im Frühneuenglischen wird im Gefolge der Renaissance der
französische Einfluß durch den lateinischen zurückgedrängt: das Suifix
-ian siegt über -ien. Anderseits zeigt das mndl. Lehnsuffix -er jetzt die
Neigung, auch in heimische Bildungen einzudringen. Man muß in dieser
48
Zeit zwischen gelehrten und volkstümlichen Toponymika unterscheiden:
Namensformen wie Icelandlan, Netherlandian , Laplandian tragen das
klassische Gepräge auf der Stirn; sie werden später in germ. Bildungen
auf -er geändert. Dagegen ist der Geltungsbereich der beiden Bildungen,
wie Langenfeit treffend bemerkt, ein verschiedener: Völkernamen auf
-ian sind auf keine bestimmte Gegend der Erde beschränkt, während
Toponymika auf -er vorzugsweise von germanischen Ländernamen ge-
bildet werden und früher häufiger waren als jetzt.
An eine Erörterung der neuenglischen Entwicklung hat Langen-
feit sich nicht herangewagt, weil er der Ansicht war, sein Material sei
„selected too hap-hazardly", um allgemeine Schlüsse zu gestatten (S. V).
Dagegen hat er sein Buch inzwischen durch zwei weitere Abhand-
lungen ergänzt. In einem Aufsatz On tlie Origin of Tribal Names in
der Wiener ethnographischen Zeitschrift Anthropos (14 — 15, S. 295 — 313;
1919 — 1920) erörtert er das Problem, wie primitive Völker im all-
gemeinen ihre Namen bilden, und kritisiert die darüber aufgestellten
Theorien. Und in einem Aufsatz über Sematological Differences in the
Tojxynymical Word-Group (Engl. Stud. 55, 26 — 39; 1921) erläutert er
die verschiedenen Bedeutungsschattierungen und Begriffsentwicklungen
der Toponymika.
/ 3. Ortsnamen
Auf dem Gebiet der englischen Ortsnamenforschung ist in den
letzten beiden Jahrzehnten eine rege Forschertätigkeit entfaltet worden.
Nach einem naheliegenden, wenn auch mehr äußerlichen Einteilungs-
prinzip hat man die wissenschaftliche Aufarbeitung des englischen Orts-
namenmaterials nach Grafschaften unternommen. Skeat, der
Nestor der etymologischen Forschung, machte 1901 mit seinen Place-
naviies of Camhridgeshire den Anfang. Dann folgten in den Jahren vor
dem Kriege Bearbeitungen der Ortsnamen der folgenden Grafschaften :
Staffordshire (durch Duignan 1902), Huntingdonshire (Skeat 1904),
Hertfordshire (Skeat 1904), Worcestershire (Duignan 1905), Bedfordshire
(Skeat 1906), Wiltshire (Ekblom 1907), West Riding of Yorkshire
(Moorman 1910), Berkshire (Skeat 1911 und im gleichen Jahr Sten-
ton), Lancashire (Wyld and Hirst 19 il), Oxfordshire (Alexander 1912),
Warwickshire (Duignan 1912), Gloucestershire (Baddeley 1913), Lan-
cashire (Sephton 1913), Nottinghamshire (Mutschmann 1913), South-
West Yorkshire (Goodall 1913, revised edition 1914), Suffolk (Skeat
1913). In unsrer Berichtsperiode von 1914 — 1920 sind noch die folgen-
den Werke erschienen: R. G. Roberts, The Place-names of Siissex
(Cambridge 1914), W. J. S e d g e f i e 1 d , The Place-names of Cumherland
and Westmorland (Manchester 1915), B. Walker, The Place-names
of Derhi/shire (Derbyshire Arch. and Nat. Hist. Soc.'s Journal 36 ;
1914 — 1915), A. T, Bannister, The Place-names of Herefordshire
(1916), C. E. Jackson, The Place-names of Diirham (1916) und
Allen Mawer, The Place-names of Northutnherland and Durham
(Cambr. 1920, mit ausführlicher Bibliographie). Die große Mehrzahl
Wissenschaftliche Forschnngsberichte IX. 4
49
der englischen Grafschaften ist damit erledigt; Berkshire, Lancashire
und Durham sind sogar doppelt behandelt.
Dazu kommen noch ein paar allgemeinere Werke über die Orts-
namen von Schottland (von J. B. Johnston 1903), Wales (Morgan 1912),
England und Wales (J. B. Johnston 1915). Ferner Spezialarbeiten
über die Ortsnamen einiger schottischer Grafschaften: Shetlands- Inseln
(Jakobsen 1901), Ross und Cromarty (Watson 1904), Elgin (Matheson
1905), Argyll (Gillies 1906).
Die Arbeiten, soweit sie mir bekannt geworden, sind sehr ver-
schieden sowohl im Umfang als auch in der Anlage und Ausführung.
Den einen Verfasser interessieren die Ortsnamen nur nach der etymo-
logischen Seite, der andre benutzt sie zu grammatischen, insbesondere
lautgeschichtlichen und dialektischen Zwecken, der dritte verwertet sie
für die Siedlungsgeschichte. Arbeiten über allgemeinere sprachUche oder
historische Probleme der ortsgeschichtlichen Forschung, wie wir sie in
Langen feit's Toponymics (oben S. 47 ff.) oder Ekwall's Scandl-
navians and Celts in the North- West of England (S. 25) kennen lernten,
liegen bis jetzt wenig vor. Es war auch wohl nötig, daß zunächst das
gesamte Ortsnamenmaterial gesammelt und kritisch gesichtet wurde, bevor
man an Monographien über Einzelprobleme herantreten konnte.
Hinsichtlich der Sammlung des Materials, der Belege, der örtlichen
Aussprache der Namen usw. bleibt freilich immer noch viel zu tun, und
es ist sehr zu begrüßen, daß Professor Allen Mawer, der verdienst-
liche Bearbeiter der Ortsnamen von Northumberland und Durham, jetzt
Nachfolger Wylds auf dem Lehrstuhl für englische Sprachwissenschaft
an der Universität Liverpool, den Plan einer Ortsnamensammlung
größten Umfangs gefaßt und sich kürzlich (Anfang 1922) mit
einer Aufforderung zur Mitarbeit an weiteste Kreise gewandt hat.
4. Sonstige Namen
Für die Erforschung des medizinischen und naturwissenschaftlichen
Wortschatzes mittelenglischer Zeit, vor allem für Krankheitsnamen
und Pflanzennamen, bieten Herbert Schöfflers wichtige Bei-
trüge zur mittelenglischen Medimiliteratur (Halle 1919) reiche Ausbeute.
Der erste Teil des Buchs, „Lexikographische Studien zur mitteleng-
lischen Medizin", ist in erster Linie als Nachtrag zum Netv English
Dictionary gedacht. So erklärt sich nicht nur die alphabetische An-
ordnung der medizinischen Ausdrücke, sondern auch die fragmentarische
Art der Darstellung und das Fehlen von Erklärungen seltner Wörter,
wodurch der Verfasser die Lektüre des Buchs nicht gerade erleichtert
hat. Die vSammlung enthält viele Wörter, die im NEJ). entweder ganz
fehlen, oder für die Schöffler frühere oder ergänzende Belege bieten
kann. Zu manchen Artikeln gibt er interessante sprachliche oder sacli-
liche Ausführungen. Auch der zweite Teil des Buchs, der eine Aus-
gabe der Practica phisicalia des Magister Johannes von Burgund mit
ausführlicher Einleitung enthält, ist nicht bloß für die Geschichte der
50
mittelalterlichen Medizin in England, sondern auch für den medizinischen
Wortschatz des Mittelenglischen ergebnisreich. Er wird durch ein um-
fängliches Register erschlossen, in das der Verfasser in dankenswerter
Weise auch den Inhalt von F. Heinrichs registerlosem Mittelenglischem
Medisinhucli (Halle 1896) verarbeitet hat. Ein erfreuhcher Zug des
Buchs von Schöffler ist die gleichmäßig gute Behandlung der sprach-
lichen und sachlichen Seite des Stoffs.
Über Münznamen hat H. O. Schwabe in seiner Arbeit Ger-
manic Coin-names (Mod. Phil. 13, 583; 14, 105. 611; 1916—1917)
aus allen Perioden der germanischen Sprachen wertvolles Material zu-
sammengetragen und im Hinblick auf die Herkunft der Namen gruppen-
weis geordnet. Leider beschränkt der Verfasser sich auch hier, wie in
seiner oben (S. 41 f.) besprochenen Arbeit über die Ausdrücke für Essen
und Trinken, auf eine trockne Aneinanderreihung etymologischer Formen
ohne verbindenden Text und ohne tieferes Eingehen auf das Sachliche.
Wie solche Münznamenstudien wissenschaftlich vertieft und frucht-
bar ausgestaltet werden könnein, zeigt in mustergültiger Weise Edward
Schröder in seinem Aufsatz über Sterling (Hansische Geschichtsblätter
1917, S. 1 — 22) und in seinen Studien zu den deutschen Münznamen
(Z. f. vergl. Sprachf. 48, 241 — 275), wo er über Ffenning, Schilling und
Schatz handelt. Man braucht diese tiefschürfenden Aufsätze nur mit
den entsprechenden nüchternen etymologischen Notizen bei Schwabe
(XXI 19 Sterling, XVII 9 Pfennig, XVIII 4 Schilling, I 1 Schatz) zu
vergleichen, um zu erkennen, wie unendlich viel Interessantes und An-
regendes durch Vertiefung in Geschichte und Münzkunde aus solchen
Nameustudien herauszuholen ist. Es ist ein besonderes Verdienst Schrö-
ders, daß er durch seine Ausführungen über die Geschichte des Namens
Sterling der schon des Akzents wegen unmöglichen Österling- Hypothese
endgültig den Boden entzogen und sie mit der Herleitung von Sterling
aus griech.-Iat. stater durch eine einleuchtendere Erklärung ersetzt hat.
Über germanische Farbennamen liegt eine recht verdienstliche
Münsterer Dissertation von Ernst Schwentner vor: JEine sprach-
geschichtliche Untersuchung über den Gebrauch und die Bedeutung der
altgermanischen Farhenhezeichnungen (Göttingen 1915, E. A. Huth).
Merkwürdigerweise hat der Verfasser aber das Buch von Francis
A. Wood, Color-Names and their Congeners (Halle 1902) übersehen,
in dem eine reiche Fülle von Farbenbezeichnungen zusammengetragen
ist, allerdings mit derselben mechanischen Aneinanderreihung etymo-
logischer Namensformen wie in den genannten Arbeiten von Schwabe.
IV. Schrift und Schreibung
Eine umfassende Gesamtdarstellung der Geschichte der englischen
Schrift und Schreibung fehlt. Eine kurze, willkommene Übersicht gibt
Luick in der Einleitung zu seiner Historischen Grammatik (I S. 75
bis 92; 1914).
4*
51
1. Ursprung der Runenschrift
Über die Herkunft der altgermanischen Runenschrift trägt Otto
V. Friesen in einer umfangreichen Abhandlung in Hoops' BeallexiJcon
d. germ. Alterhimslc. (1918) eine neue, bahnbrechende Ansicht vor.
Die ältesten germanischen Runeninschriften treten im 3. Jahrhundert
n. Chr. in dem Gebiet vom Schwarzen Meer bis Dänemark auf, das
damals von Ostgermauen (Goten usw.) beherrscht wurde. Die west-
germanischen Runeninschriften sind durchweg jünger.
Die herrschende Theorie über die Entstehung der Runenschrift war
bisher die von L. Wim m er {I)ie Runenschrift, 1887). Er hat den
überzeugenden Nachweis geführt, daß die Runenschrift aus einem süd-
europäischen Alphabet, entweder dem lateinischen oder griechischen, her-
zuleiten ist. Er hat ferner nachgewiesen, daß das älteste Runenalphabet
in dem geraeingermanischen 24 typigen, nicht, wie andre meinten, in
dem 16 typigen nordischen zu erblicken ist. Wimmer leitete die Runen
aus der lateinischen Kapitalschrift der Kaiserzeit ab. Abweichungen der
Runen von ihren lateinischen Vorbildern erklärte er aus der Technik
der Runenschrift und andern Faktoren. Die römische Kapitalschrift ist
nach Wimmer wahrscheinlich durch gallische Vermittlung nach Süd-
deutschland gelangt; hier seien, so vermutet er, zuerst Runen in Gebrauch
gewesen, obwohl die erhaltenen süddeutschen Runeninschriften nicht so
alt sind wie die in Ost- und Nordeuropa gefundenen.
Wimmers Theorie wurde von Salin in seinem Werk über Die
altgermanische TlerornamenfiJc (1904) bekämpft. Salin weist nach, daß
sich im 2. Jahrhundert n. Chr. im Norden und Nordwesten des Schwarzen
Meers nach klassischen Vorbildern eine eigentümliche germanische Kultur
ausbildete, die um 200 schon nordwärts bis zur Ostsee vorgedrungen
war. Von hier breitete sie sich einerseits nach Skandinavien, ander-
seits nach Nordwestdeutschland und Holland aus. In diesem Kulturkreis
treten zuerst die Runen auf Die Verbindungen zwischen dem Schwarzen
Meer und der Ostsee hören nach 350 auf. Dagegen erlebt die Kultur
in Hannover und den Nachbarländern eine originelle Weiterbildung. Von
hier setzt vor 450 ein Strom übers Meer nach England über, ein andrer
bewegt sich rheinaufwärts zu den Alpen und der obern Donau. Mit
diesen Kulturwellen sind auch die Runen aus Nordwestdeutschland nach
England und Süddeutschland gelangt.
Was Salin auf Grund archäologischer Tatsachen vermutet hatte,
wurde durch v. Friesens runologische Untersuchungen in seiner Schrift
Om JlimsJcriftens härJcomst (1906) und in revidierter und vollkommnerer
Gestalt in dem genannten Artikel des Reallexikons (1918) bestätigt. An-
knüpfend an einen Vortrag von S. Bugge (1898) weist v. Friesen nach,
daß die Runen bei den Goten am Schwarzen Meer um 200
n. Chr. entstanden sind, wo seit etwa 100 n. Chr. sich italische und
griechische Bildung begegneten. Die Runen sind in der Haupt-
sache aus dem griechischen Alphabet entlehnt, aber mit Bei-
mischung einiger lateinischer Zeichen. Sowohl die griechische
als auch die lateinische Unterlage der Runen war eine Kursivschrift,
d. h. die Schrift des Geschäftslebens. Die Runenschrift ist also höchst
wahrscheinlich auf volksmäßigem, nicht auf gelehrtem Wege entstan-
den. Aber da sie urspünglich nur für Inschriften verwandt wurde, ist
sie von den Goten zu einer epigraphischen Schrift umgewan-
delt worden, wenn sie nicht vielleicht auf griechische und lateinische
Kursivinschriften auf Wänden, Holz und Metall zurückgeht, v. Friesen
bespricht in seinem Artikel eingehend die Herleitung der einzelnen alt-
germanischen Runenzeichen.
Auf westgermanischem Gebiet treten die Runen in zwei Haupt-
formen auf: 1. der anglofriesischeii, in Friesland und besonders in Eng-
land; 2 der deutschen, von der Rheinprovinz bis nach Ungarn. Beide
entstammen dem 24 typigen Alphabet der Ostgermanen. Das deutsche
Alphabet hat die 24 Zeichen bewahrt, das anglofriesische hat es durch
neue Runen erweitert. Beiden geraeinsam ist die /i-Rune mit zwei Quer-
stäben (l=:|), während sie in dem ost- und nordgermanischen Alphabet
nur einen Querstab hat (H)-
V. Friesen stellt in seinem Artikel die wichtigsten friesischen, eng-
lischen und deutschen Zeugnisse für die Runenschrift zusammen und
bespricht im Anschluß daran die Zeichen, Lautwerte, Namen und Ge-
schichte der einzelnen westgermanischen Runen. Bemerkenswert ist, daß
er (S. 22) die berühmten angelsächsischen Runenkreuze von Bewcastle
und Ruthwell, weil sie zwei jüngere Runenzeichen verwenden, frühestens
um 900 ansetzt.
2. Anglonormannische Einflüsse auf die englische Schreibung
a) Verschiedene vokalische und konsonantische
Schreibungen
Mehrere Forscher haben sich in den letzten Jahren mit der Frage
des Einflusses der anglonormannischen Schreibung auf die englische befaßt.
Willy Schlemilch, ein Schüler Morsbachs, handelt im zweiten
Kapitel seiner Beiträge zur Sprache und Orthographie spätaltengl. Sprach-
denkmäler der Übergangszeit 1000 — 1150 (Studien z. engl. Phil. .34;
1914) über „ Anglofranzösische Schreibungen". Er stellt fest, daß die
ersten Spuren des anglofranzösischen Einflusses auf die Schrei-
bung des Englischen sich um 1100 bemerkbar machen, daß dieser
Einfluß aber bis 1150 keine erhebliche Rolle spielt (S. 60). An
Einzelheiten sei folgendes bemerkt, a) Vokalische Schreibungen: die
anglofrz. Schreibung tt für ae. festes und unfestes ^ tritt zuerst um 1100
auf; anglofrz. o für w zuerst zwischen 1130 und 1150: Tantöne, Overtön,
döne (dune)-, o für ae. m erst nach 1150: louie, loiiede. b) Konsonan-
tische Schreibungen : das Zeichen ch für den assibilierten ae. Laut c [^^J
bürgert sich nur langsam ein; manche Denkmäler in der ersten Hälfte
des 12. Jahrhunderts, die sonst zum Teil schon französischen Einfluß
zeigen, kennen es noch gar nicht; erst von 1150 an wird es häufiger.
53
Dagegen tindet sich die Schreibung u für stimmhaftes ae. f = \v] ge-
legentlich schon in spätae. Zeit, wo franz. Einfluß noch nicht in Frage
kommt; Schlemilch denkt hier an lateinischen Einfluß; so in der Hs. A
der Benediktinerregel um 1100: (üiien, zedrcued, fröuer, Jdäue u. a.
W. V. d. Gaaf (Neophil. 5, 138; 1920) führt Belege der Schreibung u
= [v] aus ^Elfrics und Wulfstans Homilien, aas den jüngeren Texten
der Sachsenchronik u. a. an; er glaubt, daß hier der frühste Fall eines
Einflusses der französischen Schreibung auf die englische vorliege.
b) Schreibung ou
In einer fleißigen und nützlichen Monographie behandelt Hans
Marcus Die Schreibung 'ou' in fnihmittelenglischen Handschriften
(Berlin 1917), über deren Aussprache und Entstehung die Ansichten
weit auseinandergehn. Die Schreibung ou konnte im Mittelengl. offen-
bar eine Reihe von Aussprachen bezeichnen, wie die Weiterentwicklung
ins Neuenglische beweist. Marcus stellt folgende sechs Gruppen auf:
1 . m e. ou = n e. [au] : a) ne. Jiouse <^ ae. hüs ; b) ne. hound <( anord.
hüinn; c) ne. croivn <^anglonorm. coroune\ d) ne. hough <ae. &ö^; e) ne.
hound <ae. gebunden. — 2. me. ou = ne. [a] in anglonorm. Lehn-
wörtern wie couple, double, troid)le. — 3. me. om = ne. [ö] in heimischen
Wörtern mit den Lautgruppen ae. -oM, -öht oder südl. -älit, wo sich im
Mittelengl. ein u als Gleitlaut entwickelte: ne. bought <^ae. hoJite, broughf
<^bröhte, ought <^ähte. — 4. me. om .-= ne. [ö"] aus ae. -og, -öw und
südl. -äg, -äw: ne. bow <^ae. boga, grow ^gröivan, oivn ^ägen, blow
<^bläwan. — 5. me. om = ne. \utv] in me. satzunbetontem yoti, through. —
6. me. ou = ne. [ö" oder d] in unbetonten Silben, wie borough, nar-
row u. a. (Marcus gibt hier fälschlich die ne. Aussprache [ii\ an.)
Zuerst findet sich ou gegen Ende des 12. Jahrhunderts bei heimi-
schen Wörtern der 4. Gruppe, wie blouive, touward, fouiver\ da in der-
selben Hs. auch zwischen a und w ein u eingeschoben wird (blamven,
iknauiven), handelt es sich hier offenbar um einen fakultativen Gleit-
laut. Es folgt in den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts Gruppe 1^ mit
vereinzeltem nou. Bei den beiden Schreibern der älteren La:^amon-Hs.
um 1225 ist die Schreibung ou auch für fast alle übrigen Klassen bereits
nachweisbar. Zuletzt stellt sich ou für [li] in Klasse 2 ein.
Die me. öm- Schreibung zeigt sich demnach zuerst um 1200 in W^ör-
tern heimischer Herkunft als eingeschobener Gleitlaut zwischen o und w.
Im Altfranzösischen erscheinen die ersten ou aus lat. u, ö, au, ol, ul
vereinzelt schon in den ältesten Denkmälern des 9 bis 10. Jahrhunderts,
auch hier wohl zunächst mit diphthongischem Charakter. Erst im 13. Jahr-
hundert rückte in kontinentalen Hss. das 07i, dessen Aussprache mono-
phtongisch geworden war, in die Stelle des u, das auf dem Wege zu ii
war, ein. Dagegen ist die Schreibung ou in anglonormannischen Hand-
Bchriften bis 1250 ganz selten und wird erst später häufiger. „Man
wird somit schwerlich behaupten können", meint Marcus (S. 142), „die
me, Schreibung ou sei schlankweg aus Frankreich entlehnt worden. Sie
mag in beiden Ländern wohl um die gleiche Zeit aufgetreten sein."
54
Auf die Durchführung der Schreibung ou in den einzelnen Gruppen,
ihre Bedeutung als Kriterium für Quantität und auf ihre Aussprache in
me. Zeit kann hier nicht näher eingegangen werden (s. Marcus S. 143 ff.).
Des Verfassers Ergebnisse sind nicht durchweg überzeugend, aber immer-
hin beachtenswert, und seine Materialsammlung ist wertvoll.
c) Schreibung ie
Über den Ursprung und die Ausbreitung der neuenglischen Schrei-
bungen ie und ea handelt W. van der Gaaf in seinen stoff- und belang-
reichen Notes on English Orthograpliij (Neophilologus 5, 133 u. 333;
1920).
Im Anglonormannischen ist afrz. ie zu e und ie zu c geworden. Die
Neigung zu dieser Monophthongierung zeigte sich im normannischen
Dialekt schon auf dem Festland; auf engUschem Boden ist sie dann
durchgeführt worden. Die frühsten Belege für e aus ie finden sich im
Domesday-Buch. Der Wandel der Aussprache tritt in der Schreibung
der anglonormannischen Handschriften mehr oder weniger konsequent
zutage, indem neben dem phonetisch korrekten e vielfach noch die ältere
«e-Schreibung traditionell beibehalten wird. Auch im 14. Jahrhundert
ist die Schreibung ie für e in anglonormannischen Texten noch sehr
gewöhnlich; da sie besonders häufig in Staatspapieren und amtlichen
Urkunden auftritt, liegt hier vielleicht nicht sowohl traditionelle Schrei-
bung als vielmehr Einfluß des Pariser Französisch vor.
Die doppelte Schreibung vieler Wörter mit ie oder e, wie clüef —
chef, hrief — href, von denen erstere historisch, letztere phonetisch korrekt
ist, führte bald zu „umgekehrten" Schreibungen, indem ie statt e in
Wörtern gebraucht wurde, wo das ie historisch unberechtigt war, wie
anglonorm. siet für set (^ Septem, mier für nier (fnatrem; so schon im
Compiitus (c. 1113 oder 1119). Und in der Orthographia Gallica im
13. Jahrhundert wird direkt die Regel aufgestellt, daß jedes betonte e
durch ie wiederzugeben sei.
Anglonormannische Lehnwörter mit altem ie werden im Mitteleng-
lischen in der Regel mit e oder ee geschrieben : chefe — cheef, ehre — cleer.
Daneben findet sich in den gleichen Texten bisweilen auch ie, aber bis
zum 14. Jahrhundert im ganzen selten. Erst im 15. Jahrhundert werden
Schreibungen wie chief, grief u. a. häufiger. Sie beruhen wohl teilweise
auf dem zunehmenden Einfluß des Zentralfranzösischen, wo sich ie in
der Aussprache erhalten hatte. Aber in chief, dangier u. a. kann nur
traditioneile Schreibung vorliegen, da ie nach [ts] und [cU] auch im Zentral-
französischen schon vor 1400 zu e geworden war. v. d. Gaaf meint
(S. 137), daß der Wandel von me. e zu [i], der in der zweiten Hälfte
des 15. Jahrhunderts im Gange war, einen starken Einfluß auf die zu-
nehmende Häufigkeit der ie- Schreibungen im Englischen hatte.
Nach dem Muster der anglonormannischen Lehnwörter wird schon
von etwa 1150 an auch in englischen Wörtern bisweilen für altes e
ein historisch unberechtigtes ie geschrieben : fiet == ae. fet, quiene = ae.
cwen, fielde == ae. feld u. a. Aber erst im 15. Jahrhundert führt die zu-
55
m
nehmende Häufigkeit der Schreibung ie in französischen Wörtern auch
zu einer allgemeineren Anwendung derselben in englischen, wobei nach
V. d. Gaaf gleichfalls der Wandel von e zu [i] einen wesentlichen Ein-
fluß übte (Ö. 141).
Um 15Ü0 war ie in den meisten Wörtern, in denen es heute ge-
schrieben wird, schon sehr gewöhnhch geworden; aber noch weit bis
ins 17. Jahrhundert hinein finden sich Schreibungen wie dieef, feetid,
theef u. a. Auch sonst kann man im 16. Jahrhundert fast bei allen
Wörtern mit me. e sowohl ie als auch ee oder e als Wiedergabe des
neuen [t-] Lauts finden; erst allmählich im Lauf des Jahrhunderts trat
die heute noch herrschende Scheidung ein, die um 1600 in der Haupt-
sache vollzogen ist.
d)Schreibungea
Beim Übergang vom Altengl. zum Mittelengl. wurde der Diphthong
ea [= ccd\ zu m monophthongiert, das später in einen offnen e-Laut
übergingt). Der neue Diphthong wird in Texten des 12. Jahrhunderts
gelegentlich durch (ß wiedergegeben, besonders bei Orrm : cest, hrced, dcef
u. a. Doch scheint dies Zeichen bald nach 1220 aus der Mode ge-
kommen zu sein. (Vgl. auch die Ergebnisse Schlemilchs, unten S. 67.)
Die meisten Schreiber gebrauchten das alte ea auch nach der
Monophthongierung zunächst traditionell weiter, und schon bald nach
1100 wird es in umgekehrter Schreibung in Wörtern angewandt, die
ae. cß hatten; so bereits im späteren Teil der Sachsenchronik meast,
fearlice, liwear, ivearen, seagon u. a, ; gelegentlich auch für kurzes ce:
heafdon. Besonders häufig sind diese umgekehrten Schreibungen in der
Ancren Riwle. Aber nach 1250 wird ea seltner, und von 1300 an
kommt es in einheimischen Wörtern nur noch ganz vereinzelt vor. Nur
in Kent hat es sich auch im 14. Jahrhundert lebendig erhalten ; sowohl
im Ayenhit wie bei William of Shoreham ist es häutig.
Erst im 15. Jahrhundert beginnt die Schreibung ea sich wieder
auszubreiten. Daß diese Bewegung von Kent ihren Ausgang genommen
haben sollte, ist nicht wahrscheinlich, v. d. Gaaf sucht nachzuweisen,
daß die Wiedereinfüh rung der Schreibung ea in englischen
Wörtern und ihre zunehmende Häufigkeit im 15- Jahr-
hundert auf anglonor mannischem Einfluß beruht.
Eine der Eigentümlichkeiten des Anglonormannischen ist der früh-
zeitige Zusammenfall von ai und ei, wohl in einen dazwischenliegenden
Diphthongen [cßi], der später (etwa von 1100 an) in manchen Stellungen zu
et' monophthongiert wurde. Zur Wiedergabe dieses Lauts stand den
anglonormannischen Schreibern kein Schriftzeichen zur Verfügung; so
benutzten sie entweder die ursprünglichen Schreibungen ai und ei weiter,
oder sie gebrauchten das lautlich dem a; am nächsten stehende e. Da-
neben aber begannen sie (etwa vom letzten Viertel des 12. Jahrhunderts
1) V. d. Gaaf (S. 143) scLreibt „fa became [«:]". Aber der erste Laut des
ae. Diphthongen ca war kein geschlossenes f, sondern ea steht graphisch für cea.
56
an), offenbar unter englischem Einfluß, den Laut 'te durch ea wiederzu-
geben, wie es damals englischer Schreibergebrauch war. Und sie ver-
wandten den Digraph ca nicht bloß für altes ai, ei, sondern auch für
^ aus andern Quellen. In anglonormannischen Texten des 14. Jahr-
hunderts finden sich diese ea- Schreibungen häufig genug, z. B. feate
'facta', fear(e) 'facere', please 'placeat', ease, eagle, seal u. a.
Auch bei anglonormannischen Lehnwörtern im Englischen wird
das ce außer durch die traditionellen Schreibungen schon im 13. Jahr-
hundert gelegentlich durch ea wiedergegeben : me. eaise, isealede, reaisun,
heast. Doch sind solche Beispiele im 13. und 14. Jahrhundert im ganzen
noch spärlich. Von 14Ü0 an aber wird ea in französischen Lehnwörtern
immer häufiger.
Während also ea von 1250 — 1400 in englischen Wörtern außer
im Kentischen selten ist, tritt es in anglonormannischen Texten dieser
Periode ziemlich häufig auf und kommt auch in englischen Texten bei
französischen Lehnwörtern gelegeintlich vor. Ja, in manchen englischen
Schriften dieser Zeit begegnet ea in französischen Wörtern recht oft,
während es bei englischen völlig fehlt. Unter diesen Umständen erbhckt
van der Gaaf in dem allmählichen Wiederauftauchen des ea in eng-
lischen Wörtern im 15. Jahrhundert ein weiteres Beispiel des Ein-
flusses der anglonormannischen Orthographie auf die englische. Eine
Schreibergewohnheit, die das Anglonormannische in der zweiten Hälfte
des 12. Jahrhunderts aus dem Englischen entlehnt hatte, wurde zwei-
einhalb Jahrhunderte später von da aus wieder auf das heimische
Sprachgut übertragen, dem es über ein Jahrhundert lang fast völlig
fremd geworden war, während das Anglonormannische es beibehalten
hatte. Doch ist ea in englischen Wörtern auch im 15. Jahrhundert
immer noch verhältnismäßig selten. Selbst in Texten aus der Wende
des 15. und 16. Jahrhunderts ist es meist auf französische Lehnwörter
beschränkt. Erst im 16. Jahrhundert bürgert es sich mehr
und mehr ein und wird nun lauge Zeit hindurch häufiger äuge wandt
als heutzutage. Es scheint direkt eine Modeschreibung gewesen zu sein
und nicht immer denselben Laut bezeichnet zu haben, v. d. Gaaf stellt
eine große Anzahl von Wörtern, nach lautlichen Gruppen geordnet, zu-
sammen, die im 16. und 17. Jahrhundert im Unterschied von der
heutigen Orthographie vielfach mit ea geschrieben wurden.
V. Grammatische Gesamtdarstellungen
1. Historische Grammatik
C. Friedrich Kochs Historische Grammatik der englischen Sprache
(3 Bde., 1863 — 69; 2. Aufl. 1878 — 91), seiner Zeit ein verdienstvolles
Werk, ist längst veraltet. Kaluzas Historische Grammatik der eng-
lischen Sprache (2 Teile, 1900 — Ol ; 2., wesentlich verbesserte und ver-
mehrte Aufl. 1906 — 07) ist weniger eine streng wissenschaftliche Dar-
stellung als ein praktisch angelegtes Handbuch für Studierende mit
57
knapp gefaßten Regeln und zahlreichen Beispielen. Da der StoflF in
Querschnitten nach Perioden geordnet ist, läßt das Buch sich auch für
ein historisches Studium der alt- und mittelenglischen Grammatik be-
quem verwerten.
H. C. Wylds Ä Short Hisforp of English (London, Murray, 1914;
ins Deutsche übersetzt von Mutschmann, Heidelberg 1919), das mehr
eine historische Grammatik als eine Geschichte der englischen Sprache
enthält, wurde bereits oben (S. 2) gewürdigt. Es dient gleichfalls in
erster Linie den praktischen Zwecken des Unterrichts und behandelt
nicht alle Teile der Grammatik gleich ausführlich. Im Unterschied von
Kaluza hat Wyld nur die Lautgeschichte nach Perioden gegliedert,
während in der Formenlehre die Geschichte der einzelnen Wortkategorien
in ihrer Entwicklung aus dem Altenglischen bis ins Neuenglische durch-
laufend zur Darstellung gebracht wird.
Eine umfangreichere, allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende
Behandlung der historischen Grammatik des Englischen, von der Höhe
der modernen Forschung geschrieben, fehlte bisher. Niemand war besser
geeignet zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe als Karl L u i c k , der
sich durch seine früheren Arbeiten als Autorität auf dem Gebiet der
altenglischen, mittelenglischen, frühneuenglischen Grammatik und der
neueren Dialekte, sowie als gründlichen Kenner der Phonetik erwiesen
hatte. Seine Historische Grammatili, von der bisher 6 Lieferungen er-
schienen sind (Leipzig, Chr. Herm. Tauchnitz, 1914 — 21), soll zunächst
die Laut- und Formengeschichte in zwei Bänden darstellen, denen sich
später womöglich ein dritter Band mit der Geschichte des Satzbaus
anschließen wird. Das Werk enthält eine vollständige Zusammenfassung
der bisherigen Forschungsergebnisse auf Grund kritischer Prüfung, viel-
fach durch neue Gedanken vermehrt, berichtigt, ergänzt. Es gibt keine
Quer-, sondern Längsschnitte; es ist keine Regelsammlung über den
Laut- und Formenbestand der einzelnen Perioden, sondern legt das
Hauptgewicht auf die Schilderung der charakteristischen sprachgeschicht-
lichen Veränderungen in möglichst historischer Aufeinanderfolge.
Es beschreibt die Wandlungen, ihre zeitliche Begrenzung, ihre Be-
ziehungen untereinander; es sucht ihren sprachphysiologischen Verlauf
zu erklären und womöglich auch die tieferen Ursachen der Verände-
rungen zu ergründen. Schon die vorliegenden Lieferungen zeigen, daß
wir es mit einer mustergültigen Arbeit ersten Ranges zu tun haben, an
der kein Forscher künftig wird vorüber gehn können, und die nach
ihrer Vollendung auf lange hinaus die Grundlagen für die weitere
Forschung abgeben wird. Wir werden auf Einzelheiten des Inhalts
dieses bedeutenden Buchs im Verlauf unsrer Darstellung noch mehrfach
zurückzugreifen haben.
2. Alt- und Mittelenglische Grammatik
Auf dem Gebiet der altenglischen Grammatik ist in den
letzten Jahren keine neue, zusammenfassende Darstellung erschienen,
58
so dringend das Bedürfnis danach ist. Sievers' Änglsächsische Gram-
matik (3. Aufl. 1898), das klassische Werk über die altenglische Laut-
und Formenlehre, das seit langem vergriffen war, ist kürzlich (1921)
auf mechanischem Wege unverändert wieder abgedruckt worden, da
eine Neubearbeitung leider in absehbarer Zeit kaum zu erwarten ist.
Auch der kurze Abriß der angelsächsischen Grammatik von Sievers
(zuerst 1895 erschienen) wird von Zeit zu Zeit wieder neu abgedruckt
und ist für deutsche Studenten die beste Einführung in das Studium
der altenglischen Grammatik. SokoUs Lehrbuch der AUenglischen
(angelsächsischen) Sprache (Wien, Hartleben, o. J. [l9ül]), das als Vor-
stufe zu Sievers gedacht ist und dem Selbstunterricht dienen will, ist
nicht ungeschickt angelegt; es nimmt weitgehende Rücksicht auf die
historische Entwicklung, aber geht über die Bedürfnisse des Anfängers
erheblich hinaus und ist zudem, namentlich in der Lautlehre, vielfach
unzuverlässig (s. die ausführliche Besprechung von Bülbring Anglia
Beibl. 14, 1; 1903). Bülbring ist leider 1917 gestorben, ohne sein
treffliches Altenglisches Elementarblich, von dem 1902 die Lautlehre
erschien, vollendet zu haben. Auch dieses Buch greift weit über den
Rahmen eines Elementarbuchs hinaus: es ist eine streng wissenschaft-
liche, auf eigne Forschungen gegründete Darstellung der altenglischen
Lautlehre.
Die umfangreiche Old English Grammar von Joseph Wright
und Elizabeth Mary Wright (Oxford Univ. Press 1908), die außer
der Laut- und Formenlehre auch ein sehr willkommenes Kapitel über
Wortbildungslehre bringt, ist ebenso wie die in England oder Amerika
erschienenen altenglischen Elementarbücher von Sweet, Cook,Bright,
C. A. Smith und Wyatt, deutschen Studenten und Lehrern unter den
heutigen Verhältnissen kaum zugänglich. Auch eine neuere amerikanische
Einführung ins Altenglische von S. Moore and Th. A. Knott, The
Elements of Old English. Elementary Grammar and Beference Grammar
(Ann Arbor, Mich., 1919), kommt für den Gebrauch an deutschen Uni-
versitäten nicht in Betracht,
Ganz schlimm ist es um die mittelenglische Grammatik
bestellt. Eine erschöpfende, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende
Gesamtdarstellung derselben gibt es überhaupt nicht. Morsbachs
groß angelegte Mittelenglische Grammatik ist nicht über die erste Liefe-
rung (Halle 1895) hinaus gediehen. Einen brauchbaren Ersatz für die
Hand des Studierenden bietet einstweilen der mittelenglische Teil von
Kaluzas Historischer Grammatik (s. oben S. 57 f.). Ein neueres ameri-
kanisches Buch von Samuel Moore, Historical Outlines of English
Phonology and Middle English Grammar for courses in Chaucer, Middle
English, and the liistory of the English Language (Ann Arbor, Mich.,
1919), ist eine unsystematische Verquickung heterogenen Stoffs („The
Elements of Phonetics'^, „Modern English Sounds", „The Language
of Chaucer", „The History of Enghsh Sounds", „Historical Develop-
ment of Middle English Inflections", „Middle English Dialects") und
dient nur elementaren Bedürfnissen.
59
Unter solchen Umständen ist es hoch erfreulich, daß wir in der
3. — 6. Lieferung von Luicks Historischer GranimafiJc (s. oben S. 58)
jetzt wenigstens eine vollständige Darstellung der Geschichte des niittel-
englischen Vokalismus haben, die allen Ansprüchen wissenschaftlicher
Gründlichkeit gerecht wird.
Sehr willkommen ist auch die von EduardEckhardt mit dankens-
werter Hingebung bearbeitete dritte Auflage von ten Brink, Chaucers
Sprache und Vershunst (Leipzig 1920, Chr. Herrn. Tauchnitz). Über-
arbeitungen von Werken verstorbener Autoren sind immer undankbare
Aufgaben, und auch an dieser Bearbeitung wird der eine dies, der andre
das auszusetzen haben. Ln ganzen dürfen wir jedenfalls froh sein, aus
der Hand eines gewissenhaften, tüchtigen Forschers eine wissenschaft-
lich brauchbare Neuausgabe von ten ßrinks klassischem Werk über
die Sprache und Verskunst des größten mittelenglischen Dichters er-
halten zu haben. Eine knappe Darstellung des gleichen Gegenstands
bietet auch Kaluza in seinem Chaucer- Handbuch für Studierende
(Leipzig, Bernh. Tauchnitz, 1919), das im übrigen eine gute und reich-
liche Auswahl aus den Werken des Dichters mit kurzen Einleitungen
und einem Wörterverzeichnis enthält.
In einem bemerkenswerten Aufsatz über Soutlt-Eastern and South-
East Midland Dialects in Middle English (Essays and Studies by
Members of the Engl. Association 6, 112 — 145; Oxford 1920) unter-
zieht Henry Cecil Wyld auf Grund von 21 Kriterien aus der Laut-
und Formenlehre unter Zuhilfenahme der älteren Ortsnamen eine Anzahl
südostmittelländischer, kentischer und Londoner Texte einer genaueren
Prüfung, wobei er zu interessanten Aufstellungen kommt. Zu bedauern
ist nur, daß ihm dabei die wichtige einschlägige Arbeit von Heuser
(oben S. 29) entgangen ist, deren Ergebnis manche seiner Ausführungen
in anderm Licht erscheinen läßt. Namentlich eine Auseinandersetzung
mit Heuser über den Dialekt der Vices and Vertues und der übrigen
Londoner Denkmäler (oben S. 30 f.) wäre erwünscht gewesen.
3. Neuenglische Grammatik
Für die neuenglische Grammatik liegen die Diu^e wesentlich besser
als für die mittelenglische. Zunäciist zwei ältere Werke. Henry Sweets
New English Gramm ar, logical and historical (Oxford 1892), seinerzeit
das beste auf dem Gebiet, ist auch heute noch wertvoll, obschon in
manchen Punkten überholt. Wilhelm Horns Historische Neuenglische
(rramniatih (1. Teil, Straßburg 1908) ist ein dankenswerter erster Ver-
such, die reichhaltigen neueren Forschungsergebnisse in übersichtlicher,
praktisch brauchbarer Form zusammenzufassen. Leider ist bisher nur
die Lautlehre erschienen.
Ein groß angelegtes, durchaus originelles Werk ist Otto J es-
per sen, A Modern English Grammar on historical Frinciples. Bis jetzt
liegen zwei Teile davon vor: L Sounds and Sjjc/lings (Heidelberg 1909)
und HL Syntax, l. Band (1914). Es vereinigt in bewundernswerter
60
Weise Scharfsinn und Schöpferkraft mit eingehender Kenntnis der histo-
rischen Grammatik und gründlicher Beherrschung des modernen Eng-
lisch, dessen geschichtlicher Erklärung das Werk letzten Endes dienen
will, "überall enthält es neue Beobachtungen, neue Beleuchtung bekannter
Tatsachen, neue Theorien, die wohl manchmal zum Widerspruch heraus-
fordern, aber immer zum Nachdenken anregen. Es ist die beste wissen-
schaftliche Gesamtdarstellung der neuenglischen Grammatik, die wir
haben. Freilich ist sie mehr für Vorgeschrittene als zur ersten Ein-
führung in den Stoff geeignet.
Für Studierende ist Eile rt Ekwa 11s vortreffliche Historische Neu-
englische Laut- zmd Formenlehre in der Sammlung Göschen (1914) am
meisten zu empfehlen, die auf knappem Raum eine zuverlässige, klare,
mit selbständigem Urteil durchgeführte Darstellung der historischen Laut-
und Formenlehre des Neuenglischen mit vielen wertvollen Ergebnissen
eigner Forschung bietet.
Ein wichtiges Hilfsmittel für das Studium des älteren Neuenglisch
ist auch die Shahespeare-Grammatih von W. Franz (l. Aufl. Halle
1898 — 1900; 2., wesentlich vermehrte und verbesserte Auflage, Heidel-
berg 1909). Sie behandelt die Schreibung, Aussprache, Wortbildung,
Flexion und besonders ausführlich den Satzbau des Dichters. Sie be-
ruht auf langjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstand und ist das
beste, was wir über Shakespeares Sprache haben. Nur für die Laut-
lehre steht ihm W. Victors Shakes2)eare Phonology (Marburg 1906)
als wertvolle Ergänzung zur Seite.
4. Grammatik der heutigen Gemeinsprache
Von älteren grammatischen Darstellungen des lebenden Englisch
tun Immanuel Schmidts Grammatik der englischen Sprache (7. Aufl.
1908) und John Kochs Wissenschaftliche Grammatik der englischen
Sprache (Berlin 1889; jetzt Hamburg, Henri Grand) immer noch gute
Dienste.
Das umfassendste deutsche Lehrbuch des heutigen englischen Sprach-
gebrauchs aber ist Gustav Krüger, Schwierigkeiten des Englischen
(Dresden, C. A. Koch; 1. Aufl. 1897 — 1904; 2., neubearbeitete Aufl.
1910 — 19; 3. Aufl., 1. Teil 1920). Der etwas absonderliche Titel
wird dem reichen Inhalt des Werks nicht gelf'echt. Es ist nach Anlage
und Ausführung allerdings eine eigenartige Schöpfung. In seinen zahl-
reichen, umfangreichen Bänden bietet es nicht nur eine Grammatik, son-
dern auch eine systematische Darstellung des Wortschatzes. Von jeder
historischen Behandlung wird abgesehen; die Aufmerksamkeit ist ganz
auf den lebenden Sprachgebrauch konzentriert.
Das Buch zerfällt in der 2. Auflage in vier Teile. Auf den ersten
Teil, der von Synonymik und Wortgehrauch handelt, wurde oben (S. 42)
bereits hingewiesen. Der zweite Teil, Syntax betitelt, stellt seinen Gegen-
stand „vom englischen und deutschen Standpunkt" aus dar und enthält
außer der Satzlehre auch „Beiträge zu Wortbildung, Wortkunde und
61
Wortgebrauch". Er zerfällt in vier durchpaginierte Bände von 2480
Seiten, wozu noch das dem 3. Band beigegebene Vorwort von XL Seiten
und die ausführlichen Inhaltsverzeichnisse kommen. Der 1. Band des
zweiten Teils (1914) behandelt „Hauptwort; Eigenschaftswort; Umstands-
wort; Fürwort"; der 2. Band (1915) das „Zeitwort"; der 3. Band
(1917) „Frage, Beifügung, Übereinstimmung, Nachdruck, Satzverbin-
dung, Stellung, Verhältniswort, Gefühlswörter, Ausrufe, Schreibung".
Dazu kommt als 4. ein besonderer Registerband (1907). Es ist keine
eigentliche Syntax, überhaupt keine systematisch angelegte Grammatik
im gewöhnlichen Sinn, sondern eine eigentümliche Mischung von For-
menlehre, Wortbildungslehre, Satzlehre und Phraseologie. Die Bände
enthalten zahlreiche originelle Beobachtungen und eine Fülle wertvollen
BeispielstofFs, leider ohne die Belegstellen, was zu bedauern ist, weil ohne
solche Nachweise nicht beurteilt werden kann, welcher Periode der Beleg
entstammt, und ob er einem erstklassigen oder einem minderwertigen
Schriftsteller entnomnien ist. Anordnung und Druck des endlos gehäuften
Stoflfs lassen oft die Übersichtlichkeit vermissen, doch wird der Gebrauch
durch gute Inhaltsangaben und Kegister immerhin erleichtert. Der Schlüssel
zur Aussprachebezeichnung genügt wissenschaftlichen Ansprüchen nicht.
Der dritte Teil, Vermischte Beiträge zur Syntax (1919), bringt
eine Reihe anregender und belangreicher Aufsätze über Fragen der mo-
dernen Syntax: z. B. über „Die Mischfügung der eigenschaftwörtlichen
und hauptwörtlichen Zeitwortform", d. h. die Mischung von Partizip und
Gerundium (Excuse me [niy] laughing), über das Gerundium, über
Zwischenschiebungen verschiedener Art im Englischen, über mily too, I
meant to have gone, über die Auslassung des Relativs, über den Ursprung
von Wendungen wie I was given the hook usw.
Der vierte Teil, betitelt ünenglisches Englisch (1918), enthält
„eine Sammlung der üblichsten Fehler, welche Deutsche beim Gebrauch
des Englischen machen", alphabetisch nach Schlagwörtern geordnet. In
dem Bande lindet man manche gute Bemerkungen und pädagogisch wert-
volle Regeln über Einzelheiten der Wortbildung, Synonymik, Phraseo-
logie, Stilistik und Syntax, bei denen Deutsche erfahrungsgemäß gern
Fehler machen. Aber ein guter Teil des recht bunten, aus den eignen
Lehrerfahrungen des Verfassers erwachsenen Stoffs ist überflüssig, ein
andrer erscheint unter Stichwörtern, wo man ihn nicht vermutet. Man
kann überhaupt bezweifeln, ob für eine derartige Fehlersammlung alpha-
betische Anordnung die richtige ist; für manche Fälle wäre sicher eine
systematische Besprechung nach grammatischen oder sachlichen Gesichts-
punkten praktischer gewesen.
Eine dunkle Seite des Buchs ist die grammatische Termino-
logie. Bei der grundsätzlichen Bedeutung der Sache mag hier mit
einigen Worten darauf eingegangen werden. Krüger spricht sich in
einem besondern Abschnitt „Zu den Fachbezeichnungen der Sprach-
lehre" am Schluß des 3. Bandes der Syntax eingehend darüber aus.
Er ist Purist schärfster Tonart; er sucht sämtliche grammatischen BVemd-
wörter durch deutsche zu ersetzen, und wenn dabei auch noch so un-
62
geheuerliche Bildungen herauskommen. Für Elementarb ücber läßt man
sich das gefallen. Manche Fremdwörter machen den Schülern erfahrungs-
gemäß zuerst erhebliche Schwierigkeit, und man versteht es, wenn in
Elementarschulen „Wesfall" für Genitiv, „Wemfall" für Dativ, „Eigen-
schaftswort" für Adjektiv gesagt wird. Aber anders liegt die Sache
doch bei Büchern, die nicht eigentlich Schulbücher, sondern Nachschlage-
werke von mehr oder weniger wissenschafthchem Charakter sind. Wie
die Wissenschaft selbst, so hatte auch die Sprache der Wissenschaft
bisher einen internationalen Grundzug. Zwar die Zeit, wo Latein die
internationale Gelehrtensprache war, ist mit Recht vorbei. Zum Aus-
druck der mannichfachen Begriffe der modernen Wissenschaft und der
Verhältnisse des modernen Kulturlebens ist eine tote Sprache ungeeignet.
Aber mit Fug und Recht hat man bisher auf Grund des griechischen
und lateinischen Wortschatzes zahllose Neubildungen von Ausdrücken
der Wissenschaft und Technik geschaffen, um sie den Vertretern aller
modernen Kulturvölker leicht verständlich zu machen. Nicht alle diese
Bildungen sind glücklich; auch auf grammatischem Gebiet könnten
manche Fremdwörter recht wohl durch bessere einheimische ersetzt
werden, und Ausdrücke wie „Einzahl", „Mehrzahl", „Fürwort" läßt man
sich neben Singular, Plural, Pronomen auch in wissenschaftlichen Werken
gern gefallen. Aber drei Forderungen sind an alle Verdeutschungen
von Fremdwörtern zu stellen: sie müssen klar, sie müssen kurz, und
sie müssen leicht auszusprechen sein. Diese Forderungen werden aber
bei vielen von Krügers Verdeutschungen nicht erfüllt; man vergleiche
z. B. „hauptwörtliche Zeitwortform" mit Gerundium, „zeitwörtliche
Hauptwortform" mit Verbalsubstantiv, „ eigenschaftswörthche Zeitwort-
form" mit Partizip u. dgi. m. Die deutsche Sprache mit ihren starken
Konsonantenhäufungen ist für solche Bildungen weniger geeignet als
die romanischen mit ihren vorherrschenden Vokalen. Vor allem aber
haben die Fremdwörter eines vor den Verdeutschungen voraus: aus
jedem Hauptwort lassen sich ohne weiteres mit vokalisch anlautenden
Suffixen leicht auszusprechende Adjektiva machen, wie „Partizip" —
„partizipial". Im Deutschen steht für solche Bildungen in erster Linie
nur das Suffix -lieh zur Verfügung, wodurch schwer aussprechbare
Wörter entstehen. Und wie soll zu „eigenschaftswörtliche Zeitwortform"
das Adjektiv gebildet werden?
Um durch die häufige Wiederkehr seiner Wortungetüme sein um-
fangreiches Werk nicht noch erhebHch mehr anzuschwellen, hat Krüger
seine Zuflucht zu Abkürzungen genommen, die in großer Zahl in den
Text eingestreut sind. Aber diese Abkürzungen sind so ungewöhnlich
und unverständlich, daß der Leser auf Schritt und Tritt darüber stolpert,
und daß die „Schwierigkeiten", die der Verfasser in seinem Buch be-
heben will, durch neue verschlimmert werden. Aus der großen Zahl
solcher Abkürzungen seien nur einige herausgehoben : a. = aussagend
(a. h. prädikativ), Asb. = Aussagebestandteil, Aussagebeiwort (d. h. Prä-
dikatsnomen), Bf. = Besitzfall (d. h. flektierter Genitiv), Bff. = Befehlform
(d, h. Imperativ), bg. E. = begleitendes Eigenschaftswort (d. h. attributives
63
Adjektiv), c.Z. = eigenschaftwörtliches Zeitwort (Partizip), f. Z. = ferneres
Ziel (Dativobjekt), Hstgf . = Höchstgradforra (Superlativ), m. Z. = mittel-
bares Ziel (Dativobjekt), uo. ob. = unterordnendes Satzbindewort (Kon-
junktion), uw. Ra. = umstandswörtliche (adverbiale) Redensart, usw.
Welcher Leser wird beim Benutzen des Werks die Auflösungen solcher
Abkürzungen immer gegenwärtig haben?
Der Verfasser hat dem Leser den Gebrauch seines Buchs nicht
gerade leicht gemacht. Aber wir wollen darüber den wahren Wert der
inhaltreichen Bände nicht aus den Augen verlieren. Alles in allem:
ein etwas ungeschlachtes, aber wertvolles Riesenwerk, das als unentbehr-
liches Nachsclilagebuch jedem Forscher, Lehrer und Studierenden zur
Hand sein sollte.
Systematischer als bei Krüger ist die grammatische Darstellung des
lebenden Englisch in der großen Grammar of Lote Modern Etiglish
des Holländers H. Poutsraa geordnet. Das Werk, von dem bisher
drei starke Bände erschienen sind (P. Noordhoff, Groningen, 1904 — 16),
zerfällt in zwei Teile. Der erste (Part I) behandelt den Satz, und zwar
im 1. Abschnitt (S. 1 — 348; 19o4) die Teile des einfachen Satzes (The
Elements of the Sentence), im 2. (S. 349 — 812; 1905) das Satzgefüge
(The Composite Sentence). Part II handelt von den Redeteilen (The
Parts of Speech). Der 1. Abschnitt des II. Teils erörtert in 2 Bänden:
l) Substantiva, Adjektiva und Artikel (1914), 2)^^ Pronomina und Zahl-
wörter (1916). Poutsma ist ein scharfer Beobachter und gi'ündlicher
Kenner des modernen Englisch. Sein Werk ist das Ergebnis lang-
jähriger, fleißiger Forschungen. Der hervorstechendste Zug desselben
ist die Belegung der aufgestellten Regeln durch eine ungeheure Menge
von Zitaten, die teilweise aus andern Grammatiken und Wörterbüchern
entnommen sind, in ihrer überwiegenden Mehrzahl aber eignen Samm-
lungen des Verfassers entstammen, die er aus zahllosen und mannig-
fachen Quellen : aus literarischen und wissenschaftlichen Werken , Zeit-
schriften und Tagesblättern, zusammengetragen und mit genauen Nach-
weisen versehen hat.
Poutsmas Grammar ist die vollständigste und beste deskriptive
Gesamtdarstellung der englischen Literatur- und Umgangssprache der
letzten zwei Jahrhunderte. Aber in der Vollständigkeit liegt auch eine
Schwäche des Buchs begründet. Es enthält manch überflüssigen Stoff.
Unter dem Streben nach Genauigkeit und Vollständigkeit und unter der
Fülle der Beispiele leidet die Übersichtlichkeit. Eine stärkere Hervor-
hebung des für den Ausländer Wesentlichen wäre wünschenswert. Das
Buch ist für Vorgerücktere bestimmt; als Schulbuch kommt es nicht in
Betracht. Aber für den Gebrauch auf Universitäten, sowie für jeden,
der sich eindringender mit dem Studium des Modernenglischen befaßt,
ist Poutsmas Werk ein wichtiges, anregendes, unentbehrliches Nach-
schlagebuch.
Auch zwei andre holländische Grammatiken des heutigen Englisch,
gleich Poutsmas Buch in englischer Sprache geschrieben, seien der Be-
achtung deutscher Lehrer und Studierender empfohlen.
64
J. H. A. G ü n t h e r , ^ Manual of English Prommciation and Gram-
mar for fhe Use of DutcJi Stuäents, dessen 1. Auilage fünf Jahre vor
Poutsma erschien (Groningen, J. B. Wolters, 1899; 3. Aufl. 1916), zer-
fällt in zwei Teile: 1. eine phonetisch begründete Aussprachelehre mit
einem Eigennamenverzeichnis, die zusammen fast ein Drittel des Buchs
einnehmen ; 2. die eigentliche Grammatik mit zahlreichen Beispielen aus
der neueren Literatur unter Angabe der Verfasser, aber nicht der Beleg-
stellen. Das recht brauchbare Handbuch ist in der Hauptsache deskriptiv
gehalten unter gelegentlicher Zuhilfenahme der historischen Grammatik.
Umfangreicher ist das tüchtige Werk eines Schülers von Bülbring:
E. Kruisinga, Ä Handhooh of Fresent-Bay English (Utrecht, Ke-
raink & Zoon). Es gibt in zwei Bänden eine wissenschaftliche Beschrei-
bung des Baus des heutigen Englisch für Vorgerücktere. Von einer histori-
schen Behandlung des Gegenstands ist abgesehen, damit der Studierende
sein volles Augenmerk auf das heutige Englisch richten kann. Band I,
English Sounds betitelt (l. Aufl. 19U9; 2. Aufl. 1914; 3., erweiterte Aufl.
1919), gibt zuerst eine allgemeine phonetische Grundlage, dann eine
eingehende Darstellung der Aussprache der englischen Laute und ihrer
Wiedergabe in der Schrift, endlich Wort- und Namenlisten mit phone-
tischer Umschrift. Band U, English Äccidence and Syntax (1. Aufl. 1911 ;
2., umgearbeitete Aufl. 1915; 3., überarbeitete und stark vermehrte Aufl.
1922), behandelt im ersten Abschnitt die Redeteile. Bei jedem wird zuerst
die Formenlehre, dann die Verwendung im Satz besprochen. Der zweite
Abschnitt ist der Wortbildung, der dritte dem Satzbau gewidmet. Die Re-
geln werden durch zahlreiche Beispiele erläutert. Die Belegstellen, die in
der 1. Auflage meist fehlten, sind in der 2. und 3. zum größten Teil
hinzugefügt. Band HB, Ä Shorter English Äccidence and Syntax (1912),
ein Auszug aus dem vorigen, ist speziell für Schulen bestimmt, gibt aber
auch Studierenden eine gute Übersicht über den grammatischen Stoff
in knapper Fassung. In seiner Darstellung der Formenlehre unter-
scheidet sich Kruisinga darin von den meisten deutschen Grammatikern,
daß er seine Regeln zunächst auf der Aussprache aufbaut und erst
dann die Schreibung behandelt. Sein Handbuch des heutigen EngHsch
ist eine wissenschaftliche Leistung von originellem Wert und wird auch
deutschen Anglisten viel Anregung bieten.
5. Grammatik der heutigen Dialekte
Die neuenglische Dialektkunde ist im letzten Jahrzehnt durch
mehrere Arbeiten aus Brandls Schule kräftig gefördert worden : Jo-
hannes Sixtus, Der SpracJigebrauch des DialeJct- Schriftstellers Frank
Bohinson zu JBowness in Westmorland (Palaestra 116; Berlin 1912);
Bruno Schulze, Exmoor Scolding and Exmoor Courtship (Pal. 19;
1913); Willy Klein, Der Dialekt von Stokesley in Yorhshire, North-
Biding (Pal. 124; 1914); Theodor Alb recht. Der Sprachgehrauch des
Dialehtdichters Charles E. Benham mc Colchester in Essex (Pal. 111;
1916). Alle vier sind ähnlich angelegt. Erst berichten die Verfasser
Wissenscliaftliche Forachungsberichte IX. 5
65
über ihre Dialektstudien an Ovt und Stelle und den Ursprung ihrer
Dialektproben; dann kommt die Transskription der granimophonischen
Aufnahmen (deren Platten zur Kontrolle im Englischen Seminar der
Berliner Universität aufbewahrt werden); darauf folgt eine Leselehre,
eine ausführliche Lautgeschichte, dann außer bei Klein auch eine Flexions-
lehre und schließlich die Zusammenfassung der Ergebnisse. In den
Lautgeschichten, die ans Mittelenglische anknüpfen, finden sich manche
auch für die allgemeine englipche Lautgeschichte und die Schriftsprache
interesbiante Ergebnisse, die in den Schlußübersichten zusammengestellt
werden.
VI. Lautlehre
1. Gesamtdarstellungen und Quellenkunde
Eine monographische Gesamtdarstellung der englischen Lautgeschichte
hat Henry Sweet in seiner Histonj of Eriglish Sounds (Oxford 1888)
gegeben. Obwohl schon über dreißig Jahre alt und in vielen Punkten
durch die neuere Forschung überholt und ergänzt, ist das originelle
Buch für diejenigen, die sich eindringender mit dem Studium der eng-
lischen Lautgeschichte befassen wollen, doch immer noch anregend und
wertvoll. Selbstverständlich wird aber die Lautgeschichte auch in den
oben (S. 57 f.) besprochenen Gesamtdarstellungen der historischen Gram-
matik mehr oder weniger ausführlich behandelt.
Beachtenswerte Untei'suchungen über die Laut Verhältnisse in
der Übergangszeit vom Alt- zum Mittelenglischen, vom
Anfang des 11. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, wo die ersten rein
mittelenglischen Denkmäler auftreten, gibt Willy Schlemilch in
seinen Beiträgen zur Sprache und Orthographie spätaltengl. Sprach-
denkmäler der Übergangszeit (1000 — 1150) (Morsbachs Studien z. engl.
Philol. 34; 1914). Größere Originalwerke, die in der gesprochenen
Sprache dieser Zeit geschrieben sind, gibt es nicht. Die erhaltenen
Texte sind größtenteils Abschriften älterer Vorlagen ; die wenigen, meist
auf sächsischem Boden entstandenen Originalwerke sind in der traditio-
nellen Schreibweise abgefaßt. Doch flössen den Schreibern unwillkür-
lich jüngere Sprachfoimen unter, die den vorgeschrittenen Lautstand
verraten. Die Beurteilung dieser Mischsprache ist oftmals schwierig, und
es war keine leichte Aulgabe, die Ergebnisse der zahlreichen, schon vor-
liegenden Einzeluntersuchungen auf. diesem Gebiet zusammenzufassen,
kritisch zu sichten und durch eigne Nachprüfungen und Forschungen
zu einem Gesamtbild zu ergänzen. Schlemilch hat sich dieser Aufgabe
mit Geschick unterzogen. Er behandelt allerdings in der Hauptsache
nur die betonten Vokale; der Konsonantismus wird nur nebenbei, die
Flexionslehre gar nicht berücksichtigt.
Die wichtigsten Ergebnisse Schlemilchs, die zum Teil allerdings
nur Bekanntes bestätigen, sind die folgenden: 1. In spätae. Zeit (etwa
um lOOOj, im Kentischen sogar schon in frühae. Zeit, vollzieht sich
66
die Ausbildung neuer Diphthonge aus hellem Vokal und
palataler Spirans: ceg-cei-ai, 'ceg-'cei-ai, eg-ei, eg-ei (ß.'il). Die Schrei-
bungen schwanken; zunächst wird zwischen (S^, ei vielfach ein i ein-
:,'esehoben, später einfach ce/, ai, ei geschrieben ;_z. B. äaii, smd, mal;
ceiider, ceiäer, eiper, dei, Claifüne; maiz, mal, cmzen, heiie, keie; weis,
pein; hei^ra, tweice. — 2. Die altengl. Diphthonge ea und ea
werden in der ersten Hälfte des 11. Jahrhs zu ce bezw. ce
monophthongiert (S. 26 u. 36). Die Schreibung schwankt zwischen
ea, ecB, aa, ce, e : (saH, cert, sweH; fl^a ''Floh', l^f 'Laut'; doch wird
meist die traditionelle Schreibung ea beibehalten. — 3. Die altengl.
Diphthonge eo und eo werden etwa um 1150 zu ö bzw. Wi
monophthongiert (S. 32. 37. 46) Die Schreibung eo bleibt meist bewahrt,
doch treten daneben ceo, cea, e, 0 u. a. auf: luceoräe 'wert', Jierte 'Rerz',
hört 'Hirsch'; h^o "^sie', Uafa 'lieb', ßre 'drei', hröst 'Brust'. — i. Ae. ce
-amt dem im 11. Jahrh. zu ce monophthongierten ea wird seit 110 0
zu a (S. 5. 46): fast, water, fader, aher. — 5. Um dieselbe Zeit
wird in einem Teil des Südostens auch ae. 'ce jeglicher Her-
kunft zu ä: älc, änig, ärest, clünsung , liädene, lärad; äfre, däde,
-präce, ivüre. Dieser Lautwandel findet sich in der Hs. A der Gesetze
Knuts, sowie in drei Denkmälern des Ms. Harl. 6258 im Brit. Museum:
den spätae. Abschriften des Herbarium Apuleii und der Medicina de
Quaärupedibus und in dem Traktat Peri Didaxeoji, die alle der ersten
Hälfte des 12. Jahrh.s angehören (Schiemiich S. 19, Aum. 1; 72f. ; vgl.
dazu Delcourt in seiner Ausgabe der Iled de Quadr. Angl. Forsch. 40,
S. XXHI, § 10. 11). Dieselben Denkmäler haben auch die teilweise
Entrundung des g zu i (neben u und seltnerem e), sowie ce als *- Um-
laut von a 0 gemeinsam. Schlemilch spricht sich über die Heimat der
vier Denkmäler widersprechend aus: S. 20 u. 46 verlegt er sie mit
Morsbach in den Südosten, S. 71 weist er sie mit Schießl ,, einem spät-
westsächsischen (nicht südöstlichen) Paiois zu". Nach den oben (S. 31)
besprochenen Untersuchungen von Heuser dürften sie in die Gegend
von Middleses bis Essex gehören, wo west- und ostsächsische
EigentümUchkeiten sich begegnen. — 6. Von 1100 an beginnt im
Süden die Verdumpfung des ae. ä zu ö; nach der Mitte des
Jahrhunderts wird sie häufiger. Schreibung o: nön, twö , hivö. —
7. In der ersten Hälfte des 12. Jahrh.s beginnt auch die
Ausbildung neuer Diphthonge aus dunkelm Vokal -}- w,
zuerst im Auslaut: cläu, säide, sträu, peiidöm 'Dienst' (S. 45f.). —
8. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrh.s beginnt der Über-
gang des Velaren Spiranten 3 zu iv , zuerst belegt in den spä-
teren Worcester-Denkmälern : ütlaive; elbowe, heretowa, bowa; fuwelare
u. a. (S. 44 f). Dieses neu entstandene w wird später auch vokalisiert.
Aber die Entwicklung der neuen i- Diphthonge aus ae. hellem Vokal
+ palataler Spirans setzt etwa zwei Jahrhunderte früher ein als die
Entwicklung der neuen «-Diphthonge aus dunkelm Vokal -j- velarer
•Spirans (S. 41).
In seinem dritten Kapitel handelt Schlemilch über Dehnung aus-
5*
67
lautender und inter vokalischer Konsonanten, aber er unterscheidet hier
nicht schart" genu{2j zwischen wirklicher Konsonantendehnung und bloßer
Doppelschreibung. Ich glaube mit Ekwall (Angl. Beibl. 26, 'öl:
Febr. 1915), daß man es hier vielfach mit einer rein graphischen Er-
scheinung zu tun hat.
Eine wichtige Unterlage für die Erforschung des älteren Neu-
englischen, insbesondere der Aussprache, bilden die Grammatiken
des 16. — 18. Jahrhunderts. Man hat ihre Bedeutung seit langem
erkannt, und Alexander J. Ellis hat in seinem monumentalen Werk
On Earhj English Pronunciation (Bd. 1 — 4, London 1869 — 74) nicht
nur die Grammatikerangaben ausgezogen, sondern auch die übrigen
literarischen Zeugnisse zur enghschen Aussprache vom 14. — 18. Jahr-
hundert zusammengestellt und kritisch verwertet. Sein Werk wird noch
auf lange eine wichtige Schatzkammer für lautgeschichtliche Unter-
suchungen bleiben.
Aber in vielen Fällen stellte es sich doch heraus, daß die Auszüge
von Ellis nicht genügen, daß es wünschenswert ist, auf die Quellenwerke
selbst zurückzugehn, die freilich heute oft schwer zugänglich sind. Man
schritt infolgedessen zu Neuausgaben, und einige der alten Grammatiker
liegen heute bereits in guten Neudrucken vor. Besondere Verdienste
hat sich in dieser Hinsicht R. Brotanek mit seiner Sammlung Neu-
drucke frühneuenglischer Grammatiken (Halle, Niemeyer, 1905 ff.) er-
worben, von der bis jetzt sieben Bände erschienen sind. Mit dem Wieder-
abdruck dieser alten Grammatiken muß eine Kritik ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit und ihrer Bedeutung als originaler Quellen für unsre Er-
kenntnis des frühneuenglischen Sprachzustands Hand in Hand gehn.
Besonders von ihren Ausspracheregeln ist festzustellen, inwieweit sie auf
selbständiger Beobachtung des lebenden Sprachgebrauchs beruhen oder
aus älteren Grammatiken übernommen sind. Manche dieser Sprach-
bücher sind in geradezu schamloser Weise von nachfolgenden Autoren
ausgeraubt worden, und namentlich die späteren Grammatiken aus dem
Ende des 17. Jahrhunderts sind nur mit größter Vorsicht als Original-
quellen zu verwerten.
Eine kritische Bibliographie der älteren Sprachlehren, wie die Ro-
manisten sie seit 1890 in Stengels Chronologischem Verzeichnis fran-
zösischer Grammatiken haben, ist für die Anglisten ein dringendes
Bedürfnis. Hoffentlich wird uns Brotanek bald die von ihm in Aus-
sicht genommene Quellenkunde der frühneuenglischen Lautgeschichte
schenken, die diese Lücke ausfüllen soll. Einstweilen müssen wir dank-
bar alle Beiträge begrüßen, die geeignet sind, uns jenem Ziel näher zu
führen, so Zachrissons Notes on some Early English and French
Grammars (Angha Beibl. 25, 245; 1914) mit Hinweisen auf einige
bisher unbekannte oder nicht genügend ausgeschöpfte Quellen der früh-
neuenglischen Aussprache und beachtenswerten Darlegungen über das
Abhängigkeitsverhältnis verschiedener älterer Grammatiker.
Übrigens bieten nicht nur die einheimischen, sondern auch die
älteren ausländischen Grammatiken des Englischen vielfach wichtige
68
Anhaltspunkte zur Beurteilung der zeitgenössischen englischen Aussprache.
Namentlich französische, aber auch deutsche und skandinavische Gram-
matikerzeugnisse hat man zu diesem Zweck mit Erfolg herangezogen.
Die ältesten schwedischen Werke über englische Aussprache hat
A. Gabrielson in seiner Abhandlung The earliest Sivedish Worhs on
English Pronunciatmi fbefore 1750) (Studier i Modern Spräkvetenskap
VI, 1, Uppsala 1917) kritisch zusammengestellt. Theo Spira, ein
Schüler W. Horns, hat in einer wertvollen Gießener Preisarbeit Die
englische Lautenüvicklung nach französischen Grammatiker- Zeugnissen
von Bellet (1580) bis Siret - Poppleton (1815) mit behutsamer Kritik
untersucht und für die Lautgeschichte nutzbar gemacht (Straßburg 1912;
Quellen u. Forsch. 115).
Andre Gießener Dissertationen der letzten Jahre, gleichfalls aus der
Schule Horns hervorgegangen, haben die Kritik und lautgeschichtliche
Verwertung englischer Grammatiken des 18. Jahrhuunderts
zum Gegenstand. Karl L. Kern behandelt Die englische Lautent-
wicJchmg nach "^ JRight Spelling^ (1704) und anderen Grammatiken um
1700 (Darmstadt, Druck von K. F. Bender, 1913), Christian Müller
Die englische LatttentivicMung nach Lediard (1725) und anderen Gram-
matikern (ebenda 1915), Hans Stichel Die englische Aussprache
nach den Grammatiken Peytons (1756, 1765) (ebenda 1915), Engel-
bert Müller endlich die Englische Lautlehre nach James Elphinston
(1765, 1787, 1790) (Heidelberg 1914; Anglist. Forsch. 43). Mit Recht
hat Hörn in diesen Monographien die englische Aussprache des 18. Jahr-
hunderts genauer erforschen lassen, die bislang bei der Behandlung der
historischen Lautlehre des Neuenglischen ungebührlich vernachlässigt
war. Die Arbeiten sind mit Sorgfalt und umsichtiger Kritik ausgeführt,
und besonders die von Stichel und die umfangreiche Abhandlung von
Engelbert Müller kommen zu wertvollen Ergebnissen. Die Dissertation
von Christian Müller hat eine ausführliche und belangreiche Kritik durch
Zachrisson (Angl. Beibl. 28,68 — 82; 1917) erfahren; darin ist be-
sonders die Bemerkung (S. 72) von Interesse, daß die Ausspracheregeln
des Deutschen Lediard in seiner Grammatica Anglicana Critica von
1725 auf selbständige Beobachtung gegründet zu sein scheinen, und
daß Lediard unsre zuverlässigste und wertvollste Autorität
über die Aussprache im Anfang des 1 8. Jahrhunderts ist,
2. Vokalismus
Da Sievers' Angelsächsische Grammatik (3. Aufl. 1898) und
Bülbrings Altenglisches Elementarhuch (1902) leider nicht mehr neu
aufgelegt und in manchen Punkten durch den Fortschritt der Wissen-
schaft überholt sind, ist es sehr erfreulich, daß wir in den beiden ersten
Lieferungen von L u i c k s Historischer Grammatik der englischen Sprache
(1914; s. oben S. 58) jetzt eine kritisch gesichtete Geschichte der alt-
englischen Sonanten nach dem heutigen Stand der Forschung besitzen.
Luick geht in seiner Darstellung vom indogermanischen Sonantensystem
69
aus, beschreibt dann die Ausbildung des urgermanischen Sonantensystems,
die gemeinwestgermanischen Wandlungen, die englisch-nordischen Überein-
stimmungen, die anglofriesischen Veränderungen, um darauf die eigent-
lich altenglischen Lautvorgänge in historischer Reihenfolge zu besprechen.
Aus der Fülle von Neuem, das uns in diesen Lieferungen geboten wird,
seien ein paar besonders bemerkenswerte Punkte herausgegriffen.
Den Wechsel des Wurzelvokals in ae. hudon 'boten' — hoden
'geboten', hoda 'Bote', in Imlpon 'halfen' — holpen 'geholfen', wiirpon
'warfen' — ivorpen 'geworfen', gülden 'gülden' — gohV Gold' erklärt man
gewöhnlich durch die Wirkung des a- Umlauts. Nach dieser Annahme
wurde urgerm. u zu o, wenn in der nächsten Silbe ein a-, e-, o-Laut
stand: hoden, liolpen, worpen aus '^buctanaz, '•^'hulpanaz, Hvurpanaz, gold
aus *zulpa\ dagegen blieb u bewahrt vor Nasal + Konsonant, sowie
vor i, j, u der Folgesilbe: Kunden 'gebunden' aus '■'' bundanaz , gylden
mit Umlaut aus älterem ^-'giildm, hudon, Imlpon, iviirpon aus älterem
hudim, htdpun, wurpim. Dem gegenüber ist Luick (§ 77, Anm. 4)
geneigt, sich der von Bremer (Idg. Forsch. 26, 148; 1909) ent-
wickelten Auffassung anzuschließen. Danach ist jedes idg. u sowie
das u aus idg. l, r m, n urgerm. zu o geworden, und dieses
0 wurde um den Beginn unsrer Zeitrechnung vor Nasal
-{- Konsonant, vor i, j, u der Folgesilbe, im Angelsäch-
sischen auch in labialer Umgebung und vor einfachem
Nasal, wieder zu u, während sonst das o bewahrt bheb; also ae.
hunden, gylden, liycgan 'denken', duru 'Tür', hidpon, ivurpon, wie?/" Wolf,
^^mo>* 'Donner', aber dar 'Tor' aus urgerm. ""^cifora, hören 'geboren' aus
'*bo)'anaz, holpen aus ^'liolpanaz, doJiter aus *doliter, nosu aus *nosö,
wo 0 überall in urgerm. Zeit aus älterem ^t entstanden war. Gegen
Bremers Auffassung spricht die Tatsache, daß die germ. Eigennamen
von den klassischen Schriftstellern überwiegend mit u geschrieben wer-
den: Gidones, Puigii, Burgundiones , Burcana, Teutohtcrgiensis usw.,
und daß das Gotische, außer vor r, h, tv, durchweg u hat. Für seine
Auffassung spricht, daß in zahlreichen Lehnwörtern lat. o zu w ge-
worden ist: \3ii. pondo zu got. ae. pund, ahd. pfunt\ lat. montem — ae.
mtmt] lat. monasterium über monisterium zu ae. mynster\ lat. coquina,
vglat. cocma — ae. cycene, ahd. chuhhina usw. Aber die Entsprechung
lat. nonna — ae. nunne, ahd. mmna zeigt, daß dieser Übergang nicht
nur im 1. Jahrh.,- sondern auch noch zur Zeit der Christianisierung,
also nach 60Ü, möglich war.
Auch hinsichtlich der Entwicklung von wgerm. a im Altengl.
vertritt Luick eine von der gewöhnlichen abweichende Auffassung.
Man nahm bisher an, daß germ. a in geschlossener Silbe allgemein, in
offener nur vor e der Folgesilbe zu cc geworden, vor folgendem dun-
keln Vokal aber erhalten geblieben sei: dccg , dceges, dccge. dceg , aber
dagas, daga, daguni, dagas. Luick ist, teilweise im Anschluß an Sweet,
SokoU und Wyld, der Meinung (§ 116 u. 161 f.), daß wgerm. a (außer
vor Nasalen und in minderbetonten Silben) zunächst überall zu cc
aufgehellt worden sei, und daß es erst später vor duukelm
70
Vokal gemein englisch wieder zu a wurde; also s««<e? 'klein',
J5«i5 'daß', glced 'froh', ste/''k5taL'; /^ecZer 'Vater', ucBgl 'Nagel', cecer
'Acker, ivcestm 'Wachstum', lirccfn 'Rabe'; aber später faran 'fahren',
talu 'Erzählung', macian 'machen' (aus ^macöjcm), sadol 'Sattel'; lappa
'Lappen', crahha 'Krabbe', hahhan 'haben', assa 'Esel; tvascan 'waschen' ;
a2Jplci 'Äpfel'. Die Allgemeingültigkeit der Aufhellung des a zu. ce
wird durch die Brechung und den «*- Umlaut von a zu ea (d. h. aa)
und durch die Kontraktion von a -\- a oder a zu ea wahrscheinlich
gemacht.
Auch das wgerm. lange ä ist urenglisch allgemein zu a
geworden, das sich im Kentischen und Anglischen noch
in vorliterarischer Zeit weiter zu e verengte: Tel, el 'Aal',
slä'p, slep 'Schlaf, Ifütan, letan 'lassen', haron, herun 'trugen', m^g, nieg
'Verwandter', Dieses urengl. ^ wurde im Westsächsischen
später vor dunkelm Vokal der Folgesilbe wieder zu ä, wenn
Liquida, Labial oder Guttural dazwischen stand: on sälum
'im Glück', dat. plur. zu sc&l', geära aus *yfl>'« 'einst'; slüpol 'schläfrig';
mägas, -a, -um, plur. zu mä^g 'Verwandter . Doch wurde das ^ viel-
fach analogisch aus verwandten Formen wieder eingeführt, namentlich
in der Flexion: sl^jmn, ni^gas und stets ISäron, iv^ron, stäilon, hrcecon
im plur. praet. Im Kentischen und Anglischen kommen ä- Formen nur
ganz vereinzelt vor. Zur Stütze von Luicks Ansicht, daß das ä in
mägas, Icigon usw. erst sekundär wieder aus ce entstanden ist, möchte
ich auf das alte Lehnwort str^t = ahd. sträza, ndl. straat hinweisen.
Wäre das wgerm. ä in mägas, läpim vor dem dunkeln Vokal unver-
ändert erhalten geblieben, so hätte auch das in urags. Zeit aufgenom-
mene lat. sträta über ^' straf u zu *strät führen müssen, nicht aber strat
ergeben können.
Nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß nach einer noch unver-
veröffentlichten , mündUch mitgeteilten Auffassung von Sievers bei
diesen und ähnlichen Vokalveränderungen der Gegensatz von Steigton
und Fallton der Silben bedeutungsvoll ist. Danach trat die Auf-
hellung von a zu CO nur in Steigtonsilben ein ; in Falltonsiiben blieb a
bewahrt; doch erfolgte vielfach Ausgleich nach der einen oder andern
Seite. Ahnlich ist es bei andern vokalischen Veränderungen. Wenn
diese Auffassung von Sievers sich als richtig erweisen sollte, so müßten
viele Regeln der Lautlehre, auch in seiner eignen angelsächsischen Gram-
matik, neu formuliert werden.
Die Brechung von wgerm. a zu ae. ea wird von Büibring
(Altengl. Elementarb. § 130, A. 1. 2) so erklärt, daß das wgerm. a im
frühsten Urenglisch außer vor Nasalen allgemein zu einem palatalen a
wurde. Dieses palatale a habe sich in unbeeinflußter Stellung später
weiter zu es entwickelt, während es vor folgenden Velarlauten und den
später brechenden Konsonanten einstweilen als a bewahrt blieb. Dann
habe es sich von neuem gespalten, indem es vor brechenden Konsonanten
zu au wurde, vor folgenden Velarvokalen aber als a erhalten blieb.
71
Der kurze Diphthong au habe sich dann genau so wie der alte germ.
Diphthong au weiter entwickelt und ea ergeben. Aber in Fällen wie
wgerm. '''2^arruk ' Fferch' und *2aZ/ö 'Galle', wo das a unter dem dop-
pelten Einfluß eines dunkeln Konsonanten und dunkeln Vokals steht,
wäre die Entwicklung eines palatalen a bei der Auffassung Bülbrings
undenkbar. Wenn diese trotzdem zu ae. pearroc, tjeaUa gebrochen
wurden, so setzt das offenbar zunächst die von Luick angenommene
spontane Aufhellung von a zu cc voraus. Ich stimme in der Erklärung
des Brechungs-ea völlig mit Luick überein, welcher (§ 133. 140) meint,
daß die Annahme eines palatalen a nicht genügt, daß vielmehr der Aus-
gangspunkt hier ebenso wie bei eo und io ein heller Laut, d. h. ce ge-
wesen sei. Das Wesen der Brechung besteht in der Entwicklung
eines dunkeln Übergang slauts zwischen einem hellen Vokal
((5P, e, i) und einem dunkeln Konsonanten (h, r, l, w). Der
Ubergangslaut erscheint nach cc als a, nach e und i als o: ealita 'acht',
earm 'arm', ea/(?'alt'; /eo/i 'Vieh', M;eor^aw 'werfen', weo^c«?^ 'melken';
niiox (aus *miohs) 'Mist', nordh, hiorde 'Hirte'. Die Entwicklungs-
reihe des Brechungs - ea war wahrscheinlich : a-a'-ceo- (Pm, das dann der
Einfachheit halber ea (statt aea) geschrieben wurde.
Auch bei der Erklärung der Diphthongierung von wgerm. a zu
ae. ea in Fällen wie ealu 'Bier', /iea/bc 'Habicht' u. a. haben wir von
ce, nicht a auszugehn (s. Luick § 231). Man bezeichnete diese Diph-
thongierung bisher je nach der Natur des Folgevokals, der die Diph-
thongierung erzeugt, als u-, o-, a oder ä- Umlaut. Aber da die Wir-
kung dieser Vokale die gleiche ist, spricht Luick besser einheitlich von
Velarumlaut. Freilich ist auch dieser Ausdruck nicht ganz eindeutig,
da man in Erinnerung an den Palatalumlaut darunter auch die um-
lautende Einwirkung folgender velaren Konsonanten verstehen könnte.
Überhaupt ist der Ausdruck „Umlaut" für diese Erscheinung eigent-
lich unzutreffend. Sie hat mit dem i- Umlaut nur das gemein, daß es
sich bei beiden um die Beeinflussung eines Vokals durch den Vokal
der Folgesilbe handelt. Aber das Ergebnis dieser Beeinflussung ist beim
altenglischen Velarumlaut nicht eine Umlautung, sondern eine Diph-
thongierung des Wurzelvokals: die Entwicklung eines dunkeln Nach-
schlags hinter einem hellen Wurzelvokal durch den Einfluß eines dunkeln
Vokals der Folgesilbe: ealu, heoran 'tragen', liomu 'Glieder'. In dieser
Beziehung ist der Velarumlaut ein Seitenstück zur Brechung: in beiden
Fällen haben wir es mit der Beeinflussung eines hellen Vokals durch
einen folgenden dunkeln Laut zu tun ; bei der Brechung liegt Kontakt-,
bei dem Velarumlant Fernwirkung vor. In beiden Fällen wird die
dunkle Färbung des Folgelauts vorweggenommen; es handelt sich also
um eine Velarprolepsis. Bei der Brechung ist der verdumpfen de Laut
ein Konsonant, beim Velarumlaut ein Vokal. Man würde also richtiger
von konsonantischer und vokalischer velarer Brechung
oder Velarprolepsis sprechen. Bei ea führt der Einfluß des folgenden
Velars dann teilweise zu einem völligen Schwund des hellen Lauts, d. h.
zu einem richtigen Velarumlaut (ws. healdan — angl. haldan).
72
Umgekehrt äußerte sich die Einwirkung eines i auf vorhergehendes
ö, ü im Urenglischen nach einer scharfsinnigen Vermutung von Sievers i)
zunächst zum Teil in Gestalt einer i - Epenthese, die bei Beda in Namens-
formen wie Coin-, Oidil- zutage tritt. Erst später sind die so ent-
standenen Diphthonge zu reinen Palatalvokalen (oe-e bzw. y) umgelautet
worden. Hier trat also zunächst pal atale Brechung oder Paiatal-
prolepsis und dann erst voller ^-U miaut ein.
Von Einzelabhandlungen zur altenglischen Lautlehre sei eine Ber-
liner Dissertation von Hermann Kügler über ie und seine Parallel-
formen im Angelsächsischen (Berlin, Mayer & Müller, 1916) erwähnt,
die das Auftreten dieses Lauts und seiner dialektischen Entsprechungen
eingehend, wenn auch nicht erschöpfend, behandelt. Die Ergebnisse der
LTntersuchung dieses verwickelten Problems sind recht bunt und nicht
gerade übersichtlich geordnet.
In einem beachtenswerten Artikel Old English eo, ea, eo(w), ea(tü),
~(Eiv in Middle and New English (JEGPh. 14, 499; Oct. 1915) polemisiert
Francis A. Wood gegen die entsprechenden Kegeln in Jespersens
Modern English Graimnar. Die Arbeit bringt eine wertvolle Material-
sammlung, und der Verfasser trifft mit seinen Schlüssen zum Teil sicher
das Richtige; aber anderseits lassen sich gegen manche seiner Aufstel-
lungen Einwendungen erheben. Die mittelengl. Schreibungen sind viel-
fach mehrdeutig. Die ungewöhnlichen lautlichen Entwicklungen, die
den Gegenstand des Aufsatzes bilden, hätten zu völliger Klarstellung
der Einzelheiten und zu gesicherter Aufstellung allgemeiner Regeln einer
gründlicheren Erörterung bedurft, und eine erneute, umfassendere Be-
handlung des Problems wäre wünschenswert.
Eine umfangreiche Abhandlung von R. E. Zach rissen über Pro-
nunciation of English Voivels 1400 — 1700 (Göteborg 1913) fällt zwar
vor den in diesem Forschungsbericht behandelten Zeitraum, ist aber so
wichtig für die frühneuenglische Lautgeschichte, daß ihre Hauptergeb-
nisse hier nicht übergangen werden dürfen. Zachrisson sucht die Ent-
wicklung der englischen Vokale in unbeeinflußter Stellung von 1400 bis
1700 festzustellen. Er stützt sich dabei einerseits auf die Orthographie
englischer Originalbriefe des 15. Jahrhunderts, anderseits auf die Aus-
spracheregeln der Grammatiker des 16. — 18. Jahrhunderts, wobei er
außer den von Engländern verfaßten Grammatiken vornehmlich eine
Reihe englischer und französischer Sprachlehren berücksichtigt, die von
flüchtigen Hugenotten in England geschrieben wurden. Mit den Schlüssen,
zu denen er auf Grund dieses Materials kommt, folgt Z. den Bahnen,
die vor ihm bereits Jespersen in seiner Ausgabe von John Hart's
Pronunciafion of English (1569 and 1570) und in seiner Modern English
Grammar eingeschlagen hatte. Er setzt sich in Gegensatz zu allen
älteren Forschern, wie Sweet, Victor, Kluge, Luick, Hörn, Ekwall, Bro-
1) Nach mündlicher Mitteiking im Sommer 1921. Vgl. auch M. Förster,
Kelt. Wortgut im Emjl. 120 (1921), der mit Recht darauf hinweist, daß die Beob-
achtung von Sievers die lautliche Eutwicilunf; der air. Lehnwörter drui ' Zauberer'
und stoir 'historia' zu ae. dry und ster verständlicher macht.
73
tanek u. a., die sich melir oder weniger unbedingt auf das von EUis in
seinem Werk On Early English Pronunciation (s. oben S. 68) gesammelte
Material verlassen hatten. Seine Hauptergebnisse sind die folgenden.
Die meisten früheren Forscher nehmen als feststehende Tatsache an,
daß die „kontinentale" Aussprache der englischen Vokale sich größten-
teils durch das 16. und 17. Jahrhundert erhalten habe. Diese Ansicht
stützt sich lediglich auf die Zeugnisse einiger frühneuenglischer Ortho-
episten. Aber die Orthographie der englischen Briefe des 15. Jahr-
hunderts und das Zeugnis der französischen Grammatiker weist in
schroffem Gegensatz hierzu auf vorgeschrittnere Ausspracheformen hin.
Dieser Widerspruch erklärt sich dadurch, daß die englischen Orthoepisten
durch theoretische Erwägungen irregeführt wurden: sie verwechseln be-
ständig Laute und Buchstaben, Diphthonge und Digraphen, und manche
von ihnen empfehlen in ihren Werken theoretische Ausspracheformen,
die an dem gewöhnlichen Sprachgebrauch der Zeit keinen Rückhalt
finden. Bei näherem Zusehen erweist sich keine der Angaben, die als
unfehlbare Zeugnisse für kontinentale Ausspracheformen angeführt worden
sind, als völlig stichhaltig.
Eine sorglältige Prüfung der orthographischen und orthoepistischen
Zeugnisse führt nach Z. vielmehr zu dem Ergebnis, daß die heutige
englische Aussprache erheblich weiter zurück datiert, als
man gewöhnlich annimmt. Die Lautwandlungen, denen
die heutige gemein englische Aussprache ihr charakteri-
stisches Gepräge verdankt, hatten schon im 15. Jahrhundert
begonnen. Ja, die Anfänge der großen ,, Vokalverschie-
bung" (Aufhellung des ä, Reduktion von ai, ou, ati, Übergang von e zu l,
V'On ö zu '«, Diphthongierung von -7 und u) datieren wahrschein-
lich bis in die letzte Hälfte des 14. Jahrhunderts zurück.
Die Aussprache des elisabethanischen Englisch muß der des heutigen
Englisch sehr ähnlich gewesen sein. Die heutige Aussprache
stand im großen und ganzen schon um 1700 fest.
Von einem Eingehen auf die Einzelergebnisse dieser belangreichen
Abhandlung und einer kritischen Stellungnahme muß hier abgesehen
werden. Zachrissons Darlegungen sind jedenfalls so beachtenswert, daß
alle künftigen Darsteller der neuenglischen Lautgeschichte Stellung dazu
nehmen müssen. Teilweise haben sie das bereits getan. In einer nach-
träglichen Contfibution to the History of the early New English Pro-
nunciation (Engl. Stud. 52, 299; 1918) setzt sich Zachrisson mit einer
Kritik Ekwalls in den Englischen Studien (49, 279) auseinander, und
Ekwall hat ihm im 55. Band derselben Zeitschrift (S. 396; 1920) ge-
antwortet.
Wichtig für die englische Lautgeschichte ist ferner eine Abhand-
lung von Eduard Eckhardt über Die ncuenglische Verkürzung langer
l^onsilbenvoJcalc in ahgeleiteten und zusammengesetzten Wörtern (Engl.
Studien 50, 199; 1916). Es gibt im heutigen Enghsch zahlreiche Wort-
paare wie souih — southern, nation — national, wise — wisäom; tivo —
twopence, holy — holiday, house — hushand, white — tvhitsuntide, wo das
74
Grundwort langen Vokal hat, während die damit gebildeten Ableitungen
oder Zusammensetzungen, die um eine oder mehrere Silben länger sind
als ihr Grundwort, kurzen Tonvokal aufweisen. Gewöhnlich wird die
Verkürzung in loisdom, hushand, whitsuntiäe und ähnlichen Fällen aus
der auf den langen Vokal folgenden Doppelkonsonanz erklärt. Aber
die Verkürzung ist auch in soutJiern, national, twopence, holiday usw.
eingetreten, wo nur einfache Konsonanz vorliegt. Eckhardt meint nun,
daß hinsichtlich der Verkürzung doch kaum ein grundsätzlicher Unter-
schied anzunehmen sei zwischen soutliern und ivisdom, twopence und hus-
hand, holiday und whitsunüde. Die Doppelkonsonanz könne also als
Grund der Verkürzung in ivisdom, htishand, whitsunüde nur in zweiter
Linie in Betracht kommen ; ihre eigentliche Ursache müsse eine andre
sein, und zwar dieselbe wie in soutliern, national, tiüopence, holiday.
Und den eben vorgeführten Fällen, wo (abgesehen von dem Fremd-
wort nation) das Grundwort schon im Altenglischen langen Vokal hatte,
seien grundsätzlich gleichzustellen solche, in denen ein ursprünglich
kurzer Tonvokal im Grundwort während der neuengl. Periode gelängt
wurde, während er in dem um eine oder mehr Silben längeren abge-
leiteten oder zusammengesetzten ^Wort seine ursprüngliche Kürze be-
wahrte. Es sind Fälle wie ne. päss vb. aus me. passe gegenüber ne.
pässage, ne. err aus me. erre gegenüber ne. errant, ne. troll gegenüber
tröllop u. a. Die Verkürzung eines ursprünglich langen Tonvokals in
southern, wisdom, twopence, holiday, hushand, ivhitsuntide und die Er-
haltung des ursprünglich kurzen Tonvokals in passage, errant, trollop
müsse im Grunde auf die gleiche Ursache zurückgeführt werden.
Bevor er an die Feststellung dieser eigenthchen Ursache jener Er-
scheinung geht, gibt Eckhardt zunächst eine umfassende, wertvolle Über-
sicht über das einschlägige Material : die Vokalverkürzung in abgeleiteten,
in zusammengesetzten Wörtern und in der Flexion. Die Ursache der
Verkürzung aber findet er in einem Lautgesetz, das schon von Jes-
persen angedeutet worden ist. In seinem Lehrhuch der Phonetik
(2, Aufl., § 12.22; vgl. auch Elementh. d. Phonef. ebd.) stellt der dänische
Gelehrte als wichtiges Quantitätsgesetz die Tatsache fest, „daß der
Redende das Tempo beschleunigt, wenn er sich bewußt ist,
daß er eine lange Laut reihe zu sprechen hat (die am liebsten
'in einem Zuge' gesprochen werden soll)'". Dies Gesetz erklärt nach
Jespersen die schon von Rask gemachte Beobachtung, daß der Vokal
in einem einsilbigen Wort länger ist als in einem zweisil-
bigen, ferner die Bemerkung von Sweet, daß der Diphthong in tail
länger ist als in tailor, und die von Sievers, daß das a in Zahl länger
ist als das in zahle und dieses länger als das in zahlende. Jespersen
weist auch schon darauf hin, daß in diesem Quantitätsgesetz der Grund
zu der Verkürzung des Tonvokals in englischen Kompositis wie hus-
hand gegenüber house, ivaistcoat gegenüber ivaist zu suchen sei. Es
könne als allgemeine Regel aufgestellt werden, daß beim Beschleunigen
des Tempos die langen Laute mehr leiden als die kurzen, indem ihre
Dauer sich mehr derjenigen nähere, die die kurzen gewöhnlich haben.
75
Eckhardt führt diese Gedanken weiter aus (§ 149 ff.). Im allge-
meinen bleibe ein langer Vokal am ehsten eihalten in einem einsilbigen
Wort. Wird dies Wort bei gleichbleibendem Akzent durch eine Ab-
leitungssilbe oder durch Zusammensetzung zwei- oder gar mehrsilbig,
so trete leicht Verkürzung ein. „Die Silbenzahl ist somit ein
die Quantität des Vokals der Tonsilbe beeinflussender
Faktor, und zwar für die Verkürzung dieses Vokals der wichtigste,
wenn auch keineswegs der einzige" (§ 149). Es bestehe in der Sprache
ein unbcAvußt wirkendes Streben, die Rede, auch die prosaische, in
Sprechtakte zu gliedern und „diese Sprechtakte, wenn die Silbenzahl
es erlaubt, mit gleicher oder wenigsteris annähernd gleicher Dauer zu
sprechen". Aus dieser Neigung zum Ausgleich der Sprechtakte ergebe
sich weiter „das Streben, die Sprechdauer eines um eine oder mehrere
Silben längeren Wortes gegenüber der seines kürzeren Grundwortes
möglichst wenig zu verändern. Da nun das längere Wort aus mehr
Lauten besteht als das kürzere, wird die Sprechdauer der einzelnen
Laute im längeren Worte verkürzt. Diese Verkürzung erstreckt sich
naturgemäß eher auf die Vokale als auf die Konsonanten, weil jene ja
überhaupt viel leichter der Kürzung oder auch der Dehnung unter-
liegen ; am ehesten aber wird von der Verkürzung ein langer Vokal
betroffen".
Diese von Jespersen und Eckhardt vertretene Auflassung von der
Hauptursache der Vokal Verkürzung gewinnt eine starke Stütze durch
die Arbeit von Ernst A. Meyer über Englisclie Lautdauer (Uppsala
und Leipzig 1903), auf die Eckhardt hinweist. Mayer hat die Laut-
dauer im Englischen zum erstenmal durch einen besonders dazu kon-
struierten, sinnreichen Apparat experimentell zu bestimmen versucht und
ist dabei zu dem wichtigen Ergebnis gekommen, daß ein Vokal in
einem zweisilbigen Wort eine beträchtlich kürzere Laut-
dauer hat als der gleiche Vokal im entsprechenden ein-
silbigen Wort.
Eckhardt setzt sich mit seiner Erklärung der Vokalverkürzung in
Gegensatz zu der Auffassung, die Luick in seinen Beiträgen zur eng-
lischen Grammatik III (Angl. 20, 335 ff. ; 1898) über die Quantitäts-
veränderungen der englischen Tonvokale entwickelt hat. Luick stellt
drei Normaltypen der Quantitäten von Tonsilben auf (S. 336):
1. das einsilbige Wort ist normalerweise langsilbig, und zwar
besteht es entweder aus kurzem Vokal und langem Konsonanten (ae.
hed(d) oder aus kurzem Vokal und zwei Konsonanten (ae. widf) oder
aus langem Vokal und kurzem Konsonanten (ae. tvis)] 2. beim zwei-
silbigen Wort besteht die Tonsilbe entweder aus kurzem Vokal
und kurzem Konsonanten (ae. drincan) oder aus langem Vokal
in offner Silbe (tvceroti)] 3. das dreisilbige Wort hat normaler-
weise einen kurzen Tonvokal in offner Silbe (ae. adesa oder
heofones). „Alle großen Quantitätsveränderungen ergeben sich aus dem
(natürlich unbewußten) Streben, diese Normalmaße zu erreichen." "VS'o
die Vokalquantität dem Normalmaß bereits entspricht, „tritt bei der
76
Weiterentwicklung dieser Formen keine Quantitätsveränderung ein. Die
Silben aber, welche diese Maße nicht haben, werden so weit als mög-
lich auf sie gebracht, teils durch Längung, teils durch Kürzung" (Angl.
20, 336 f.).
Eckhardt setzt sich mit dieser Quantitätstheorie Luicks auseinander
(S. 272 — 75). In bezug auf die dreisilbigen Wörter stimmt er Luicks
Schema rückhaltlos zu; dagegen meint er, daß die zahlreichen neuengl.
zweisilbigen Ableitungen und Zusammensetzungen nach dem Typus ^ x
(Wörter wie pleasant, lüeasure, notJiing, twopence, threepence usw.) sich
mit Luicks Normalraaß der zweisilbigen Wörter schlecht vereinigen
lassen.
Eckhardt nimmt für sein Verkürzungsprinzip die Geltungskraft
«ines Lautgesetzes in Anspruch (S. 275). „Daß dies Lautgesetz
in so zahlreichen Fällen durchbrochen erscheint, beruht au£ dem Ein-
fluß eines ihm entgegenwirkenden Prinzips, nämlich der Ana-
logie nach dem lang vokaligen Grundwort. Oft sind beide
Faktoren gleich stark, so daß Doppelformen entstehen, eine kurzvokalige
lautgesetzliche, und eine langvokalige analogische. Wenn beide nur
ungefähr gleich stark sind, bilden irgendwelche sonstigen, die Verkürzung
oder die Erhaltung der Länge begünstigenden Nebenumstände gleichsam
das Zünglein an der Wage, wodurch die Entscheidung nach der einen
oder nach der anderen Richtung herbeigeführt wird" (S. 275 f.). So
wird die Verkürzung begünstigt durch die Stellung des Tonvokals vor
Doppelkonsonanz (ivise — ivisdom , clean — cleanli/ , break — hveakfast),
durch Isolierung des abgeleiteten oder zusammengesetzten Worts gegen-
über seinem Grundwort in der Form (cäse — cäsual, aber fäte — fätal\
düJce — dücJiess, aber count — countess) oder in der Bedeutung (dine —
dinner, holy — holiday), durch die größere Silbenzahl (dime — climate,
aber grade — graduate) und durch die Schwere der Ableitungssilbe.
Dagegen wird die analogische Länge begünstigt durch engen etymologi-
schen Zusammenhang mit dem Grundwort {eat — eafahle) oder durch
die Natur bestimmter Vokale selbst : so widerstrebt z. B. jü, ü in franz.
oder lat. Lehnwörtern der Verkürzung, während a ihr leichter erlieg
(üse — üsiial neben cäse — cäsual).
Das letzte Wort über dieses schwierige Quantitätsproblem ist jeden-
falls noch nicht gesprochen. Im 54. Band der Englisclien Studien
(S. 117; 1920) hat Eckhardt in einem Aufsatz Zur Quantität offener
Tonvokale im Neuenglischen sich zu brieflichen Einwänden Luicks ge-
äußert, und im gleichen Band (S. 177) verteidigt Luick aufs neue den
von ihm vertretenen Standpunkt. Aber Eckhardt hat jedenfalls das
Verdienst, in seiner gründlichen Abhandlung nicht nur ein umfangreiches
Material gesammelt und eingehend erörtert, sondern auch das ganze
Problem von neuem aufgerollt und kritisch beleuchtet zu haben.
77
3. Konsonantismus
a) Palatalisierung
Die schwierige Frage der Palatalisierung des altengl. c
ist in den letzten Jahren in zwei voneinander unabhängigen Arbeiten
behandelt worden.
Die Marburger Dissertation von Hermann Le}'-, Der Lautivert
des altengl. e (1914), gibt eine recht willkommene Übersicht über die
mannigfache Behandlung des viel umstrittenen Problems seit Kask und
Jakob Grimm, trägt aber in ihrem selbständigen Teil wenig zur För-
derung der Frage bei und ist in ihrer Hauptthese, daß die Palatalisie-
rungen des Englischen und Friesischen ein Erbteil aus der indogermani-
schen Urzeit seien, daß wir in ihnen die direkte Weiterentwicklung der
indogerm. palatalen Verschlußlaute zu erblicken hätten, verfehlt.
Sehr viel wertvoller ist die Göttinger Dissertation von Olga Ge-
venich über Die englische Palatalisierung vort Je zu c im Lichte der
englischen Ortsnamen (Morsbachs Stud. z. engl. Phil. 57; Halle 1918).
Nach der bisher sehr verbreiteten, wenn nicht herrschenden Ansicht be-
stand in der Behandlung des altengl. palatalen k (geschrieben c) ein
grundsätzlicher Unterschied zwischen den süd- und nordhumbrischen
Mundarten: w^ährend im Südhumbrischen palatales Je durch Jcj, Jcjr zu ts
assibiliert wurde (cJiurcJi, cliester, -lüicli), sei es im Nordhumbrischen als
palataler Verschlußlaut bewahrt geblieben (JiirJi, casfer, -iviclS). Fräulein
Gevenich führt nun auf Grund eines sehr reichhaltigen, aus den Ur-
kunden zusammengetragenen Ortsnamenmaterials den Nachweis, daß die
Assibilierung von /<; zu ts nicht nur im ganzen Südhumbrischen (mit
Einschluß von Süd - Lancashire und der Südwestecke des West Riding
von Yorkshire) eingetreten ist, sondern daß sie sich auch nördlich des
Humber, und zwar gerade in den beiden nördlichsten Grafschaften:
Durham und Northumberland , nachweisen läßt. Schon ein andrer
Morsbach- Schüler, Cornelius, hatte auf das Vorkommen von c/i-Namen
in diesen Grafschaften (z. B. CliesivicJc, EacJitvicJc in Nhb.) hingewiesen.
Frl. Gevenich vermehrt das Beweismaterial. Aus Durham liegen nur
spärliche Beispiele, wie CJiilton und Namen auf -ehester vor; reicher ist
das Material aus Northumberland: Cliarlton, CJiesters, CJiirton, DitcJiburn
u, a. Im größten Teil von Yorkshire, in Cumberland und Westmorland
dagegen fehlen c/i- Formen gänzlich; auch Nord -Lancashire liefert nur
unsichere Fälle. Wie ist das Fehlen von cA- Formen in diesen Graf-
schaften zu erklären? Trat die Assibilierung hier nicht ein?
Frl. Gevenich sucht zu beweisen, daß das Fehlen des c7i-Lauts in
diesen nördlichen Grafschatten nicht das Ergebnis einer dialektischen
Sonderentwicklung ist, sondern daß die altenglischen Palatale in phonetisch
gleicher Umgebung sich auf dem ganzen englischen Sprachgebiet ein-
heithch entwickelten, und daß die Assibilierung sich über ganz
England erstreckte. Ihr Fehlen in gewissen nordengli-
schen Gebieten erklärt sich nach der Verfasserin durch skan-
dinavischen Einfluß. Sie weist nach, daß nicht nur Namen mit
78
dl in' Gegenden nördlich des tlumber, sondern daß umgekehrt Namen
mit niclitassibiliertem Je auch in südhumbrischen Gebieten auftreten,
und daß sie in ihrer Verbreitung und Dichte in weitgehendem Maß mit
der Verbreitung und Dichte der gesamten nordischen Namen in Eng-
land Schritt halten. Sie zeigt, daß die außerordentlich zahlreichen 7c-
Wörter — mit wenigen, besonders zu erklärenden Ausnahmen — sämt-
lich im altnordischen Wortschatz enthalten waren und somit höchst
wahrscheinlich als skandinavische Lehnwörter aufzufassen sind, was bei
einer Anzahl dieser Namen durch spezifisch nordische Laute und Kom-
positionsglieder zweifelsfrei bewiesen wird. Die im Assibilationsgebiet
versprengten Ä;-Namen seien danach ebenfalls als nordisch anzusprechen.
In manchen Fällen wurden englische Wörter mit ch von den Skandinaviern
umgebildet, indem der ihnen ungeläufige engl. c/i-Laut durch das ent-
sprechende skand. h ersetzt wurde. Die Wiederherstellung des /i;-Lauts
trat nur in denjenigen Gebieten ein, wo Skandinavier Träger der eng-
lischen Sprache waren. Damit ist der bisherigen dialektischen Scheidung
in ein südliches cJi- und ein nördliches ^'-Gebiet nach der Überzeugung
der Verfasserin der Boden entzogen.
Diese Ergebnisse von Frl. Gevenichs Arbeit sind höchst belang-
reich, wenn auch die Beweisführung im einzelnen nicht überall einwand-
frei ist. Ekwall hat in einer sehr beachtenswerten Besprechung des
Buchs (Angl. Beibl. 30, 221 fF.; Aug. 1919) auf verschiedene Mängel
der Beweisführung hingewiesen. Er meint, daß das Ortsnamenmaterial
allein zum Nachweis der allgemeinen Assibilierung nicht ausreicht. Auch
Ekwall ist der Ansicht, daß die Assibilierung gemein-
englisch ist; aber er stützt diese Ansicht in erster Linie auf die Tat-
sache, daß in den ältesten mitteleng 1. Denkmälern des
Nordens, von denen einige sicherlich aus Yorkshire stammen, Wörter
wie chidey cliild, cheap, cheeJc, chicJcen, lecJie, lorecche u. a. regelmäßig
Assibilation aufweisen. Wäre k in diesen Wörtern im größten
Teil von Yorkshire lautgesetzlich, so wäre es nicht schon um 1300 unter
südhumbrischem Einfluß durch ch ersetzt worden.
Frl. Gevenichs Ansicht, daß auch das h in caster nordischen Ur-
sprungs sei, lehnt Ekwall ab, weil anord. liasfali, womit sie operiert,
ein roman. Lehnwort sei, das den Skandinaviern der Wikingerzeit noch
unbekannt war; und ae. ceaster hätte skand. *Jcester, nicht ^Jcaster er-
geben müssen. Ekwall meint, daß man zur Erklärung von ne. caster
auf die ae. Form ccester zurückzugehen habe, die für das Südnord-
humbrische anzusetzen ist. Er ist der Ansicht, daß urengl. c vor cc
zwar palatalisiert wurde, daß aber, wenn ce undiphthongisch blieb, keine
Assibilierung des c eintrat. Er stellt deshalb die Regel auf, daß die
Assibilierung im Anlaut nur vor vor i, e und i-, e-Diph-
thongen, nicht aber vor cc eintrat.
b) Dissimilation, Assimilation und Metathese
Zu den interessantesten Spracherscheinungen gehören die gegen-
seitigen Beeinflussungen der Laute eines Worts. Man kann bei diesen
79
Erscheinungen nach der Stelhmg der sich beeinflussenden Laute Kon-
takt- und Fernwirkungen, nach dem Wesen und den Ursachen der Be-
einflussungen physiologische und psychologische Einwirkungen unter-
scheiden. Die Kontaktwirkungen , d. h. die gegenseitige Beein-
flussung von Lauten, die sich unmittelbar berühren, sind vorwiegend
phy siologi scher Natur. Es gehören hierher im Englischen der Ein-
fluß der Nasale auf vorhergehende Vokale, die altenglischen Brechungen
und Palatalisierungen, der Einfluß von tv auf" folgende, von l und r auf
vorhergehende Vokale usw. Die Fern Wirkungen anderseits sind
vorwiegend psychologischer Art. Bei ihnen beruht die Verände-
rung eines Lauts nicht auf der lautphysiologischen Beeinflussung durch
einen unmittelbar benachbarten, sondern auf einer psychologischen Ein-
wirkung durch einen entfernteren Laut über dazwischen stehende hinweg.
Hier liegt kein Lautwandel, sondern ein plötzlicher Lautwechsel vor.
Die physiologischen Wirkungen der Laute aufeinander, die als
kombinatorischer Lautwandel dem spontanen gegenüberstehn, sind längst
bekannt. Sie sind für jede Sprache und jede Sprachperiode verschieden,
und ihre Gesetze werden seit langem studiert. Erst in neuerer Zeit hat
man sich mit den psychologischen Lautveränderungen intensiver be-
schäftigt. Im Mittelpunkt des Interesses stehn hier die Erscheinungen
der Dissimilation, Assimilation und Metathese. Die Ursachen dieser drei
Spracherscheinungen sind freilich nicht durchweg psychologischer Natur.
Alle drei können sowohl bei unmittelbar benachbarten als auch bei
entfernter stehenden Lauten auftreten, und ihre Ursachen und ihr Zu-
standekommen sind dementsprechend verschieden: Kontaktassimilationen
usw. sind vorwiegend physiologisch, Fernassimilationen usw. vorwiegend
psychologisch bedingt.
Mit der Einteilung, dem Verlauf und den Ursachen jener drei
Lauterscheinungen haben sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von
Forschern beschäftigt. Paul, Wundt, Grammont, Meringer, Wechßler,
Oertel, Meillet, Brugmann u. a. haben sie von verschiedenen Gesichts-
punkten aus untersucht und ihre Erkenntnis wesentlich gefördert. Eine
neuere, eingehende Abhandlung von Ernst Schopf, Die konsonanti-
schen Fernwirhungen : Fern-Dissimilation, Fern- Assimilation und Meta-
tliesis (Güttingen 1919), nimmt zu diesen früheren Untersuchungen
kritisch Stellung und bietet, von der Vulgärsprache in den lateinischen
Inschriften der römischen Kaiserzeit ausgehend, eine gründliche und all-
seitige Darstellung des Problems.
Die prinzipiellen Erörterungen im ersten Teil des Buchs haben all-
gemein sprachwissenschaftliches Interesse. Der Verfasser handelt zunächst
von der Einteilung, Definition und Terminologie der Fernwirkungen.
Dabei kommt er zu der zweifellos richtigen Feststellung, daß zu den
Ferndissimilationen nicht nur Lautveränderungen wie peregrinusy
peleyrinus, sondern auch Fälle von vollständiger Lautauslassung
wie castrorumy castot^um zu rechnen sind, und daß umgekehrt zu den
Fernassimilationen nicht nur Lautveränderungen wie jnirulentus}
pitlulentus, sondern auch Lautzufügungen wie Octobrcs} Octr obres
80
gehören. Sowohl Fernassimilationen als auch Ferndissimilationen können
entweder regressiv oder progressiv verlaufen. In ersterem Falle
wirkt ein folgender Laut auf einen vorhergehenden zurück, in letzterem
wirkt umgekehrt der frühere auf den späteren ein. Die Fernraetathese
ist entweder eine reziproke, die gegenseitige Umstellung zweier Laute,
oder eine einseitige, die einfache Versetzung eines Lauts an eine
andre Stelle des Worts.
Schopf teilt demgemäß die drei Gruppen von Fernwirkungen in
folgender Weise ein:
A. Ferndissimilation. L Dissimilatorischer Lautwechsel.
1. Regressiv. Typus x — x)y — x: 'peregvinusy pelegrinus. 2. Pro-
gressiv. Typus X — x)x — y: Belial} Beliar. — II. Dissimilatorischer
Lautschwund. 1. Regressiv. Typus x — x ) o ■ — x : castrorum } casto-
rum. 2. Progressiv. Typus x — x)x — o: crehvescoy creheseo.
B. Fernassimilation. I. Assimilatorischer Lautwechsel.
1. Regressiv. Typus y — x)x — x: ])iiriilentns)> pululentus. 2. Pro-
gressiv. Typus X — y)x — x: Menelavos } Menielavos. — II. Assimi-
latorischer Lautzuwachs. 1. Regressiv. Typus o — x)x — x: Oc-
tohresy Odrohres. 2. Progressiv. Typus x — o)x — x: perpefuus}
perpertuus.
C. Fernumstellung (Metathese). I. Reziproke Metathese
mit zusammenhängendem Lautwechsel an zwei Stellen: veligio^ lerigio,
reliquiae)>leriqniae, crustliim (= crustulum) ' Backwerk ') c^M.s^^z«m,
*corulnus (von corulus ' Haselstaude' )co?^fr>^MS. — IL Einseitige
Metathese, wobei ein Laut an eine andre Stelle des Worts versetzt
wird, also Lautschwund an der einen Stelle mit entsprechendem Laut-
zuwachs an der andern Stelle verbunden ist. 1. Regressiv. Typus
o — x)x — o: Pancratius} Prancatius. 2. Progressiv. Typus x — o)
o — x: crocodilus} cocodrüus.
Im weiteren Gang seiner Arbeit untersucht Schopf die psychologi-
schen Ursachen, das Wesen und den Verlauf der verschiedenen Fern-
wirkungen, die lautlichen Bedingungen des dissimilatorischen Wechsels,
die Frage, in welche andern Konsonanten der dissimilierte Laut über-
gehen kann, und anderes. Dabei setzt er sich, teils zustimmend, teils
ablehnend, mit den Ansichten von Merioger, Grammont, Brugraann,
Meillet, Hoffmanu-Kreyer u. a. auseinander. Der zweite Teil des Buchs
bringt zahlreiche Beispiele für die konsonantischen Fernwirkungen aus
den Inschriften der römischen Kaiserzeit, die besonders ergiebig für diese
Lauterscheinungen sind. Das Buch von Schopf ist reich an Anregungen.
Es wird die Grundlage für weitere Untersuchungen über den Gegen-
stand bilden. Eine zusammenfassende Behandlung der Assimilation,
Dissimilation und Metathese im Englischen wäre sehr erwünscht.
Willkommene Ansätze dazu bietet Ernst Schwentner in einem
kurzen Aufsatz Zur Metathesis im GermaniscJien (PBBeitr. , 4.3, 113;
1917). Er behandelt nicht nur die Fern Versetzung, sondern auch die
Kontaktversetzung, wobei auch das Englische ausgiebig berücksichtigt
wird. Leider ist die Verarbeitung und Anordnung des reichhaltigen
Wissenschaftliche Forschungsberichte IX. 6
81
Stoflfs zum Teil zu mechanisch gehalten ; es soll im folgenden eine etwas
abweichende Gruppierung versucht werden.
Die Kontaktversetzung ist namentlich im Angelsächsichen
eine ungemein häufige Erscheinung. Es kommen dabei in erster Linie
die Laute r, l, n, s in Frage; aber die Art der Versetzung ist bei r
einerseits, bei l, n, s anderseits verschieden, was Schwentner, wie üba'igens
auch andre vor ihm, unbeachtet läßt. Bei der r- Metathese, der
weitaus häufigsten in allen indogermanischen Sprachen, handelt
es sich um einen Wechsel des r mit einem Vokal, wobei das r
bald vor, bald hinter dem Vokal erscheint; z. B. ahd. and. hros, nhd.
ross: ae. hors, ne. horse\ ae. ferse: ne. fresh\ ae. forst: ne. frost\ ae. heorld:
ne. hriglU\ ae. cearcian (neben cracian): ne. crack\ ae. pridda: ne. third;
ne. forma 'der erste': friima 'Anfang'; ae. hurnc, -n: ahd. hrunno, nhd.
hrunncn. — Bei l ist dieser Wechsel mit Vokal sehr selten; im Eng-
lischen scheint er überhaupt nicht vorzukommen.
Bei der l-, n- und s- Metathese anderseits handelt es sich um
den Wechsel mit einem Konsonanten: ae. seil und seid 'Sitz';
ae. gyrdisl und gyrdels ' Gürtel' ; — ae. pegn und peng ' Degen, Gefolgs-
mann'; ae. cläinsian und cläsnian 'reinigen'; — ae. üscian, ne. ash:
ae. äcsian, ne. vulg. ax ; ae. wcesp, ne. ivasp : ae. waps.
Fernversetzungen kommen in den altgermanischen Sprachea
nur ganz vereinzelt vor; sie treten erst in neuerer Zeit häufiger auf
i;nd sind zum Teil absichtliche, oft komische Bildungen.
Ein fa che Fernversetzungen, wie in lat. cocodrilus für cro-
codilus, sind im Englischen sehr selten. Ein Fall von einseitiger re-
gressiver Metathese nach dem Typus Pancratiusy Prancatius liegt vor
in ae. gyrstandag für älteres giestran-, gystrandag , ne. yesterday (von
Schwentner nicht erwähnt). Dagegen haben wir es in nhd. gerstern für
gestern, dial. quarderstein für quaderstein und in ahd. wirdar für widnr
'wider', die Schwentner im Anschluß an Brugmann hierher stellt, nicht
mit einer Metathese, sondern mit einer Pro le pse, einer Vorwegnahme
des r der Folgesilbe zu tun, wobei dieses r nicht versetzt wird, sondern
erhalten bleibt ^). Es ist ein Fall von assimilatorischem Lautzuwachs
nach Schopf (Typus Octohres} Octrohres). Die Beispiele gyrstandag für
gystrandtrg und gerstern für gestern zeigen zugleich, wie nahe Fern-
metathese und Fernassimilation sich manchmal berühren.
Fernumstellungen oder reziproke Fernversetzungen,
von H. Schröder „Schüttelförmen" genannt, sind Lautumstellungen wie
in ndl. halceljauw für Jcaheljaiiiv, die, wenn sie in Verbindung mit dem Reim
auftreten, die komische Wirkung der heute sehr beliebten „Schüttelreime"
erzeugen. Schon in altgermanischer Zeit kommen Fernumstellungen
einige Male vor, z. B. ae. ticcen, ahd. zichin: ahd. Icizzin, anord. Iciä,
ne. 1dd\ ae. dlor, alr, ne. (dder, ahd. cl'ira: ahd. erila, nhd. erle-^ me.
tihelen, ne. ticMe: ae. citelian, ahd. cJiiz^ilön, mhd. nhd. kitzeln] got. akeid,
1) Diese Worte waren geschrieben, bevor mir das Bucli von Schopf bekannt
wurde, mit dem icii mich in der Auffassung dieser Erscheinung somit begegne.
82
ae. eC(SfZ.^[(aus lat. acetum): mnd. ettik, ndl. ediJc, ahd. ez^ih, nhd. essig
aus *atecum). Vielleicht ist auch me. 2^oU, ne. mnd. nnd. mndl. nndl.
pot gegenüber mnd. dop, äoppe, mhd. nhd. topf hierher zu stellen.
Eine Anzahl Fälle von Ferndissim ilation und Fernassi-
milation im Englischen trägt W. Hörn, Engl. Stud. 54, 69 (1920),
zusammen. Die meisten sind den Dialekten entnommen. Von schrift-
sprachlichen Beispielen für Ferndissimilation seien die folgenden
erwähnt, ae. ^«jjor ' Docht, Wachskerze', ne. taper 'Wachskerze' ist
schon von Kluge richtig als Dissimilation aus "^papmr, lat. papyrus
erklärt worden, das in einigen romanischen Dialekten die Bedeutung
'Docht' hat. Das Mark der Papyruspflanze wurde als Docht benutzt. —
Für den Übergang von afrz. raenson (nfrz. rangon), me. ransoun in me.
ne. ransom 'Lösegeld' (mit m schon seit 1350) und von afrz. randon,
me. randoun "Ansturm, Gewalt' in ne. af random 'aufs Geratewohl'
(mit m seit dem 16. Jahrb.), den Jespersen, Mod. Engl. Gramm. I 2. 414,
unerklärt gelassen hatte, nimmt Hörn mit Recht Dissimilation an. Ebenso
erklärt sich me. venim, ne. venom 'Gift' gegenüber afrz. nfrz. venin,
lat. venenum, das Hörn nicht erwähnt; nur kommt hier schon im Alt-
französischen neben venin auch venim vor. Eine dritte afrz. Nebenform
velin zeigt Dissimilation des ersten n\ ähnlich ital. veleno und mit r
prov. vere, katal. veri u. a. (s. Meyer-Lübke, Et. V/b., S. 701). — In
dem ne. fingrini, fingram des 17. und 18. Jahrhunderts 'eine Art Wolle'
aus frz. ißn grain liegt wohl nicht Assimilation des auslautenden Kon-
sonanten an den anlautenden vor, wie Hörn (S. 74) meint, sondern
Dissimilation des zweiten n gegen das erste. — Die ae., nndl., nfränk.
Nebenform sivegel zu ae. swefl, mnd. sivevel, nndl, zivafel, nnd. siväwel,
schwed. swafvel, ahd. sweval, sicebal, nhd. schwefel erklärt Hörn (S. 73)
wohl zutreffend durch dissimilatorischen Übergang des zweiten labialen
Spiranten in g. Nur wird aus dem o zunächst nicht ein palataler (wie
er sagt), sondern ein velarer Spirant geworden sein. Die gleiche Dissi-
milation liegt nach Hörn in ae. tiviiva ) tiviga 'zweimal' und lat. papaver
zu ae. popceg, ne. poppy 'Mohn' vor.
4. Phonetik und Aussprache des heutigen Englisch
Kenntnis der Grundgsesetze der Phonetik ist für alle Sprach-
forschung unerläßliche Voraussetzung. Zur Einführung in das Studium
dieser Wissenschaft kann Otto Jespersens Memenfarhuch der Pho-
iietiJi (Leipzig 1912) wärmsteus empfohlen werden. Es ist ein Auszug
aus des Verfassers größerem Lehrbuch der Phonetik (3. Aufl., Leipzig
1920). Wer sich eiogehender mit dem Gegenstand beschäftigen will,
nehme dies geistvolle Buch selbst zur Hand. Auch aus Wilhelm
Victors wertvollen Elementen der Phonetik des Detitschen, Englischen
und Französischen (6. Aufl., Leipzig 1914 — 1915) wird er reiclie An-
regung und Belehrung schöpfen.
Von andrer Seite als die eben genannten Gelehrten tritt G. P a n -
concelli-Calzia in seiner Einführung in die angeicandte Phonetik
6*
83
f Berlin 1914) an den Stoff heran. Das reich ilhistrierte Buch will dem
angehenden Sprachforscher nach den Methoden der experimentellen
Phonetik eine unmittelbare Anschauung von der Entstehung der Laute
vermitteln. Ein andrer experimenteller Phonetiker, Alfred Ehrentreich,
hat seine Wissenschaft in den Dienst einer konkreten Frage der neu-
englischen Lautlehre gestellt. In seiner Abhandlung Zur Quantität der
Tonvolittle im Modern- Englischen (Pal. 133; Berlin 1920) kom.mt er
auf Grund experimenteller Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die
übliche Einteilung der Vokale in Längen und Kürzen ein veraltetes
Überbleibsel der historischen Grammatik sei. „Die Quantitätserschei-
nungen des NeuengHschen zeugen für Tendenzen, die die alte Einteilung
in Längen und Kürzen hinfällig machen" (S. 108). An ihre Stelle sind
zwei neue Begriffe zu setzen: einerseits der Stimmabsatz, der entweder
allmählich oder rasch sein kann, anderseits die Zweigipfligkeit, bei der
sich drei Formen: qualitative, intensive und melodische Zweigipfligkeit,
unterscheiden lassen.
In der Verwertung der wissenschaftlichen Phonetik für den Unter-
richt in der Aussprache des heutigen Englisch war seinerzeit Henry
Sweets Elementarhuch des Gesprochenen Englisch (Oxford u. Leipzig
1885; 2. Aufl. 1887) bahnbrechend, indem es einerseits eine knappe,
phonetisch begründete Darstellung der Grammatik (Lautlehre, Formen-
lehre, Syntax), anderseits eine Anzahl Texte mit phonetischer Umschrift
und phonetischem Glossar gab.
Denselben Zwecken dient A. C. Dunstans Englische Phonetik mit
Lesestüclcen, 2. Auflage besorgt von Max Kaluza (Berlin 1921, Samm-
lung Göschen), ein recht brauchbares Büchlein. Auch W. A. Craigie,
The Prommciation of English (Oxford 1917), will dem ausländischen
Studenten die Erlernung der englischen Aussprache erleichtern, nur daß er
an Stelle der phonetischen Umschreibung ein System diakritischer Zeichen
zur Andeutung der Aussprache verwendet.
Eine Sammlung von Übungssätzen mit phonetischer Umschrift zu
Ausspracheübungen bietet M. L. Annakin in seinen Exercises in
English Prommciation (Halle 1920). Für jeden einzelnen Laut werden
zwanzig solcher Übungssätze geboten. Die Aussprache ist die normale
südenglische. Das Buch wird sicher zur Einübung der englischen Aus-
sprache im Unterricht gute Dienste tun. Zur Einführung in die heutige
Umgangssprache aber scheint mir immer noch das treffliche Büchlein
von True und Jespersen, Spoken English (Leipzig, O. R. Reisland),
mit seinen frisch aus dem Leben entnommenen Gesprächen eins der
besten Hilfsmittel zu sein.
Ein zuverlässiges Nachschlagebuch in Fragen der modern-englischen
Aussprache ist Arnold Schröers Neuenglisches Atissprachcivörterbuch
(Heidelberg 1913). Es verwendet zur Aussprachebezeichnung dieselbe
leicht verständliche Transskription, deren der Verfasser sich schon in
seiner Neubearbeitung von Griebs Englisch - Deutschem Wörterbuch
(Stuttgart 1894 — 1898) bedient hatte. Ein originelles und in seiner
Art verdienstliches Werk ist Ä Phonetic Dictionary of the English
84
Language von Hermann Michaelis und Daniel Jones (Hannover
1913). Es ist der zweite Band von Michaelis' „Sammlung phonetischer
Wörterbücher" und gibt die Stichwörter in Lautschrift nach den Regeln
der International Phonetic Association. Daß das Buch ein unbedingt
zuverlässiger Ratgeber in allen Fragen der englischen Aussprache ist,
dafür bürgt schon der Name von Daniel Jones auf dem Titelblatt.
Aber die Anordnung nach Stichwörtern in phonetischer Lautschrift
scheint mir ein Mißgriff. Wenn jemand sich über die Aussprache eines
englischen Worts, die ihm unbekannt ist, unterrichten will, so wird er
doch lieber nach einem Wörterbuch wie das Schröersche greifen, das
die Stichwörter in gewöhnlichen Typen und dahinter die phonetische
Umschrift gibt, als mit dem Suchen in einem phonetisch geordneten
Wörterbuch unnötig Zeit verlieren.
Ein sehr wichtiges, bisher leider arg vernachlässigtes Kapitel des
Sprachunterrichts schneiden H. Klinghardt und G. Klemm in
ihren Übungen im encilischen Tonfall (Oöthen 1920) an. Die theoretische
Grundlage dieses Buchs, die Aufführung der Mittel zur Darstellung des
Tonfalls, die Anordnung und Zusammenstellung der Übungen und die
Auswahl der Texte stammt von Klinghardt. Seine Mitarbeiterin, Frau
Gerdrude Klemm, die in Manchester als Kind deutscher Eltern geboren
wurde, hat die Darstellung der Stimmbewegung geprüft. Mit vollem
Recht weist Klinghardt in seinem Vorwort auf die Wichtigkeit von
Übungen in der richtigen Intonierung, im korrekten Tonfall einer
fremden Sprache hin. Nach allgemeinen Bemerkungen über logische
und sentimentale Sprechweise, über Tonfall und Lautbildung, über Lehr-
barkeit und Erlernbarkeit des Tonfalls, nach einer vergleichenden Zu-
sammenstellung des englischen, schwedischen, deutschen und französi-
schen Tonfalls, handelt er über das Wesen des Sprechtakts, auf dem
sich seine ganze Lehre vom Tonfall aufbaut. Dann spricht er, unter
Anlehnung an Daniel Jones, über den „ebenen Nachdruck" (level stress)
im Englischen. Daran schließen sich ausführliche Auseinandersetzungen
über die Eigenart des engUschen Tonfalls mit graphischen Darstellungen.
Den zweiten Teil des Buchs nehmen die mit diakritischen Zeichen ver-
sehenen Übungen im englischen Tonfall ein. Das Buch sei der Be-
achtung der Lehrer und Studierenden angelegentlichst empfohlen.
VII. Formenlehre
1. Substantiv
a) Grammatisches Geschlecht
Die Geschichte des grammatischen Geschlechts im Eng-
lischen hat durch Morsbach in seiner grundlegenden Abhandlung über
Grammatisches und psychologisches Geschlecht im Englischen (Berlin
1913) in ihren Hauptzügen eine abschließende Darstellung erfahren.
Einen wertvollen Nachtrag dazu liefert Nikolaus von Glahn in
seiner Heidelberger Dissertation Zur Geschichte des grammatischen Ge-
85
schlechfs im MiUeleiujlisclien vor dem völligen Erlöschen des aus dem Ält-
emjlischen crcrhten Zustandes (Anglist. Forsch. 53 ; Heidelberg 1918). Der
Verfasser gibt im ersten, allgemeinen Teil seiner Arbeit einen zusammen-
fassenden Überblick über die Geschichte des grammalischen Geschlechts
im Mittelenglischen bis zum Aufhören des aus dem Altenglischen er-
erbten Zustande, wobei er sich teils auf die Forschungen seiner Vor-
gänger, vor allem Morsbachs, teils auf die Ergebnisse seiner eignen
Untersuchungen stützt. Er weist zunächst auf den fundamentalen Gegen-
satz zwischen dem Verhalten des Altenglischen und des Neuenglischen
gegenüber dem grammatischen Geschlecht der Substantiva hin : während
im Altenglischen in der Hauptsache die drei Kategorien der gram-
matischen Genera: des Maskulinums, Femininums und Neutrums,
herrschen, kommen in der neu englischen Schriftsprache im großen
und ganzen die drei Kategorien des natürlichen Geschlechts:
männlich, weiblich, geschlechtslos, voll zur Geltung. Auch hinsichtlich
der granmiatischen Mittel zum Ausdruck des Genus besteht ein
erheblicher Unterschied zwischen Alt- und Neuenglisch. Während die
Kennzeichnung des grammatischen Geschlechts eines Substantivs im Neu-
englischen auf die Personal- und Possessivpronomina beschränkt ist, er-
folgt sie im Altenghschen auf verschiedenerlei Weise durch die Flexions-
formen, und zwar zum Teil schon durch die Flexionsendungen der
Substantiva selbst, zum Teil durch den Singular der zugehörigen Pro-
nomina (Artikel, Demonstrativa, Personalia und Relativa), endlich durch
die Flexion der zugehörigen Adjektiva. Im Mittelenglischen er-
fuhren diese Mittel zur Kennzeichnung des Genus erhebliche Einschrän-
kungen. Infolge der Nivellierung der vollen Endvokale zu -e entfiel
schon im Frühmittelenglischen in vielen Fällen die Genusbestimmung
durch die Flexionsendung des Substantivs selbst. In der Adjektivflexion
ist das Vordringen der schwachen Form, die bereits im Altenglischen
ziemlich charakterlos war, von größter Bedeutung. Aber auch die
Flexion des starken Adjektivs wird frühzeitig zerrüttet. Als Relativ-
pronomen dient seit dem 12. Jahrh. in immer zunehmenden Maße das
einheitliche pcet, pat, ohne Rücksicht auf Genus, Numerus und Kasus.
Artikel und Demonstrativpronomen dagegen bewahren noch längere Zeit
in größerem Umfang ihre geschlechtigen Formen und dienen als Stützen
des grammatischen Geschlechts. Aber nach und nach werden auch bei
ihnen die genusunterscheidenden Formen immer stärker eingeschränkt,
bis sie ebenfalls vereinheitlicht werden. Personal- und Possessivprono-
mina aber, die einzigen, die — aus logischen Gründen — ihre ver-
schieden-geschlechtigen Formen bis ins Neuenglische gerettet haben,
genügten allein nicht zur Erhaltung des grammatischen Geschlechts der
Substantiva.
Der Verfall der Flexion führte zunächst in zahlreichen Fällen zum
Genuswechsel der Substantiva, wobei der Einfluß der Flexionsformen,
der Auslautsgestaltung, sowie Reim- und Begrifl'sassoziationen für die
Richtung des Wechsels maßgebend waren. Aber durch die beständige
Zunahme des Gebrauchs der geschlechtig indifferenten Formen von
86
Artikel, Demonstrativ und Adjektiv mußte allmählich die Tradition|des
überlieferten persönhchen Geschlechts unpersönlicher Substantiva immer
mehr erschwert werden, und mit den genusunterscheidenden formalen
Merkmalen ging schließlich auch das Gefühl für das grammatische Ge-
schlecht verloren. „Mit dem Verfall der rein äußeren Unterlagen, an
die das Genus geknüpft war", sagt Morsbach (S. 9), war „die Neu-
tralität aller Substantiva, die keine geschlechtigen Lebewesen bezeich-
neten, gegeben." An die Stelle des Genuswechsels trat der völlige
Genusschwund. Den Wörtern für geschlechtslose Objekte schließen sich
dabei auch die Tiernamen an, soweit das Tier lediglich als Vertreter
der Gattung, nicht als geschlechtliches Individuum bezeichnet wird.
Der Schwund des grammatischen Geschlechts ist in den
verschiedenen Dialekten zu verschiedener Zeit erfolgt. Die ersten Spuren
einer Umwälzung der alten Genusverhältnisse in der Richtung auf das
Neuenglische sind imNordhumbrischen schon in der zweiten Hälfte
des 10. Jahrh.s erkennbar, wie Lindelöf nachgewiesen hat. Etwas länger
hat sich das grammatische Geschlecht im Mittelland erhalten; doch
tritt in dem nordostmittelländischen Orrnmlum um 1200 der heutige
Stand schon offen zutage: in der ganzen umfangreichen Dichtung sind
nur noch fünf Fälle von Substantiven mit persönlichem Genus belegt.
Am zähsten bewahrt der Süden, der hier wie in andern Sprach-
erscheinungen konservativer ist als der Norden, die Mannigfaltigkeit der
alten Genera, allerdings mit dialektischen Unterschieden. Im Süd-
westen hat sich die Umwälzung zwischen 1200 und 1250 vollzogen:
bei Lai^amon (um 1205) ist das grammatische Geschlecht noch erhalten;
in der Ancren Riwle (um 1225) ist die Neutralisation schon ziemlich
vorgerückt; um 1250 werden die unpersönlichen Substantiva im all-
gemeinen schon ungeschlechtig gebraucht. In den Denkmälern des
Südostens, die von Glahn im zweiten Teil seiner Arbeit genauer
untersucht, ist das grammatische Geschlecht um diese Zeit noch intakt.
Erst im AijenUte (1340) setzt die Neutralisation ein; doch weist die
weit überwiegende Mehrzahl der Fälle auch hier noch persönhches Ge-
schlecht der unpersönlichen Substantiva auf Gegen Ende des 14. Jahr-
hunderts aber zeigt der Kenter Gower keine Spur mehr vom gramma-
tischen Geschlecht im alten Sinn. Um 1400 ist somit die Neu--
tralisierung der Substantiva in ganz England durchgeführt.
b) Genitiv- und Pluralbildung
Über Die Ausbreitung des fleldierten Geniiivs auf -s im 31ittel-
emßisclien hat vor längerer Zeit ein Schüler von mir, Otto Knapp,
in einer Heidelberger Dissertation gehandelt (abgedruckt Engl. Stud. 31,
20; 1902). Der Ursprung des Genitivs mit o/' kommt in einer wich-
tigen Abhandlung von George O. Curme, Tlie Development of the
Annlytic Genitive in Germanic (Mod. Philology 11, 145 u. 289; Okt.
1913 und Jan. 1914) zur Erörterung. Beide Arbeiten liegen weiter
zurück und können hier nur gestreift werden.
87
Dagegen ragt eine wertvolle Kieler Dissertation von Eduard
Roedler über Die Ausbreitung des a- Plurals im Englischen (Erster
Teil 1911 als Disseri, zweiter 1916 in Angl. 40, 420 erschienen), die
auf Anregung Holthausens entstanden ist, mitten in den hier behandelten
Zeitraum hinein und mag bei der Wichtigkeit des Gegenstands ein-
gehender besprochen werden. Sie folgt in ihrer Anlage und der Aus-
wahl der untersuchten Texte in der Hauptsache dem Vorbild von Knapp.
Unter kritischer Verwertung der Ergebnisse von Roedlers Untersuchungen
läßt sich die Ausbreitung des s-Plurals in ihren Hauptzügen folgender-
maßen darstellen.
Das Altenglische kennt bei Beginn der literarischen Überliefe-
rung eine große Mannigfaltigkeit von Pluralbildungen: 1. Eine
der häutigsten ist von Anfang an die auf -«s, die ursprünglich in der
maskulinen «-Deklination zu Hause ist ('cvulfas, herigas, hyllas, hearivas).
Sie wurde schon in vorliterarischer Zeit auf die meisten langsilbigen
maskulinen «-Stämme (ivyrmas) übertragen, die im Nom. und Akk. Singl.
nach dem Abfall der Endung — vom Umlaut des Wurzelvokals ab-
gesehn — den r<- Stämmen völlig glichen. In frühliterarischer Zeit griff
der «s-Plural auch auf die langsilbigen maskulinen t«-Stämme (pornas),
die kurzsilbigen maskulinen i- Stämme (ivinas), den r- Stamm fader
{fad[e]ras), die einsilbigen 7id- Stämme (fcondas, freondas) über, denen
später die zweisilbigen ^«fZ- Stämme (Jietiendas, seit Alfred) und andre
konsonantische Stämme (Jicdepas , monpas) folgten. Dieser masku-
line as-Plural, der somit schon zu altenglischer Zeit in kräftigem
Vordringen war, ist der Ausgangspunkt der heutigen engli-
schen Pluralbildung auf -s, -es [-s, -,?, -iz\ geworden.
2. Sehr häufig und lebenskräftig ist sodann der an -Plural der
schwachen Substantive aller drei Geschlechter (naman, kmgan, cagan) ;
doch hat er sein Gebiet in älterer Zeit zunächst nicht wesenthch erweitert.
3. Recht häufig ist auch eine Pluralbildung auf -a. Sie findet
sich bei den zahlreichen femininen ö- Stämmen ilära, hrycga, gierda,
mcbdiva, oft im Wechser mit -e, das ursprünglich dem Akk. Plur. zukam)
und bei den i^-Stämmen (suna, felda neben feldas; dura, lianda). Im
Anschluß an die ö-Stämme bilden später auch die femininen /-Stämme
ihren Plural auf -a (hyda).
4. Ein Plural auf -u aus urgerm. -ö ist der neutralen «-Deklination
eigen; er findet sich bei den einsilbigen «-Stämmen mit kurzer Wurzel-
silbe [colli), bei den zweisilbigen «- und /«-Stämmen mit langer Wurzel-
silbe (Jieaf[o]du, ric^iju, ivcstennu) und bei den ?<;a-Stämmen (scaru, treoivu).
5. Einen endungslosen Plural haben die einsilbigen neutralen «-
und ;■«- Stämme mit langer Wurzelsilbe (word, ct/n[n]) und ein paar
zweisilbige konsonantische Stämme {hoiep, mönap).
6 Ein Plural auf -e aus älterem -i, der ursprünghch die t- Deklination
kennzeichnet, kommt nur bei den kurzsilbigen Maskulinen und den
langsilbigen Femininen dieser Klasse in älterer Zeit noch gelegentUch
vor (wine, hene). Bei langsilbigen Maskulinen ist er auf Völkernamen
(Engle, Seaxe) und ein paar andre Wörter (leode, ielfe) beschränkt. Sonst
dringt bei den maskulinen ^-Stämmen allgemein die Endung -as, bei
den femininen -a durch (s. oben unter 1 u. 3).
7. Einen Plural aut' -rti zeigen die Reste der alten neutralen
s-Stämme (lat. gener d), bei denen das s westgerm. zu r geworden ist
{lanib — lanibru, cild — cildru).
8. Einen Plural mit Umlaut des Wurzelvokals endlich bilden
mehrere konsonantische Stämme, deren urgerm. Endung -iz aus idg. -es
(griech. Ttöd-eg 'Füße^) sich bei Kurzsilbigen als -e erhalten hat (Jmutu
— hnyte) , bei Lang- und Mehrsilbigen aber abgefallen ist {föt — fcet,
fet, man[n) — men(n), freond — friend, frynd; hoc — hcec, hec, gös —
gws, ges).
Dieser umgelautete Plural hat sich bei einigen häufig gebrauch-
ten Wörtern als erstarrte Bildungsweise bis in die Gegenwart be-
hauptet (feet, men ; geese, niice u. a.), aber sich nicht weiter ausgebreitet.
Auch die Pluralendung -rti der schon altenglisch im Aus-
sterben begriffenen s- Stämme ist, im Gegensatz zu der entsprechenden
deutschen Endung -er, im Englischen nicht produktiv gewesen. Sie
hat sich me. in lanihre , childre, ne. mit ^-Erweiterung in chüdren er-
halten.
Der endungslose Plural der langsilbigen Neutra ist im Mittel-
englischen noch ziemlich häufig (deer, folk, hors, pound, sheep , sivm,
thing, yeer) und besteht bei verschiedenen dieser Wörter bis heute. Das
Gebiet des endungslosen Plurals hat sich in neuenglischer Zeit aus
andern Quellen sogar bedeutend erweitert. Roedler, der in § 14 seiner
Arbeit (Angl. 40, 460) den Plural bei Maßbestimmungen der Zeit, des
Werts, der Ausdehnung und des Gewichts erörtert, hat Ekwalls um-
fangreiche Abhandlung On tJie Origin and History of tlie Unchanged
Plurcd in English (Lunds Universitets Arsskrift, N. F. Afd. 1, Bd. 8, 3 ;
1912) nicht mehr benützt.
Bei den übrigen Pluralbildungen treten schon in spätae. Zeit
erhebliche Verschiebungen und Ausgleiche zutage, im Norden
mehr als im Süden. Als lebenskräftig erweisen sich in der altengl.
Periode im wesentlichen nur drei von den acht Pluralbildungen:
die auf -as, -an und -u, wozu im Nordhumbrischen noch eine weit
verbreitete Pluralendung auf -a, -o kommt.
1. Das -M der Neutra (wofür spätae. auch -a, -o, -e) zeigt die
Neigung, sich auf sämtliche neutralen a-Stämme auszu-
breiten, vor allem auf die ursprünglich endungslosen Langsilbigen:
spätws. hänu, landii\ spätnordh. hüso, -a, londo. Im Mittelland behaupten
sich die endungslosen Formen kräftiger.
2. Das -as der Maskulina greift weiter um sich, nament-
lich im Nordhumbrischen. a) Es erfaßt die kurzsilbigen maskulinen
M-Stämme: spätws. sunas, ivudas. b) Es beginnt, im Mittelland und
mehr noch im Norden der Endung -u die Herrschaft über die Neutra
streitig zu machen: Peterb. Chron. hüses, mynsteras, -es; nordh. nestas
neben nesto, godspellas, -es neben -a , ricas neben rico, -u, -e. c) Im
Nordhumbr. dringt die Endung -as auch in das Gebiet der Feminina
89
[ö-, i- und kons. Stämme) ein: castras neben -a, -e, hurgas. d) Auch
die »«-Stämme schließen sich im Nordhumbr. nach lautgesetzHchem Ab-
fall des -n teilweise der Pluralbildung auf -as an; stearras neben
sfeorra, -it.
3. Anderseits tritt bei maskulinen «-Stämmen neben -as im Nord -
humbrischen bisweilen eine Pluralendung -a, -o auf: Idüfa, -o
neben lildfas, gästo neben güstas. Sievers (Ags. Gr. 237, A. 2) erblickt
darin die schwache Endung mit abgefallenem -n\ Roedler (S. 18) hält
es für das Nächstliegende, „Schwankungen nach der Flexion der Neutra
anzunehmen, die durch die Unsicherheit im Gebrauch des grammati-
schen Geschlechts möglich gemacht wurden". Ich möchte vielmehr
darauf hinweisen, daß sich im Nordhumbrischen bei der neutralen «-De-
klination, bei der femininen ö- Deklination und bei der schwachen De-
klination durch lautlichen Zusammenfall eine einheitliche, sehr häufige
Pluralbildung auf -a, -o, -u entwickelt hat, die mit der sich ausbreiten-
den Maskulinendung -as im Kampfe liegt und in den oben angeführten
Fällen tatsächlich in die Reihen der Maskulina eingedrungen ist. Der
Lautwert dieser Endung war wohl ein offner, dumpfer, o- oder M-artiger
Vokal, der im Lauf des 11. Jahrhunderts allmählich in [3], geschrieben
e, überging.
4. Im Mittelland und Süden dringt in spätae. Zeit die schwache
Pluralendung -aii, -en viefach, wenn auch noch nicht in bedeuten-
derem Umfang, in die andern Dekhnationsklassen ein: scipan, sc'iran,
Nortliymhran, sunan.
Nach Abschwächung der vollen Endvokale zu -e im 11. Jahrhundert,
die wesentlich zur Vereinheitlichung der Flexion beitrug, schrumpfte
die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der Pluralendungen noch mehr zu-
sammen. Von den endungslosen und umgelauteten Pluralen abgesehen,
blieben am Ende der altengl. Periode (um 1100) im Mittel-
land und Süden noch -es, -en, -e, im Norden nur -esund-e
als lebendige Pluralsuffixe übrig.
Die Entscheidung in dem Kampf dieser Endungen untereinander
fiel im Lauf der mittelenglischen Periode. Das wenig aus-
drucksvolle -e war seinen Konkurrenten gegenüber insofern im
Nachteil, als es, zumal nach der allgemeinen Abschwächung der End-
silbenvokale, kein ausschheßhches Pluralzeichen war, da auch der Nom.
Singl. in sehr vielen Fällen auf -c ausging. Die Endungen -esund-cH
waren zweifellos deutlichere Mittel zur Bezeichnung des
Plurals als -e, das zudem im Norden schon um 1200, im Mittelland
und Süden im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts zu verklingen begann.
Im Norden war der schließliche Sieg des s- Plurals eigentlich
schon mit dem lautgesetzUchen Schwund des auslautenden -n im 10. Jahr-
hundert entschieden; denn nach dem Ausscheiden dieses gefährlichsten
Mitbewerbers hatte das -s dem -c gegenüber leichtes Spiel. Das Ein-
dringen des -s in die Feminina und die schwachen Substantiva, das
schon im 10. Jahrhundert kräftig eingesetzt hatte (s. oben), wurde
im Frühmittelenglischen vollendet. Auch die laugsilbigen Neutra schlössen
90
sich immer vollzähliger der übermächtigen Bildungsweise an. So kam
es, daß im Norden bereits im 12. Jahrhundert der s-Plural
in allen Deklinationsklassen durchgedrungen war. Ahn-
lich war es im Nordmittelland , wo im Orrnmlum (um 1200) der
neuengl. Standpunkt ebenfalls schon erreicht war.
Im Südmittelland galt der s-Plural um 1250 zwar auch schon
überall als Regel, doch begegnen hier viel häufigere Ausnahmen als im
Norden; namentlich die w-Plurale haben sich nicht nur in erheblichem
Umfang behauptet, sondern vielfach sogar neues Gebiet erobert. Inder
Londoner Schriftsprache ist der s-Plural zur Zeit Chau-
cers allgemein durchgeführt. Die wenigen damals noch vor-
handenen Reste andrer Pluralbildungen (endungslose Plurale thing, yeer
u. a.) wurden im 16. Jahrhundert beseitigt.
Anders verlief die Entwicklung im Süden des Landes. Hier hat
der M-Plural der schwachen Deklination erheblich an Geltung gewonnen
und hält im 14. Jahrhundert dem s-Plural ziemlich die Wage. Diese
Ausbreitung des «-Plurals im Süden nimmt ihren Ausgangspunkt
von der Tatsache, daß die schwachen Feminina, wie vor ihnen schon
die starken, im Singular die Endung -e verallgemeinerten, während sie
im Plural -en behielten, und daß dann nach dem Muster der Feminina
sämtliche schwachen Substantiva den Singular auf -e, den Plural auf
-en bildeten. Dadurch wurde die Endung -en ebenso wie -es ein charak-
teristisches Pluralsuffix. Bald nahmen auch die starken Substantiva
mit dem Nom. Singl. auf -e, soweit sie nicht schon im Altengl. den
Plural auf -as bildeten, geschlossen die schwache Pluralendung -en an,
also sämtliche Feminina, sowie die kurzsilbigen maskulinen /- und u-
Stämme: talen, gloven, tiden, lionden, sustren, hiten, sunen. Bedeutsam
für den Wettbewerb zwischen -en und -es war es auch, daß sich im
Süden das Gefühl für das grammatische Geschlecht lange
lebendig erhielt. Dem ausgesprochen maskulinen Suffix -es wurde
der Eintritt in die Flexion der E"'eminina erschwert, weil die Feminina
von den Maskulinis und Neutris im Sprachgefühl reinlich auseinander
gehalten wurden, während umgekehrt das schwache Suffix -en in seiner
Ausbreitung dadurch begünstigt wurde, daß es von Haus aus geschlechts-
los war (guman, tungan, eagan).
Nur die langsilbigen Neutra haben sich der Analogie der schwachen
Substantiva entzogen und von Anfang au den Anschluß an die s-Plurale
bevorzugt (ivordes, Werkes, wivcs, horses), weil sie nicht nur in dem
endungslosen Nom. Sgl. mit den maskulinen «-Stämmen übereinstimmten,
sondern ihnen auch sonst in der Flexion am nächsten standen.
Es scheint somit in frühmittelenglischer Zeit im Süden einmal die
Regel gegolten zu haben, daß Wörter auf -e im Nom. Sgl. den Plural
schwach bildeten, während endungslose Substantiva in der Mehrzahl -es
anfügten.
Erst im 13. Jahrhundert, als das grammatische Geschlecht auch in
den südlichen Dialekten zu schwanken begann, werden Pluralbildungen
auf -s unter den Femininen häufiger. La^amon A hat schon ^ives, halles,
91
dünes, meäewes, höJces, aber die Neubildungen auf -en überwiegen bei
weitem. Es ist wohl kein Zufall, daß unter den Femininen, die zuerst
die Pluralbildungen auf -es annahmen , besonders zahlreiche laiigsilbige
sind, die sich im Nom. Sgl. mit den IVIaskulinen berührten. Sehr früh
nahmen z. B. die Abstrakte auf -img die Endung -es an. Aber ver-
schiedene Klassen sträubten sich hartnäckig gegen die Übernahme des
-es. Erst als durch die scharf geschnittene germanische Anfangsbetonung
auch in den südliehen Mundarten die Endungen immer mehr verstümmelt
wurden, als das -n endgültig beseitigt ward, als seit ] 400 das auslautende .
-e abfiel und im Zusammenhang damit das grammatische Geschlecht
gänzlich schwand, gelangte ders-Plural auch im Süden zur all-
gemeinen Herrschaft. Aber während der Norden und das nörd-
liche Mittelland ihn schon in frühmittelenglischer Zeit durchgeführt
hatten, während das Südmittelland etwa im 14. Jahrhundert diese Stufe
der Entwicklung erreichte, scheint der s-Plural in der Volkssprache des
Südens erst in neu englisch er Zeit völlig durchgedrungen zu sein.
Ein Einfluß des französischen s- Plurals auf die englische Plural-
bildung, wie ihn Earle und andre ältere Forscher vermuteten, ist aus-
geschlossen ; denn einerseits war die Ausbreitung des maskulinen s-Plurals
auf die andern Geschlechter und Deklinationsklassen im Nordhumbrischen
schon ein Jahrhundert vor der Normannischen Eroberung in voller Ent-
wicklung, und der Sieg der s-Bildung vollzog sich am frühesten (hundert
Jah»'e nach der Invasion) grade im Norden, wo der französische Einfluß
sich am geringsten geltend machte; und anderseits wai* in dem stärker
französierten Süden in dieser Zeit umgekehrt die Pluralbildung auf -n
in starker Ausbreitung begriffen und behauptete sich dem -s gegenüber
bis ins Neuenglische hinein. Sogar zahlreiche französische Lehnwörter
sind von der Pluralbildung auf -n ergriffen worden. Die Ausbreitung
des s-Plurals ist zweifellos genau wie die Ausbreitung des Genitivs auf
-s eine ganz interne englische Entwicklung, für deren Verlauf das fran-
zösische Plural-s ohne Belang war.
2. Pronomen
Die Kieler Dissertation von Otto Die hn über Die Pronomina im
Frühmittelenglischen (Kieler Studien 1; 1901) hat eine Ergänzung er-
fahren durch eine Dissertation der Leland Stanford University von
A. G. Kennedy, The Pronoun of Address in Englisli LiteraUire of tlic
Thirteenth Century (Stanford Univ., California, 1915). Kennedys Dar-
stellung beschränkt sich auf das Personal , Possessiv- und Reflexivpro-
nomen der zweiten Person. Er hat die Literatur des 1 3. Jahrhunderts
mit peinlicher Gewissenhaftigkeit durchgearbeitet und ein reiches Material
zusammengetragen. Aber seine Untersuchung leidet an einem bedauer-
lichen methodischen Fehler: er wirft grammatische Formen und bloße
Schreibungen durcheinander. Der morphologische Teil seiner Arbeit
ist nichts als eine Statistik der Schreibungen, die er nach der Häufig-
keit des Vorkommens ordnet. Zum Lautwert, zur Erfassung des We-
92
Sans der grammatischen Form dringt er nicht durch und begeht auch
im einzelnen manche Versehen, die aus der Verwechslung von Schreibung
und Lautwert entspringen. Es würde sich lohnen, auf Grund seines
wertvollen Materials eine Neubearbeitung des Gegenstands nach gram-
matischen Gesichtspunkten zu liefern. An den morphologischen Teil
reiht sich eine Darstellung der syntaktischen Verwendung der Anrede-
pronomina. Der interessanteste Teil der Arbeit ist der letzte, der über
das Auftreten des „pluralis reverentiae^' oder, wie Kennedy sich aus-
drückt, des „formal singular" handelt. Der Verfasser stellt fest, daß
von 1250 an unter dem Einfluß der französischen Hofsprache der Ge-
brauch des Plurals statt des Singulars in der Anrede allmählich auch
in die englische Literatur eindringt. Aber dieser Gebrauch ist in der
zweiten Hälfte des 13 Jahrhunderts noch ein recht sporadischer. Nur
in sehr seltnen Fällen ist die formelle pluralische Ausdrucksweise kon-
sequent durchgeführt, und auch diese mögen mehr oder weniger zufällig
sein. Meist sinkt der Schreiber sofort wieder in die gewöhnliche Aus-
drucksweise zurück, oder es handelt sich überhaupt nur um ganz iso-
lierte Fälle.
Der letzte Teil von Kennedys Arbeit wird fortgeführt durch eine
Abhandlung von R. 0. Stidston, The Use of ' ye in ihe Function of
*thou' in Middle JEnglish Liferature from 3Is. ÄuchinlecJc to Ms. Vernon.
A Study of Grammar and Social Intercourse in Fourteenth- Century Eng-
land (Stanford Univ., Cahfornia, 1917). Die Arbeit ist nach dem Tode
des Verfassers von Kennedy für den Druck hergerichtet und mit einem
Vorwort herausgegeben, Sie verfolgt die Ausbreitung des „pronoun of
respect" im 14. Jahrhundert, etwa von 1325 — 75, unter Zugrundelegung
der handschriftlichen Überlieferung der Literaturwerke. Die übliche
Form der Anrede während dieser Periode ist noch durchaus der Singular.
Aber der Plural des Respekts, der in Frankreich um 1300 schon gut
eingebürgert war, gewinnt im 14. Jahrhundert auch in England an Boden.
Doch ist diese Höflichkeitsanrede vornehmlich auf die Angehörigen der
obern Gesellschaftsklassen beschränkt. Könige, Grafen, Ritter, Geist-
liche verwenden sie absichtlich, um sich beliebt zu machen oder um Er-
regung zu beschwichtigen. Gelegentlich wird sie auch schon ohne Ab-
sicht als etwas Selbstverständliches gebraucht. Und der Redende geht
oftmals aus dem Singular in den Plural über, um sich formeller aus-
zudrücken. Die untern Klassen halten noch an der alten Anredeform
fest, selbst wenn sie mit Königen und Königinnen sprechen. Im übrigen
wird der Höflichkeitsplural am meisten von Untertanen gegenüber Mit-
ghedern des Königshauses, von Kindern gegenüber ihren Eltern, von
Untergebenen im Gespräch mit Vorgesetzten als Zeichen des Respekts
angewandt. Wenn er in der Unterhaltung gesellschaftlich Gleichstehender
begegnet, so wird in der Regel ein besonderes Verhältnis vorliegen, das
den einen über den andern erhebt. Und wenn ein Vorgesetzter einen
gesellschaftlich Tieferstehenden, oder wenn Eltern ihr Kind mit ye an-
reden, so werden sie meist einen besondern Grund zur Verwendung
dieser respektvollen Anrede haben. Eine genauere Darstellung der ver-
93
schiedenen Stadien in der zeitlichen und räumlichen Ausbreitung des
Gebrauchs von tje statt thou vermochte Stidston auf Grund des ihm
vorliegenden Materials nicht zu geben. Aber seine Zusammenstellung
ist ein interessanter Beitrag zur Geschichte des Pronomens und der ge-
sellschaftlichen Bräuche im 14. Jahrhundert.
3. Verbiim
Eine dänische Akademieabhandlung von Otto Jespersen über
Tid og Temims (Kopenhagen 1914), die das Verhältnis der logischen
Zeitauffasöung zu dem sprachlichen Ausdruck dafür vom Standpunkt
der allgemeinen Sprachwissenschaft behandelt, ist auch für die englische
Grammatik belangreich. Bemerkenswert sind z. B. seine Ausführungen
über die verschiedenen Arten des Präsens: das allzeitige {die Erde dreht
sich um ihre Aclise), das zukünftige {ich reise morgen) und das vor-
zeitige oder historische Präsens (S. 384 fF.). Weitere Abschnitte handeln
über das Perfektum, die indirekte Rede, Aorist und Imperfektum, die
englische Umschreibung is ivriting usw. Namentlich die Erörterungen
über die umschreibenden Zeitformen, die von englischen Grammatikern
„ definite tenses '', ,, progressive forms" oder „continuous tenses*' genannt
werden, die Jespersen aber lieber „erweiterte Tempora, expanded tenses"
nennen möchte, bringen dem Anglisten viel Interessantes. Auf eine
wichtige, in der Abhandlung berührte Frage, den Ursprung des histo-
rischen Präsens, werden wir gleich noch zurückzukommen haben.
Der Gebrauch des Hilfszeitworts do beim Verb um, der
dem Altenglischen fremd und auch Chaucer noch ungeläufig ist, beginnt im
15. Jahrhundert sich auszubreiten und ist im Frühneuenglischen ungemein
häufig. Die Umschreibung der einfachen Verbform durch do mit dem
Infinitiv wird im Zeitalter Shakespeares anscheinend regellos sowohl in
positiven als auch in P^rage- und Verneinungssätzen gebraucht. Erst
gegen Ende des 17. Jahrhunderts setzt sich die heute geltende Be-
schränkung auf Frage- und Verneinungssätze durch. In positiven Sätzen
wird es heute nur noch selten und in bestimmten Stellungen und Funk-
tionen gebraucht.
Die Gründe dieser Verwendung des do sind noch in mancher Hin-
sicht ungeklärt, zumal im positiven Satz. Einen neuen, eigenartigen
Deutiuigsversuch unternimmt Hildegard Harz in ihrer Arbeit Die
Umschreihung mit 'do' in Shakespeares Prosa (Neue Anglist. Arbeiten,
hrsg. von Schücking und Deutschbein, 2; Cöthen 1918). Sie geht von
der Überzeugung aus, daß Shakespeare die einfache und die umschriebene
Verbform doch nicht regellos verwende. Im Anschluß an Wundts Lehre
vom neutralen, subjektiven und objektiven Denken und an Lipps'
Definition der „Einfühlung" ist sie der Meinung, daß das periphrastische
do von Shakespeare in seiner Prosa als Zeichen objektiven Denkens,
und zwar in der Mehrzahl der Fälle zur Bezeichnung der „P^infühlung"
verwandt werde, worunter nach Lipps „das unmittelbare Erleben eines
inneren Verhaltens oder Tuns in einem Objektiven, nur von außen Ge-
94
gebenen", die „Objektivierung meiner selbst" zu verstehen ist. Die Ein-
fühlung gehört nach Lipps der menschlichen Phantasietätigkeit an. Die
„vollkommene" Einfühlung verrät sich durch äußere Bewegungen des
Sprechenden, in denen er sich mit dem gegenüberstehenden Objekt
identisch fühlt, während die „reine" Einfühlung in anders gearteten
Bewegungen, in Blicken, Mienenspiel und Hand Bewegungen zum Aus-
druck kommen kann. Fräulein Harz meint nun (S. 5 f.), in dieser Hin-
sicht müsse „die Umschreibung mit do in Shakespeares Prosa, die die
Einfühlung anzeigt, ein Wink für den Schauspieler gewesen sein, seine
Worte durch Bewegung zu begleiten". In eingehender Untersuchung
sämtHcher Fälle von Umschreibungen mit do in Shakespeares Prosa
sucht die Verfasserin ihre Theorie im einzelnen zu erweisen. Sie macht
dabei manche gute Beobachtung, und ihre Materialsammlung hat ihren
Wert. Aber im übrigen haben Ekwall (Angl, Beibl. 30, 280; August
1919) und Franz (Engl. Stud. 54, 297 fi.; 1920) recht, wenn sie in ihren
Besprechungen des Buchs den Erklärungsversuch der Verfasserin als
gekünstelt ablehnen.
Die Lösung des interessanten Problems kann nur von einer viel
breiteren Grundlage aus erfolgen. Die Verbindung des Verbums mit
dem Hilfszeitwort 'tun' findet sich in den verschiedensten Sprachen.
Wenn die gewöhnliche Erklärung der Endung -de bzv/. -te im schwachen
Präteritum richtig ist, so würde diese Umschreibung mit 'tun' schon
dem Urgermanischen bekannt gewesen sein (lohte = 'loben tat'). Jeden-
falls ist aber die Umschreibung mit 'tun' beim Verbum in den heutigen
oberdeutschen Dialekten ebenso gewöhnlich wie in den heutigen Mund-
arten des englischen Südwestens (Wright EDGr. S. 297). Auch im Alt-
französischen, besonders im Anglonormannischen, wird faire in ähnlicher
Weise gebraucht (Tobler, Jahrb. f. rom. und engl. Lit. 8, 349; 15, 248;
Burghardt, Einfluß d. Engl, auf d. Angionorm. 33). In allen diesen
Fällen dient die Hinzufügung des Hilfszeitworts 'tun' zur Verstär-
kung des Verbalbegriffs und damit zugleich zur Belebung der
Ausdrucksweise. Ebenso ist die Hinzufügung von gan 'begann'
zum einfachen Verbum in mittelenglischen Dichtungen zu beurteilen
(Hörn gan Ms siverd gripe u. a.). Auch die Bezeichnung des Futural-
begrifFs durch shall und will, die Ersetzung des flektierten Genitivs und
Dativs durch präpositionale Bildungen mit of und to , die Komparation
durch more und most, Wendungen wie it is I und andre Konstruk-
tionen gehören in dasselbe Kapitel. Überall sehen wir das gleiche
Bestreben, einen sprachlichen Ausdruck durch Hinzufügung von Hilfs-
zeitwörtern, Adverbien, Präpositionen, Enklytika u. dgl. zu verstärken, um
den betreffenden Begriff kräftiger und anschaulicher zur Geltung zu
bringen. Bisweilen verschmelzen diese verstärkenden Formwörter im
Verlauf der Sprachentwicklung mit dem einfachen Wort zu einer neuen
Einheit, wie griech. iui ys = germ. meJc 'mich', das Präteritum loh-te u. a.
Im Frühneuenglischen konnte die Umschreibung mit do in Sätzen
aller Art beliebig angewandt werden, und der ursprünglich verstärkende
Charakter mußte infolge der häufigen Anwendung bald wieder verblassen.
95
Wenn auch die verstärkende Funktion des do oftmals noch deutlich
hervortritt, so werden doch in andern Fällen einfache und umschreibende
Verbform ohne ei*sichtiichen Unterschied durcheinander gebraucht. In
der heutigen englischen iSchriitsprache hat sich in positiven Sätzen die
einfache Verbform wieder durchgesetzt; die Verwendung des do ist hier
auf besondere Fälle beschränkt, wo es zum Ausdruck von Emphase, Feier-
lichkeit, Intensität des Affekts, zur Hervorhebung von Gegensätzen oder zur
Betonung der Tatsächlichkeit und Wirklichkeit dient. In Frage- und Ver-
neinungssätzen dagegen hat die Umschreibung mit do schon seit dem Ende
des 17. Jahrhunderts die einfache Verbform allgemein verdrängt, und die
ursprüngliche, verstärkende Bedeutung des da ist hier ganz zurück-
getreten. Deutschsbein (System d. neuengl. Syntax S. 79) und
P^ranz (EStud. 54, 298 ff. j haben darauf hingewiesen, daß bei diesem
allgemeinen Durchdringen der Umschreibung mit do in Frage- und Ver-
neinungssätzen in erster Linie Rücksichten auf Wortfolge imd Satz-
rhythmus maßgebend gewesen sind . Doch wäre eine zusammenfassende,
großzügige Behandlung des ganzen Problems eine lohnende Aufgabe.
Ein andres interessantes Thema, der Ursprung des historischen
Präsens, ist bislang auch noch nicht gründlich untersucht worden.
Eine eingehende Studie von J. M. Steadman, The Origin of the
Historical Present in English (Studios in Philology 14, 1; Jan. 1917)
sucht dieser Aufgabe gerecht zu werden. Das Schwergewicht der Arbeit
liegt in ihrem ersten Teil, der dem Vorkommen des historischen Präsens
in alt- und mittelenglischer Zeit gewidmet ist. Nach Erörterung einer
Anzahl zweifelhafter Fälle gelangt der Verfasser zu folgenden Ergeb-
nissen. Das historische Präsens ist dem Altenglischen noch
fremd. In den lateinisch geschriebenen Werken der Angelsachsen da-
gegen (z. B. Beda) ist es durchaus gewöhnlich. Aber von den angel-
sächsischen Übersetzern lateinischer Werke wird die Wiedergabe des
lateinischen Präsens historicum durch das altenglische Präsens mit auf-
fallender Konsequenz gemieden. Das historische Präsens erscheint
im Englischen zuerst um 1200; gegen Ende des 13. Jahrhunderts
ist es schon ziemlich häufig, und im Zeitalter Chaucers wird es mit der
größten Freiheit verwandt.
Im zweiten Teil setzt Steadman sich mit den verschiedenen Theorien
über den Ursprung des historischen Präsens im Deutschen und Eng-
lischen auseinander. Die von Grimm, Mätzner, Brinkm ann, Ein-
en kel ausgesprochene Ansicht, daß es aus dem Altfranzösischen über-
nommen sei, lehnt er ab. Über die von Sweet vertretene Möglichkeit,
daß es auf lateinische Einflüsse zurückzuführen sei, geht er kurz hinweg.
Jespersen hatte in seiner oben (S. 91) genannten Schrift Tal og
Tempus S. 385 ff. die Ansicht geäußert, daß das historische Präsens eine
Ausdrucksweise der Umgangssprache sei, deren Fehlen in der alt-
englischen Schriftliteratur sich dadurch erkläre, daß wir aus dieser
Periode keine volkstümlichen Literaturdenkmäler erhalten haben. Das
historische Präsens aber wurzele grade in der volkstümlichen Dichtung.
Steadman gibt die Richtigkeit von Jespersens Behauptung, daß das
9G
historische Präsens am häufigsten in der Umgangssprache auftrete und
wahrscheinlich auch in ihr entstanden sei, im allgemeinen zu. Aber wenn
dies auch im allgemeinen gelte, so folge daraus noch nicht, daß diese
Erklärung auch für den Ursprung des historischen Präsens im Eng-
lischen zutreffe. Denn das Hauptproblem sei nicht das Erscheinen des
historischen Präsens im Mittelenglischen oder Mittelhochdeutschen, sondern
sein Fehlen in den älteren Sprachperioden und das absichtliche Ver-
meiden desselben bei Übersetzungen aus dem Lateinischen ins Alt-
englische. Steadman stellt fest, daß nach seinen Untersuchungen das
historische Präsens in volkstümlichen und nichtvolkstümlichen Dich-
tungen der englischen Literatur unterschiedslos verwandt werde. Das von
ihm gesammelte Beweismaterial stütze Jespersens Theorie über das
Fehlen des historischen Präsens im Altenglischen nicht.
Grimm, Brinkmann, Erdmann und Sweet gingen zur Er-
klärung des Fehlens des historischen Präsens in den älteren germani-
schen Sprachperioden von der Tatsache aus, daß das Präsens in Er-
mangelung eines Futurums in den altgermanischen Sprachen drei
Funktionen zu verrichten hatte: es diente zum Ausdruck allgemeiner
Wahrheiten, gegenwärtiger und zukünftiger Handlungen. Wäre die
gleiche Form auch noch zur Bezeichnung vergangener Ereignisse ver-
wandt worden, so würden durch Häufung der Bedeutungen einer einzigen
Verbalform Zweideutigkeiten und Mißverständnisse entstanden sein. Der
Ursprung des historischen Präsens sei deshalb an die Entstehung eines
periphrastischen Futurums geknüpft. Erst nach Ausbildung eines selb-
ständigen Futurs konnte das Präsens die Funktion eines Präteritums
übernehmen.
Behaghel lehnte diese Theorie ab, weil das Präsens in Wahrheit
die futurische Funktion bis auf den heutigen Tag nicht völlig ver-
loren habe, also doch zur Bezeichnung der drei verschiedenen Zeitformen
dienen müsse. Nach seiner Ansicht, die auch von Wilmanns über-
nommen wurde, ist der Ursprung des historischen Präsens im Germanischen
mit den Aktionsarten verknüpft. Es habe sich in vollem Umfang erst
dann ausbilden können, als der alte Unterschied der Verba perfektiva
und imperfektiva sich zu verwischen begann.
Steadman setzt sich mit den beiden letzten Theorien ausführlich
auseinander und sucht sie zu vereinigen. Er weist darauf hin, daß das
englische sliail- und ivill-¥\xi\xv nach Blackburns Untersuchungen (in
The English Future, Leipzig 1892) zwischen 1150 und 1200 entstanden
sei, während das historische Präsens erst von 1200 an auftrete. Er
hält deshalb eine kausale Verknüpfung der beiden Erscheinungen für
wahrscheinhch. Aber der Hauptgrund, warum ein historisches Präsens
sich vor Ausbildung des periphrastischen Futurs nicht entwickeln konnte,
sei nicht sowohl darin zu suchen, daß die Häufung der Funktionen des
Präsens Anlaß zu Mißverständnissen hätte geben können, sondern viel-
mehr darin, daß das Präsens eines perfektiven Verbs, welches gewöhn-
lich oder häufig die Zukunft bezeichnete, nicht zum Ausdruck einer
vergangenen Handlung gebraucht werden konnte.
Wissenschaftliche Forschungsbericlite IX. 7
Mit Steadmans Erklärung ist das letzte Wort in dieser schwierigen
Frage woLI auch noch nicht gesprochen. Die Verhältnisse werden im
Englischen dadurch verwickelt, daß das historische Präsens auftritt
nach der Ausbildung des periph rastischen Futurs, nach der Verwischung
des Unterschieds zwischen perfektiven und durativen Verben durch den
Schwund des Präfixes ge-, und nach der Normannischen Invasion , wo-
durch eine Entscheidung zwischen den verschiedenen Theorien erschwert
wird. Aber man mag sich zu Steadmans theoretischen Ausführungen
stellen, wie man will, die tataächlichen Feststellungen des ersten Teils
seiner Arbeit behalten jedenfalls ihren Wert.
Mit dem Gebrauch von sJiall und will, should und would im Futur
und Konditional des heutigen Englisch beschäftigt sich Zachrisson in
seinen Studien über Grammaücal CJianges in Preserit-Day English
(Studier i Mod. Spräkvetenskap 7, 24 ff.; Uppsala 1920). Er zeigt, daß
in der modernen Umgangssprache eine Neigung besteht, / shall durch
/ ivill, I shoidd durch I woidd zu ersetzen, und er vermutet mit Recht,
daß hierbei die Abkürzungen /'//, Fd eine Rolle gespielt haben, wo ^11 und
\l aus der 2. und 3. Person analogisch auf die erste übertragen
sind. Gleichzeitig dient dieser Ausgleich dem Streben nach Bequem-
lichkeit und Vereinfachung, wobei die Sprache allerdings die Möglichkeit
zum Ausdruck der feinen Bedeutungsschattierungen von sJiall und wdl in
der 1. Person des Futurums einbüßt.
Zachrissons kleine Schrift enthält noch eine Reihe weiterer inter-
essanter Studien über grammatische Wandlungen im heutigen Englisch :
so über die Verwendung des Präsens zum Ausdruck der Zukunft, über
den flektierten Genitiv bei Sachnamen, über eider und older , über
Archaismen in der Schriftsprache, über grammatische Veränderungen in
der Vulgärsprache, über die Aufnahme vulgärer Konstruktionen in
die Gebildetensprache.
VIII. Wortbildungslehre
Eine weit ausholende Untersuchung ist das Buch von Hermann
H i I m e r über Schalhiachahmung, Wortschöpfung und Bedeutungswandel
auf Grundlage der Wahrnehmungen von Schlag, Fall, Bruch und der-
artigen Vorgängen, dargestellt an einigen Lautivurzehi der deutschen
und der englischen Sjirache (Halle 1914). Ein erheblicher Teil der
Untersuchung ist allgemeinen Problemen der Schallnachahmung, Wort-
schöpfung und des Bedeutungswandels gewidmet, wobei sich der Ver-
fasser mit den Ansichten von Wundt, Paul, Marty, Sütterlin u. a. aus-
einandersetzt. Für den Anglisten sind vornehmlich die spezielleren Aus-
führungen über schallnachahmende Wortschöpfungen auf Grund der
Wahrnehmungen vom Schlag, Fall und Bruch und über die durch Be-
deutungswandel daraus entstandenen Wortgruppen von Interesse. Hilmer
knüpft dabei an eine Beobachtung von Wedgwood an, der darauf hin-
gewiesen hatte, daß die Schallnachahmungen für Schlag, Fall und Bruch
98
eine wichtige Quelle der Wortschöpfung seien. An zahlreichen Bei-
spielen aus dem Englischen und Deutschen weist Hilmer nach, daß aus
derartigen Schallnachahmungen vielfach Bezeichnungen für Erhöhung,
Vertiefung, Körper u. dergl. entstehen. Wenn ein Kind fällt, wird viel-
leicht ein Deutscher humps!, ein Amerikaner lang! ausrufen. Diese
Ausrufe, die zunächst Hloße Schallnachahmungen sind, werden ohne
weiteres auch zur Bezeichnung des Vorgangs des Fallens und Auf-
schlagens benutzt in Wendungen wie das war ein schwerer Bumps.
Sie werden aber nicht selten auch zur Benennung einer Beule verwandt,
die durch den Fall entstanden ist oder entstehen kann. So wird man
vielleicht zu dem Kinde sagen : Du hast dir aber 'nen tüchtigen Bumps
geholt] aus der Schallnachahmung ist hier ein Ausdruck für eine Er-
höhung geworden. Die so aus Schallnachahmungen entstandenen Aus-
drücke für Erhöhung, Vertiefung, Körper u. dergl. können dann ihrer-
seits wieder die Ausgangspunkte für weitverzweigte Bedeutungswand-
lungen werden. Hierher gehören Bedeutungsübergänge wie 'Erhöhung'
zu 'Haufe, Bündel, Büschel', 'Vertiefung' zu 'Gefäß', 'Körper* zu
'Mensch' (hody zu somebody) und andre. Im dritten Teil seiner Arbeit
gibt der Verfasser eine Liste solcher schallnachahmenden V/ortbildungen :
tap, pat, hat, hacTi, hnap, Jcnat, hnach, knall, hiar, Map, damp, hant,
hanJv, hang, plamp, Mamp, hump mit ihren lautlichen Varianten und be-
grifflichen Entwicklungsreihen.
Hilmer hat ein wichtiges Problem in anregender und interessanter
Weise behandelt. Sein Buch enthält eine Fülle von wertvollem Stoff
und guten Beobachtungen. Aber seine Aufstellungen sind mit Vorsicht
zu benutzen ; seine etymologischen Auffassungen sind zum Teil bedenk-
lich; seine Methode ist nicht einwandfrei; und wenn er S. 159 f. sein
Ergebnis dahin zusammenfaßt, daß „die weitaus große Mehrzahl der
ursprünghchen Benennungen der Formvorstellungen Körper, Erhöhung
und Vertiefung, sowie auch von einfachen nackten Bewegungsvorstel-
lungen" „auf der Nachahmung des Schalles von Schlag, Fall, Bruch und
derartigen Vorgängen" fuße, und daß „zum mindesten Dreiviertel der
Ding-, Eigenschafts- und Vorgangsbezeichnungen" des Deutschen und
Englischen daraus entsprungen seien, so zeugt das doch von einer starken
Überschätzung des wortbildenden Einflusses dieser Sprachquelle.
Eine interessante, von den Sprachforschern lange Zeit wenig be-
achtete sprachHche Erscheinung sind die Mischwörter: Bildungen,
die durch mehr oder weniger starke Beeinflussung und Vermischung
sinn- oder formverwandter Ausdrücke entstehen. Sie können auf ver-
schiedene Weise zustande kommen, können absichtliche oder unabsicht-
liche Bildungen sein, können ihre Entstehung zufälligem Versprechen
verdanken oder als häufiger auftretende Gewohnheitsbildungen sich all-
mählich das Bürgerrecht erwerben. Wenn jemand von einem jungen
Mädchen sagt, sie sei schrecklich hhdsüchtig, so ist das eine unbewußte
Augenblicksschöpfung durch Vermischung von hlutarm und bleichsüchtig.
Wenn ein englisches Kind aus suspect und suppose eine Mischform suspose
macht, so wird es, wenn es nicht verbessert wird, geneigt sein, dieses
7*
99
einmal gebildete Wort sich dauernd anzugewöhnen. Und Bildungen wie
ne. haffound 'perplex, bewilder' aus haffle 'confüse, perplex' und con-
found, von hohlacious 'bold, audacious, irapudent' aus bold und audacious
sind eingebürgerte englische Dialektwörter.
Francis A. Wood hat in einem Aahsitz Kontamhiafionshildtmgcn
und haplologische Mischformen (JE.(}Fh. 11, 295; July 1912) eine Liste
von 246 solcher Mischwörter zusammengestellt Unabhängig von ihm
hat Louise Pound in ihrer Schrift Blends: their Relation to English
Word Formation (Anglist. Forsch. 42; Heidelberg 1914) die Mischbil-
dungen zum Gegenstand einer selbständigen Untersuchung gemacht,
worin sie über die Eigenart der Mischwörter, ihre Beziehung zur Schrift-
sprache, ihre Abgrenzung gegenüber andern Bildungen, ihre heutige
Verbreitung und ihre Klassifizierung handelt und eine reichhaltige Liste
solcher Mischformen gibt.
Wie die Misch Wörter, so haben sich auch die Verkürzungen und
Verstümmelungen von Wörtern und Wortgruppen der wissenschaftlichen
Betrachtung lange entzogen. Abkürzungen häutig gebrauchter Wöi'ter
kommen in allen Sprachen und in allen Sprachperioden vor. Die schon
in altgermanischer Zeit zahlreichen Kurz- oder Koseformen für Personen-
namen gehören hierher. Im Englischen wurden Kurzformen besonders seit
der Restaurationszeit Mode. Ihren Höhepunkt aber hat die Sucht nach
Kürzung längerer Wörter und Wortgruppen in der Gegenwart erreicht,
und namentlich der Weltkrieg hat sowohl im Deutschen wie im Eng-
lischen zahllose Neubildungen dieser Art hervorgebracht.
Eine wissenschaftliche Behandlung der Kurzformen und Abkürzungen
war darum wohl eine lohnende Aufgabe. Elisabeth Wittman hat
in ihrer Studie Glipped Words: A Study of Back- Formations and Cur-
failments in Present- Day English (Dialect Notes IV 2, S. 115 ff.) den
Versuch gemacht, diese Aufgabe zu lösen. Sie liefert eine wertvolle
Sammlung von Kurzformen, aber ihre theoretischen Erörterungen sind
unzulänglich. Schon die Abgrenzung des Stoff'kreises ist inkonsequent.
Die Verfasserin beschränkt ihre Untersuchung auf bewußte Abkürzungen ;
verbale Bildungen wie rove, peddle, heg nach den Substantiven rover,
pedlar, heggar werden mit Recht ausgeschlossen, weil sie „are due to a
false conception of the structure of the word from which the clipping
was made, and were feit to be legitimate". Aber die ebenso gebildeten
Verba ank, hutch, mote, tope , ush, hurgle, huttle von anchor, hutchcr,
motor, toper, usher, hurglar, hutler u. a. werden irrtümlicherweise zu den
Kurzformen gerechnet. Auf die grade in neuster Zeit so unendlich
verbreitete Mode der Abkürzung durch die Anfangsbuchstaben längerer
Wortgruppen (wie ABC. für Aeraied Bread Company, nhd. Sipo für
Sicherheit^p)oUzei usw.), die doch auch hierher gehört, wird überhaupt
nicht eingegangen. Den Hauptgrund der Abkürzungen erblickt die
Verfasserin im Anschluß an Sunden, Paul Passy u. a. mit Recht in dem
Streben nach Ersparnis von Zeit und Mühe: Laute und Silben werden
als überflüssig weggelassen, wenn der Sinn des Worts auch ohne sie
klar ist. Manche solcher Kurzformen sind launig oder humoristisch.
100
Daß auch die Koseformen der Personennamen grundsätzlich hierher zu
stellen sind, scheint der Verfasserin entgangen zu sein, wenn sie auch
gelegentlich einzelne solcher Formen, wie Micli für Michael, Pat für
PatricJi, in ihren Listen aufführt. Vor allem aber vermißt man eine
theoretische Auseinandersetzung über das Verhältnis der Abkürzungen
zum Akzent und über die Frage, welche Gesichtspunkte oder Regeln
im einzelnen für die Bildung der Abkürzungen maßgebend sind. Kurz-
formen mit zurückgezogenem Akzent, wie ad für advertisement oder
advantage, con für conversation, conclusion, condition, condiictor u. a,
werden an verschiedenen Stellen behandelt. So brauchbar Miss Witt-
mans Arbeit als Stoffsammlung ist, für eine eingehendere Untersuchung
der Abkürzungen, die womöglich auch die Geschichte dieser Erschei-
nung berücksichtigen müßte, ist immer noch Platz. .
Die Substantivierung des Adjektivs, Partisips und Zahhvortes im
AngelsächiscJien ist das Thema einer Berliner Dissertation von Walter
Phoenix (Berlin, Mayer & Müller, 1918). Der Verfasser beginnt mit
allgemeinen Betrachtungen über den Unterschied zwischen Substantiv
und Adjektiv und über das Wesen der Substantivierung im Neuhoch-
deutschen und Neuenglischen. Er weist auf die Flüssigkeit der Grenze
zwischen Substantiv und Adjektiv hin und zeigt, daß eine Reihe von
Übergangsstufen langsam vom Adjektiv zum Substantiv hinüber führen.
Er unterscheidet: vorübergehend substantivierte Adjektiva individueller
oder genereller Art, ständig substantivierte Adjektiva unter Erweiterung
des Adjektivbegriffs (wie ein Verwandter), Substantiva, die von den
zugehörigen Adjektiven sowohl in Flexion als auch im Begriff abweichen
und als Substantiva zu betrachten sind (ein Junge , der Jünger, der
Greis, das Gut), endlich Substantiva, bei denen das zugehörige Adjektiv
fehlt oder nicht mehr als zugehörig empfunden wird (Freund, Feind,
Heiland, Menscli). Phoenix spricht weiter über Grenzen und Arten der
Substantivierung im Angelsächsischen, um dann im Hauptteil seiner
Arbeit die Substantivierung in Beoivulf, Elene, Jidiana, Judith, Byrhtnoths
Tod und in den Annalen genauer zu untersuchen. Seine Ausführungen
geben in manchen Einzelheiten zu Bedenken Anlaß ; im ganzen aber
ist die Arbeit ein fördernder Beitrag zur Kenntnis der Substantivierung
des Adjektivs.
Eine Freiburger Dissertation von Fr. Herbert Baumann über
Die AdjeJäivahstraJcta im älteren Westgermanischen (Freiburg, Caritas-
Druckerei, 1914) will eine Darstellung der Adjektivabstrakta in den
wichtigsten Denkmälern der westgermanischen Sprachen im 8. und
9. Jahrhundert geben, ist aber ganz überwiegend auf althochdeutsche
Verhältnisse eingestellt und liefert hier wertvolles Material. Von angel-
sächsischen Literaturwerken sind außer den wichtigsten von Sweets
Oldest English Texts nur Beoivulf und Genesis behandelt; alle andern
poetischen Texte, sowie die Annalen und Alfred der Große fehlen.
Eine sehr gründliche, tüchtige Arbeit ist die aus Björkmans Schule
hervorgegangene Upsalaer Doktorschrift von Karl Knarre, Nomina
Agentis in Old English, Part I (Uppsala Universitets Arsskrift 1915).
101
Der bisher im Druck vorliegende, umfangreiche erste Teil bringt die
Einleitung und die Abschnitte über Nomina agentis mit -l- und -end-
Suftixen. Der Verfasser geht überall vom Indogermanischen aus. In
der Einleitung beschäftigt er sich, nachdem er sein Thema erörtert
und umgrenzt hat, mit den Suffixen, die im Indogermanischen zur Bil-
dung von Nomina agentis dienten, aber in den germanischen Sprachen
und besonders im Altenghschen in dieser Funktion nicht mehr erkennt-
lich sind. Er geht den idg. Bildungen mit den Suffixen -o, -i, -ter, -t, -s
nach, wobei er jedes der etwa in Frage kommenden Wörter eingehend
bespricht; nur bei sehr wenigen von ihnen kann für das Altenglische
noch die Funktion des Nomen agentis nachgewiesen werden. Ich ver-
misse hier ae. iveard, ahd. ivart 'Hüter, Wächter', dessen nhd. Ent-
sprechung Wart in Tonvart, Kassemvart u. ä. noch heute die agentische
Funktion bewahrt hat.
In dem ersten Kapitel, das den ^-Bildungen gewidmet ist,
handelt Karre zuerst wieder von den Wörtern, bei denen die Funktion
des Nomen agentis im Altenglischen verdunkelt ist; sodann von denen,
bei denen sie noch empfunden wird. Er kommt zu dem Ergebnis, dalU
zwar noch eine Reihe älterer Wörter mit Z-Suffixen ihren Charakter als
Nomina agentis bewahrt haben, daß aber das Suffix seine Produktivität,
wohl infolge der starken Konkurrenz des behebten Lehnsuffixes -ere,
verloren hat. Nur in dem Wort forridel 'Vorreiter', das einmal in
Älfrics Homilien zur Wiedergabe des lat. praecursor dient, möchte er
eine Neubildung Älfrics nach dem Muster von forerynel 'Vorläufer*
erblicken, das sonst als Übersetzung von praecursor dient, aber stets
nur mit Beziehung auf Johannes den Täufer.
Das zweite Kapitel, das den größten Teil des Buchs ausmacht,
ist der Besprechung der -end-W öriQY gewidmet. Beträchtlichen Raum
nimmt hier eine Untersuchung der Flexion ein, um festzustellen, ob die
betrefi'enden Wörter wirklich Substantiva sind oder adjektivischen oder
verbalen Charakter haben. Ein interessantes Seitenergebnis der statisti-
schen Tabellen des Verfassers ist die Feststellung, daß die t^ncZ- Wörter
in der Poesie viel häufiger im Plural als im Singular vorkommen, während
die parallelen aw- Bildungen umgekehrt häufiger im Singular als im
Plural belegt sind. Karre zieht daraus den einleuchtenden Schluß, daß
die rtji- Bildungen für das Sprachgefühl der Angelsachsen eine indivi-
duellere Färbung hatten als die e».fZ- Wörter : saiipende waren die See-
leute' im allgemeinen, sTelida der einzelne 'Seemann'. Es ist also ein
ähnlicher Unterschied wie zwischen' tJie English und the Englishman. —
Nach diesem Exkurs folgt dann die Zusammenstellung der endlosen
Zahl der ewcZ-Bildungen und ihre Besprechung im einzelnen. Plier wie
überall stützt Karre sich nicht bloß auf das in den Wörterbüchern auf-
gespeicherte Material, sondern schöpft in weitem Umfang aus den Quellen
selbst. — Dann folgt die Erörterung allgemeiner, die e«fZ -Wörter be-
trefi'ender Fragen. Hier kommt Karre zu dem interessanten Ergebnis,
daß die altengl. cwfZ-Wörter (mit Ausnahme von einigen Rechtsaus-
drücken und ein paar andern) nie zum alltäglichen Sprachgut des
102
Volks gehörten, sondern ausschließlich literarische Ausdrücke waren. So
erklärt sich auch ihr häufiges Auftreten in den Glossen. — Hinsichtlich
der Entstehungszeit der en^Z-Bildungen unterscheidet Karre zwei Gruppen :
eine ältere, aus urgermanischer Zeit ererbte und eine jüngere Gruppe
von Neubildungen aus angelsächsischer Zeit. Im Gegensatz zu dem
Z-Suffix hat sich das endSuiÜK während der ganzen ags. Periode lebens-
kräftig erbalten, wie die statistischen Tabellen des Verfassers zeigen.
Wenn es trotzdem in der mittelengl. Periode überraschend bald verschwand,
so hat dies darin seinen Grund, daß die e«f/-Wörter zum weitaus über-
wiegenden Teil substantivierte Partizipia Präsentis waren. Als nun die
Partizipialformen auf -ende im Mittelenghschen ausstarben und durch
Formen, auf -ing verdrängt wurden, gingen auch die entsprechenden
Substantiva bald zugrunde. Eine Nomen agentis- Bildung auf -ing konnte
aber deswegen nicht aufkommen, weil es Substantiva auf -ing schon vor
dem Aussterben der Nomina agentis auf -end gab ; dieses altengl. -ing
aber war eine volkstümliche, lebenskräftige Bildungsweise für eine andre
semasiologische Kategorie: für Nomina actionis. So wurden die altengl.
Nomina agentis auf -end in mittelengl. Zeit durch Bildungen auf -er ersetzt.
Eine besondere Art von Nomina agentis bildet den Gegenstand von
W.Uhr Stroms kleinem Buch Ficl-pocl-ef , Turnkeg, Wraprascal, and
Similar Formaiions in Englisli. A Semasiological Study (Stockholm,
Magn. Bergvall, o. J. [1918J). Es gibt nicht, wie man nach dem Titel
erwarten könnte, eine eingehende, bedeutungsgeschichtliche Abhandlung
über Substantivbildungen des Typus Imperativ -|- Objekt, wie wir sie
in nhd. FürchtenicJds, Zwinguri, Schauinsland, Vergißmeimiichi haben;
der Verfasser kommt nur in einer ganz knappen Einleitung von wenig
über einer Seite auf die allgemeinen Fragen seines Themas zu sprechen.
Im übrigen besteht seine Schrift aus einer Zusammenstellung von etwa
450 einschlägigen Ausdrücken, die er aus Wörterbüchern und sonstigen
Nachschlagewerken gesammelt, nach sachlichen Gruppen (Personen, Tiere,
Pflanzen) geordnet und mit sprachlichen und kulturgeschichtlichen Be-
merkungen versehen hat, wobei er manche intei'essante Fragen berührt.
Im Altenglischen gab es, wie in den andern germanischen
Sprachen, eine große Anzahl Verbalkomposita, in denen das Verb
mit einer vorgestellten Partikel in Gestalt eines unbetonten, untrenn-
baren Präfixes verschmolzen ist, das die Grundbedeutung des Verbums
modifiziert; z. B. forgifan, forgietan, onsendan, hecuman, onlücan, äst'igan
usw. Aber daneben finden sich schon in der frühaltengl. Literatur Fälle
einer loseren Verb-Adverb-Kombination, wo das Verbum oder
auch ein Verbalkompositum- mehr oder weniger eng mit einem betonten,
aber trennbaren Adverb verbunden wird, das entweder vor oder hinter
dem Verbum stehen kann, z. B. üt scüfan, üp ästigan, forp geivitan und
gewitap forp, äJiöf Tip.
Beide, sowohl die alten Präfixkomposita als auch die loseren Verb-
Adverb-Kombinationen wurden in der Norraannenzeit und dann wieder
in dem Humanistenzeitalter durch die scharenweis eindringenden romani-
schen Lehnwörter und griechisch - lateinischen Fremdwörter in der Ge-
103
bildeten- und Literatursprache völlig in den Hintergrund gedrängt. In
der Volkssprache lebten sie weiter; doch scheint es, daß sich die jüngere
Verb-Adverb-Kombiuation hier zunehmender Beliebtheit erfreute und all-
mählich den kSieg über die ältere Bildung errang. J\Ian kann den Keflex
dieses Vorgangs in der Literatur nur undeutlich erkennen, weil diese
ganz unter dem Einfluß der Lehn- und Fremdwörter steht. Ohne das
Eingreifen jener auswärtigen Einflüsse in der Franzosen- und Humanisten-
zeit wäre der Kampf zwischen den beiden germanischen Bildungsweisen
sicher viel rascher entschieden worden. So vollzieht er sich mehr unter
der Oberfläche. Die Verb -Adverb-Kombination setzt sich mit der Zeit
immer kräftiger durch. Wohl haben sich von den untrennbaren Prätix-
kompositis zahlreiche bis in die Gegenwart erhalten und gehören zu
dem eisernen Bestand der heutigen Umgangssprache : Wörter wie forgive,
forget, forhear, foreshadow, outrun, overtake, understand, ivithdraw usw. ;
aber die eigentlich lebenskräftige Verbalzusammensetzung ist die andre.
Und nun sehen wir, wie in neuerer Zeit aus den Tiefen der Volks-
sprache heraus ein ungestümer Vorstoß gegen die unvolkstümhchen und
zum Teil unverstandenen Fremdwörter erfolgt, wie in der gebildeten
Umgangssprache zahlreiche volkstümliche Wendungen, wie get at, hear
out, conie hy, malce out, oivn up Eingang finden, wie im Schul-, Stu-
denten-, Berufs-, Familien-Slang immer neue Bildungen dieser Art ent-
stehen, und wie viele derselben trotz heftiger Proteste von selten pedan-
tischer Sprachmeister sich auch in der Literatursprache Bürgerrecht
erwerben und die entsprechenden Fremdwörter verdrängen oder doch
ihnen den Platz streitig machen. So sagt die Umgangssprache hack up
für Support', hlow out für 'extinguish', hlow up für 'explode', bring
dboui für 'effect', Jjring up für 'train, rear', come ahout für 'happen',
co^ne across für 'experience' usw., und fast alle diese Neubildungen
haben sich auch in der Schriftsprache durchgesetzt. Ihr siegreiches
Vordringen ist ein neuer Beweis dafür, daß das Sprachgefühl des eng-
lischen Volks doch immer noch seinen germanischen Grundcharakter
bewahrt hat, und daß es die längst in der Schriftsprache vorhandenen
romanischen und klassischen Ausdrücke im Grunde doch als Fremd-
körper empfindet.
Diese bemerkenswerten Sprachvorgänge haben verschiedentlich das
Interesse der Gelehrten erregt. Harrison, The Separahle Prcßxes in
Anglo-Saxon (Johns Hopkins dissert. 1892), Eitrem, Stress in English
verh -\- adverh groii2)s (Engl. Stud. 32, 69 — 77; J903), und EUinger,
Über die Betonung der aus Verh -j- Adverh bestehenden englischen
Wortgruppen (Progr. d. Franz- Joseph-Realsch. Wien 1910), haben vor-
nehmlich den Einfluß der Satzbetonung und des Gruppenakzents auf
diesen Sprachgebrauch festzustellen gesucht. C u r m e hat in seiner um-
fassenden Abhandlung The Development of Verbal Compounds in Gcr-
manic (PBBeitr. 39,320—61; 1914) die allmähhche Verschiebung des
altenglischen Sprachgebrauchs von den Verbalkompositis mit untrennbarem
Präfix zu der Kombination von Verb mit nachgestelltem Adverb dar-
getan, wobei er allerdings die Häufigkeit der letzteren Konstruktion in
104
der altenglischen Periode zu überschätzen scheint. Die neuste und aus-
führlichste Monographie über die Frage ist die von A. G. Kennedy,
The Modern English Verh- Adverb Combinaüon (Stanford Univ., California,
1920\ worin die Ursachen, Anfange und Eigenheiten dieser Kombinationen
und die Wirkungen ihrer zunehmenden Zahl in interessanter Weise dar-
gestellt werden. Eine eigentliche Geschichte dieser Spracherscheinung
gibt auch Kennedy nicht, und es ist zu bedauern, daß er seine ursprüng-
liche Absicht nicht ausgeführt hat, uns ein vollständiges Verzeichnis
der von ihm gesammelten mehr als 900 Verb -Adverb-Kombinationen
zu bieten.
IX. Syntax
1. Gesamtdarstellungen
Eine vollständige und erschöpfende Darstellung der historischen
Syntax des Enghschen gibt es bis jetzt nicht, und es ist wohl zweifel-
haft, ob sie überhaupt in absehbarer Zeit geschrieben wird; sie würde
Bände füllen. Den Versuch einer knappen Zusammenfassung des ge-
waltigen Stoffs hat Eugen Einenkel in seiner Darstellung der Histo-
rischen Syntax der englischen Sprache in Pauls Grundriß der german.
Philologie gemacht, die jetzt als selbständiger Band in dritter, verbesserter
und vermehrter Auflage (Straßburg, Trübner, 1916) vorliegt. Einenkels
Werk, das aus der kurzen Skizze der ersten Auflage zu einem Buch
von 200 Seiten ausgewachsen ist, stellt die Zusammenfassung lebens-
länglicher Arbeit dar, und die unendhche Fülle großenteils selbst-
gesammelter Beispiele zeigt, daß der Verfasser in der Begründung seiner
Ansichten und Regeln auf eignen Beobachtungen und Untersuchungen
fußt, die zum Teil in ausführlicherer Fassung bereits in der Anglia
veröffentlicht waren. Aber außer den eignen Arbeiten werden auch
die Ergebnisse der Forschung andrer sorgfältig berücksichtigt und ent-
weder zustimmend verwertet oder kritisch abgelehnt. Leider macht die Form,
in der uns der wertvolle Stoff geboten wird, die Lektüre zu keinem reinen
Genuß. Das Knappe, Grundrißartige der ersten Auflage haftet auch dem
selbständigen Buch noch zu sehr an. Die Darstellung läßt alle Übersicht-
lichkeit vermissen, von gewissen Eigenheiten der Gruppierung gar nicht
zu reden, die mit den Partizipien und dem Infinitiv beginnt und Pro-
nomina und Artikel ans Ende der Reihe, hinter die Präpositionen und
Konjunktionen, stellt. Der Verfasser hätte gut getan, bei der Bearbeitung
der dritten Auflage sein Buch ganz neu zu entwerfen, den Stoff zweck-
mäßig zu gruppieren, Haupt- und Nebensächliches voneinander zu scheiden
und den stilistischen Ausdruck gründlich zu revidieren. In der vor-
liegenden Form ist eine fortlaufende Lektüre des Buches ausgeschlossen ;
aber auch seiner Benutzung als Nachschlagebuch schadet die Unüber-
sichtlichkeit der Darstellung und tut der Verwertung des reichen Inhalts
Abbruch.
Bei Einenkels Beurteilung der Entwicklungsgeschichte der englischen
Syntax spielt seine starke Einschätzung des französischen
105
Einflusses eine große Rolle. Schon in seiner ersten Arbeit, Streif-
züge durch die mittelenglische Syntax (Münster 1887), machte sie sich
kräftig geltend. Seitdem hat sich seine Überzeugung von der tief-
greifenden Bedeutung dieses Faktors allen Angriffen zum Trotz immer
mehr gefestigt. „Die Voraussage meiner Gegner", sagt er im Vorwort
seiner JlisforiscJien Syntax (Ö. Xlf.), „daß bei gewissenhaftester Durch-
forschung des gesamten altenglischen bzw. germanischen Materials die
meisten meiner Gleichungen als unhaltbar sich erweisen würden, hat sich
nicht nur nicht bewährt, im Gegenteil, zu den bisher bekannten zahlreichen
Einzelgleichungen haben sich im Laufe der Zeit ganze englische Wort-
kategorien so von romanischen Einflüssen durchtränkt erwiesen, daß,
alles in allem genommen, meine ursprüngliche Auffassung der englischen
Syntax als einer aus germanischen und romanischen (neben einigen
skandinavischen) Elementen bestehenden Mischsyntax noch heute voll
und ganz zu Rechte besteht."
Einenkel gebührt zweifellos das Verdienst, französische Einflüsse
im englischen Satzbau in vielen Fällen überzeugend nachgewiesen zu
haben. Ob er in seinem Gesamturteil über den Mischcharakter der
enghschen Syntax nicht doch zu weit geht, will ich dahingestellt lassen.
Über manche Fälle ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, und
grundsätzlich muß jedenfalls daran festgehalten werden, daß man die
Entwicklung des englischen Satzbaus so weit wie irgend möglich aus
den ihr innewohnenden Kräften erklären muß.
Zu den besten Abschnitten des Buchs gehören die Ausführungen
über Gerundium und Infinitiv. Hier trägt Einenkel die Ergebnisse gründ-
licher eigner Forschungen vor, und das mag ihn mit bewogen haben,
grade diese Abschnitte an den Anfang zu stellen.
Hinsichtlich der Entwicklung des englischen Gerundiums
macht er mit Nachdruck französische Vorbilder geltend. Diese Auffassung
verwickelte ihn vor einigen Jahren in einen lebhaften Streit, zu dem ein
anregungsvoller Aufsatz des Amerikaners George O. Curme, History of
the EnglisJi Gcrund, im 45. Band der Engl. Studien (S. 349 ff.; 1912) den
Anstoß gab. Die von diesem Forscher vorgetragenen Ansichten wurden
von Einenkel in einem Artikel Zur GescliicJde des engl. Gerundiums
(Angl. .37, 382; 1913) bekämpft. In einer weiteren austührlichen Studie
über Die Entwichlung des englischen Gerundiums (Angl. 38, 1 — 76
u. 212; 1914) trug er seine eignen Ansichten über das Verhältnis des
Participium Praesentis zum Verbalsubstantiv vor, speziell über die Frage:
„wie, wo und wann kam das Verbalsubstantiv dazu, die Funktionen
des Partizipiums mit zu übernehmen, und zwar so völlig zu übernehmen,
daß die alte Form des Partizipiums sich schließlich verlor?" Curme
verteidigte seinen Standpunkt in einem Artikel The Gerund in Qld
English and Gcrman (Angl. 38, 491 ; 1914). Daran schlössen sich weitere
Antworten und Rephken von Einenkel Angl. 38, 499; Curme Angl.
39, 270; Einenkel ebd. 273. Auch der Engländer Onions (EStud.
48, 169) nahm gegen Curme Stellung, während Fehr in einer be-
achtenswerten Kritik von Einen kels Historischer Syntax einen ver-
106
ir.ittelnden Standpunkt einnimmt (Herrigs Arch. 136, 307). Von einem
Eingehen auf den Streit über dieses weitscliichtige Problem, der zum
großen Teil vor die von uns behandelte Forschungsperiode fällt, muß
hier Abstand genommen werden. Ein weitgehender Einfluß des Fran-
zösischen auf die Entwicklung des englischen Gerundiums ist nach Ein-
enkels Darlegungen wohl nicht zu bestreiten. Anderseits sind die von
Curme angezogenen Beispiele so früh und so bemerkenswert, daß mit
der Möglichkeit, daß die ersten Keime des Gerundiums im Altenglischen
hegen, immerhin gerechnet werden muß. Erst eine nochmalige sorg-
fältige Prüfung des altenglischen Sprachmaterials kann zu einem ab-
schließenden Urteil über die Frage führen.
Von der Syntax des Neuenglischen hat uns Otto Jes per sen
im zweiten Teil seiner Modern English Grammar on liistorical Prin-
ciples (s. oben S. 60 f.) eine ebenso originelle und geistvolle wie glänzend
geschriebene Darstellung gegeben (Heidelberg 1914). Das Buch gibt
nicht eine historisch geordnete Entwicklungsgeschichte der neuenglischen
Syntax, sondern ist, wie der Titel sagt, eine modernenglische Grammatik
auf historischer Grundlage. Wir erfahren deshalb von der geschicht-
lichen Entwicklung nur das, was uns zum Verständnis des heutigen
Sprachgebrauchs wichtig ist. Die Syntax, wie sie gewöhnlich getrieben
wird, gehört nicht grade zu den anziehendsten Gebieten der Sprach-
wissenschaft. Jespersen bietet nicht nur dem Syntaktiker von Fach durch
die Originalität seiner Auffassung neue Gesichtspunkte, sondern er ver-
steht es, durch die Lebendigkeit seiner Darstellungsweise einen trocknen
und sonst als langweilig angesehenen Gegenstand auch Nichtfachleuten
interessant zu machen.
In seiner Umgrenzung des Begriffes 'Syntax' weicht Jespersen von
der üblichen Auffassung des Worts vielfach ab: er begreift manches
darunter, was man sonst zur Formenlehre zu ziehen pflegt. Aber auch
seine Terminologie ist oftmals neuartig und den besondern Bedürfnissen
der englischen Syntax angepaßt. Belangreich und von grundlegender
Bedeutung für seine ganze Darstellung ist namenthch seine Lehre von
"The Three Ranks" (S. 2). Im Hinblick auf die Tatsache, daß zum
Ausdruck einer Vorstellung oder eines Begriffs vielfach ein Wort nicht
genügt, sondern daß ein Wort durch ein zweites definiert oder modi-
fiziert wird, welches seinerseits wieder durch ein drittes Wort definiert
oder modifiziert werden kann, unterscheidet Jespersen Wörter ersten,
zweiten und dritten „ Rangs '^ „In the combination extremely hot
iveaiher, weailier may be called a primary word or a principal; liot,
which defines iveather , is a secondary word or an adjunct; and ex-
trcmely, which defines liot, is a tertiary word or a subjunct." Diese
Unterscheidung von Primär-, Sekundär- und Tertiärwörtern oder Prin-
zipalen, Adjunkten und Subj unkten zieht sich als wichtiges Einteilungs-
prinzip durch das ganze Buch hindurch, Sie hat den Vorteil, daß sie
in Wendungen wie ivhat liappened? , what hrancli, wliat one oder the
top feil down, the top hranch, the top one (S. 266) die wirklichen gramma-
tit^chen Verhältnisse klarer zum Ausdruck bringt, miat bleibt in allen drei
107
m
Fällen Pronomen, top bleibt immer Substantiv, aber in ivhat happened?
und tlie top feil doivn sind ivhat und to}) Prinzipale, in den andern Bei-
spielen sind sie Adj unkte zu den Prinzipalen hranch und one.
Von Jespersens Syntax ist bis jetzt nur der erste Band erschienen.
Er handelt über Form, Bedeutung und P^'unktion der Numeri von Sub-
stantiven und Adjunkten, über Substantivierung der Adjektiva, über
das Stützwort one, über Adjektiva als Prinzipale, die Beziehungen zwi-
schen Adjunkt und Prinzipal, über substantivische und sonstige Ad-
junkte, über die Funktionen der Pronomina. Dabei werden manche
interessante Probleme erörtert, die zum Teil bisher übersehen oder wenig
beachtet worden waren. Die Aufstellungen werden durch reiche, selbst-
gesammelte Belege erläutert. Das Buch enthält eine Fülle neuen Materials
und wertvoller Bemerkungen und Anregungen.
Eine stark gekürzte dänische Bearbeitung des Werks unter dem Titel
Starre Engelsk GrammatiJc paa historisk grundlag (Kopenhagen 1914)
ist als Lehrbuch gedacht. Eingeschränkt sind darin namentlich die
Beispiele aus der älteren neuenglischen Zeit und die historischen Partien
überhaupt. Das Schwergewicht fällt entschiedener als in der Modern
English Grammar auf die modernenglische Sprache. Im übrigen stimmen
die beiden Ausgaben in allem Wesentlichen überein.
Die Weiterfuhrung der Modern English Grammar wurde leider
durch den Krieg vorläufig-^ unterbunden. Aber das dafür bestimmte
Kapitel über Negationen ist von Jespersen inzwischen durch Heran-
ziehung verwandter Erscheinungen aus andern Sprachen zu einer all-
gemeinen Studie über die Negation erweitert und unter dem Titel
Negation in English and other Languages (Danske Videnskabernes
Selskab, Kobenhavn 1917) als selbständige Abhandlung veröffentlicht
worden. Ausgehend von der Beobachtung, daß der negierte Satz in Bau
und Ausdrucksmitteln in verschiedenen Sprachen auffallende Ähnlichkeiten
zeigt, forscht er der gem.einsamen Quelle gewisser Erscheinungen, wie
der weitverbreiteten Verwendung der Partikel ne auch in sonst nicht
verwandten Sprachen, nach und kommt dabei zu interessanten phy-
siologischen und allgemein philosophischen Schlüssen. Jespersens Studie
ist in gewissem Sinne eine Fortführung der Arbeit Delbrücks über
die Negation in den indogermanischen Sprachen (vgl. Syntax 2, 519flF.).
Aber während Delbrücks Ziel mehr die Rekonstruktion der ursprach-
lichen Verhältnisse war, ist Jespersens Augenmerk vorzugsweise auf die
modernsprachlichen Entwicklungsreihen und auf Fragen der allgemeinen
Psychologie und Logik gerichtet. Sein Hauptinteresse gilt natürlich
dem modernen Englisch. Mit Recht weist er darauf hin, daß zahlreiche
Probleme am besten an einer lebenden Sprache studiert werden
können, die uns durch die tägliche Umgangssprache und eine umfassende
Literatur zugänglich ist. Durch diese Behandlung einzelsprachlicher Er-
scheinungen unter sprachvergleichenden, physiologischen und sprachphilo-
sophischen Gesichtspunkten kommt der Verfasser zu Auffassungen und
Ergebnissen, die nicht nur für den Anglisten und Sprachvergleicher,
sondern auch für den Psychologen und Logiker von Belang sind.
108
Ein wertvolles, eigenartiges Buch ist Max Deutsch b eins System
der neuenglisclien Syntax (Cöthen 1917). Wie Jespersen, so bewegt
sich auch Deutschbein nicht in ausgetretenen Gleisen, sondern sucht
neue Wege einzuschlagen ; aber die Richtung, die er wählt, führt ihn von
Jespersen weit ab. Er will keine deskriptive Darstellung des neu-
enghschen Sprachgebrauchs schreiben, da dies von Krüger, Poutsma,
Wendt u. a. zur Genüge geschehen ist; er will auch die schon vor-
handenen Materialsammlungen nicht um eine weitere vermehren; aber
ebensowenig denkt er daran, eine historische Darstellung der neu-
englischen Syntax zu liefern. Es liegt ihm vielmehr daran, „die trei-
benden Kräfte und Prinzipien des Sprachlebens aufzudecken". Dabei
kann er natürlich der übhchen FormuUerung der Spracherscheinungen
nicht aus dem Wege gehn, aber er bemerkt ausdrücklich, daß es sich
niemals um Gesetze im strengsten Sinne handle, sondern „nur um Kräfte,
die nach einer bestimmten Richtung hin wirken" (S. VII).
Es sind also in erster Linie sprachpsychologische Interessen, die
ihn bei der Abfassung seines Buches leiteten. Daß er hierzu die nötige
philosophische und psychologische Schulung mitbringt, zeigen die ali-
gemeinen psychologischen Erörterungen, die er an den Kopf der ein-
zelnen Kapitel stellt, zeigt die ganze Durchführung des Werks, zeigen
vor allem die beiden selbständigen Abhandlungen: Sprachpsychologische
Studien (Cöthen 1918) und Satz und Urteil (ebd. 1919), in denen er
sich über grundlegende Fragen der Syntax äußert. Man kann aller-
dings mit Western (Angl. Beibl. 29, 16lflf. 345 ff.; Juni u. Dez. 1918)
bezweifeln, ob die Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem'
oder zwischen anschaulichem und begrifflichem Denken von Deutschbein
nicht übertrieben ist, ob anderseits die logische und die formelle Seite
der Sprache scharf genug auseinandergehalten sind; man mag an der
weitgehenden Neigung des Verfassers zu philosophischer Analyse des
Satzbaus Anstoß nehmen, man mag auch über die Formulierung mancher
Regeln mit ihm rechten ; aber anregend sind seine Ausführungen immer,
und sein Buch enthält zahlreiche feine Bemerkungen, so über Vorstellung
und Satzrhythmus, über die Aktionsarten des Verbums, über den Ge-
brauch von to he -\- Partizipium Präsentis als Intensivum, über den
Modusgebrauch und vieles andere mehr. Es ist ein Buch, das wohl
manchmal zum Widerspruch herausfordert, aber stets zum Denken an-
regt, und aus dem jeder lernen kann.
Ganz andersartig als die genannten Lehrbücher ist die Syntax des
heutigen Englisch von G. Wendt (l. Teil: Wortlehre, Heidelberg 1911;
2. Teil: Satzlehre, 1914). Sie umfaßt zunächst mehr, als der Titel sagt,
indem sie auch die gesamte Formenlehre einbezieht. Sie will eine be-
schreibende, keine historische Syntax sein; sie will mit wissenschaft-
licher Methode den gegenwärtigen englischen Sprachgebrauch feststellen.
Auf die historische Entwicklung der heutigen Spracherscheinungen geht
der Verfasser nicht ein: dadurch unterscheidet er sich von Jespersen.
Er sieht seine Hauptaufgabe nicht in der sprachpsychologischen Er-
fassung, sondern in der wissenschaftlichen Formulierung der Regeln des
109
heutigen Sprachgebrauchs auf Grund eines umfassenden Belegniaterials :
darin unterscheidet er sich von Deutschbein. Er will den Leser in die
fremde Sprache unmittelbar, von ihr selbst aus einführen, will ihn mit
dem lebenden Organismus der englischen Sprache bekannt machen und
zu diesem Zweck die Gesetze , nach denen sich die Sprache richtet,
lediglich aus dtm Englischen selbst, aus der jetzt gesprochenen iind
geschriebenen Sprache ableiten; dagegen lehnt er jede vergleichende
Heranziehung des Deutschen ab, weil dies Hineintragen außerhalb
liegender Gesichtspunkte zur Aufstellung von Regeln führe, die dem Geist
der englischen Sprache Gewalt antun: dadurch unterscheidet sich Wendt
von Krüger.
Der Hauptwert des Buchs liegt in den ungemein zahlreichen, selbst-
gesammelten Beispielen für den heutigen Sprachgebrauch, die zur Er-
läuterung und Begründung der daraus abgeleiteten Regeln dienen. Kaum
eine andre Grammatik ist darin reichhaltiger als die Wendtsche. Der
erhabene Stil der Poesie und literarischen Prosa tritt dabei zurück gegenüber
der Sprache und Schrift des täglichen Lebens. Namentlich die Zeitungen
sind stärker herangezogen, als es sonst in Lehrbüchern üblich ist. Die
schöne Literatur ist besonders durch Romane vertreten. Der Verfasser
ist zwar in der Auswahl seiner Beispiele kritisch, aber manchmal hat
er doch wohl Belege aufgenommen, die nicht als zuverlässige Zeugnisse
für gebildeten Sprachgebrauch dienen können und als nachlässige Aus-
drucksweisen hätten gekennzeichnet werden sollen. Doch sind die Grenzen
zwischen Norm und Nachlässigkeit allerdings flüssige. Zu bedauern ist
die mangelhafte Verzeichnung der Belegstellen. Wenigstens Belege für
seltne Spracherscheinungen hätten genauer zitiert werden sollen. Meist
sind nur die Namen der Verfasser genannt ohne jede nähere Angabe
des Werks; oder es finden sich allgemeine Bezeichnungen wie Per. =
Periodical, Zeit. = Zeitung, Speech = Rede. Dadurch wird der wissen-
schaftliche Wert dieser reichen Materialsammlung — im Gegensatz zu der
von Poutsma — leider beeinträchtigt, da jede Nachprüfung ausgeschlossen
ist. Die Rücksicht auf den Raum kann nicht geltend gemacht werden, da
der Verfasser sonst nicht gerade auf Raumersparnis bedacht ist. Aber das
Werk, in dem der Altmeister der neusprachlichen Unterrichtsreform die
Ergebnisse lang^jähriger wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem heutigen
Englisch niedergelegt hat, ist jedenfalls ein wertvolles Hilfsmittel und
eine Fundgrube für jeden, der sich lernend oder forschend mit eng-
lischer Syntax befaßt.
2. Einzelabhandlungen
Von Monographien über syntaktische Fragen seien nur einige wich-
tigere hier genannt.
a) Prädikationsklassen und Satzarten
In einem umfang- und inhaltreichen Band von 562 Seiten Groß-
oktav bietet uns K. F. Sunden, der Vertreter der englischen Philologie
an der Universität Gotenburg, zwei einander berührende, aber äußerlich
110
durch keinen Obertitel zusammengefaßte, schwer gelehrte Abhandlungen
dar: Essay I. The Predicational Categories in English; Essay II.
.4 Category of Predlcational Change m English (Uppsala Universitets
Arsskritt 1916). Der erste der beiden Essays (S. 1 — 100) ist syntax-
philosophischer Natur. Ausgehend von einer Kritik von Wundts Klassi-
fikation der Urteile, unternimmt der Verfasser hier eine Neueinteilung
der Satzarten unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen Arten
der Prädikation. Mit systematischer Gründlichkeit stellt er eine
Reihe abstrakt formulierter prädikationaler Kategorien auf und sucht
sein neues Einteilungsprinzip philosophisch zu begründen.
Auf diesem theoretischen ersten Teil baut der zweite, sprach-
geschichtliche auf. Der Verfasser greift hier eine der vorher behandelten
prädikationalen Kategorien („predication of direct object") heraus und
beschäftigt sich mit dem interessanten Problem, auf welchem Wege
transitive Verba wie read und seil ohne Veränderung ihrer äußeren,
aktiven Form in Wendungen wie the hook reads well, sells well passive
Bedeutung angenommen haben. Er zeigt, daß die Zahl dieser passi-
vierten Verba weit größer und ihre Verwendung viel mannigfaltiger ist,
als man im ersten Augenblick vielleicht annehmen möchte. Unter An-
knüpfung an die im ersten Teil aufgestellten Kategorien werden sie in
sechs Gruppen alphabetisch zusammengeordnet und nach ihrer Ety-
mologie und Verwendungsart, unter Anführung von Belegen, kurz
charakterisiert. Es zeigt sich dabei, daß viele von ihnen in ihrer Be-
deutung zwischen intransitiv, reflexiv und passiv schwanken.
Nachdem so der Verfasser das gesamte in Betracht kommende Wort-
und Belegmaterial hat Revue passieren lassen, untersucht er für jede
der sechs Gruppen, wie die Passivierung der dazu gehörigen Verba
zustande gekommen ist. In diesem umfangreichsten und wichtigsten
Kapitel des Buchs bringt der Verfasser, gestützt vor allem auf die Schätze
des JSew English Dictionary , aber auch auf umfängliche eigne Samm-
lungen, eine Fülle interessanten Stoffs für die historische englische Syntax.
Leider wird die Lesbarkeit und das Studium des Werks durch eine
starke Neigung zur Abstraktion, durch übertriebenes Streben nach syste-
matischer Vollständigkeit und durch umständliche Breite der Darstellung
sehr erschwert, und das gänzliche Fehlen eines Registers, das durch die
Worthsten im Inhaltsverzeichnis nur teilweise ersetzt wird, macht die
Verwertung des reichen Stoffes noch schwieriger. Das ist sowohl im
Interesse des Verfassers als auch der Sache zu bedauern; denn das Buch
Sundens ist vielleicht die belangreichste syntaktische Monographie, die
in den letzten Jahren erschienen ist.
b) Inkongruenz zwischen Subjekt und Prädikat
In den Quartes und in der ersten Folio der Werke Shakespeares
finden sich öfters Sätze wie „My old hones aches", „Hi& tears runs
down his beard", „Strong reasons niaJces strong actions", „The traitors
hateth thee", d. h. Sätze, in denen das Subjekt im Plural mit einem
111
Prädikat im Singular verbunden erscheint. Diese Unstimmigkeit im
Numerus zwischen Subjekt und Prädikat hat Herausgebern und Gramma-
tikern viel Schwierigkeiten bereitet und zu mancherlei Erklärungs-
versuchen Anlaß gegeben. Die meisten Herausgeber des 18. und 19. Jahr-
hunderts sahen darin Druckfehler und stellten durch Streichung des -s
beim Verbum oder gelegentlich auch beim Subjekt die Kongruenz wieder
her. Beim Auftreten im Reim, wo eine Verbesserung nicht möglich war,
nahm man Keimnot als Grund für die -s-Form des Prädikats an. Die
Grammatiker erblickten in den -.s- und -th-Formen des Verbs entweder
Konstruktionen ad sensum oder Entlehnungen der nördlichen bzw. süd-
lichen Plural formen. Aber die erstere Erklärung paßte doch nur für
eine beschränkte Anzahl Fälle, und der zweiten widerstrebte das häufige
Auftreten von is und was mit pluralischem Subjekt.
So drängte das Gewicht der Tatsachen darauf hin, wenigstens in
vielen dieser Unstimmigkeiten tatsächlich eine Inkongruenz zwischen
pluralisch era Subjekt und singularischem Prädikat anzu-
erkennen. W. Franz weist in seiner Shakespeare-GramniatiJc (2. Aufl.
1909, § 671 f.) auf die Häufigkeit dieser Inkongruenzen bei Shakespeare
und in der älteren Sprache überhaupt hin und erblickt darin mit Recht
ein Zeichen, in wie hohem Grade die Syntax Shakespeares die der ge-
sprochenen Rede ist. Franz führt auch bereits die wichtigsten Gründe
an, die das Eintreten von Störungen in der Kongruenz begünstigen.
Aber er betont ferner (§ 679), selbst wenn man in vielen Fällen das
Vorhandensein einer Inkongruenz zugestehe, so bleibe doch noch eine
ansehnliche Menge von Beispielen übrig, wo „ein pluralisches Subjekt
mit einer Verbalform auf -s als Prädikat auftritt, ohne daß man bei
besonnener und nüchterner Kritik imstande wäre, in letzterer einen
Singular zu sehen''; die betreffenden Fälle seien vielmehr derart, daß
man nicht umhin könne, die s-Form als Plural anzuerkennen. Einen
Zusammenhang mit dem Nordenglischen brauche man dabei nicht an-
zunehmen; vielmehr sei unabhängig vom Norden auch auf dem übrigen
Sprachgebiet die s-Form der 2. und 3. Person Singularis auf den Plural
ausgedehnt worden, wobei gerade die Häufigkeit der Verbindung von
singularischem Verb mit pluraUschem Subjekt eine wesentliche Rolle
spielte. Nachdem aber he (thou) torments und tliey tonnents einmal
existierten, sei bei der nahen Beziehung von thou und you der Schritt
zu you torments und tve (I) torments nicht mehr groß gewesen. „Die
Volkssprache auch des Südens hat ihn getan, so daß die s-Endung jetzt
ein charakteristisches Kennzeichen der Vulgärsprache Englands über-
haupt ist."
AuchW. vonStaden, Entwicidung der Präsens-Indikativ-Endungen
im Englischen unter hesonderer JBerücksicJdigung der S. Pers. Sing, von un-
gefähr J'jOO bis auf Shakes2)eare (Rostocker Diss, 1903) und Jacob Knecht
in seiner tüchtigen Arbeit Die Kongruenz zivisclicn Subjekt und Prädikat
und die S. Person Pluralis Präsentis auf -s im Elisabetlianischen Englisch
(Anglist. Forsch. 33; Heidelberg 1911), sind der Ansicht, daß die verbalen
s- oder th- Plurale „auf einer Anlehnung an die 3. Pers. Sing, beruhen",
112
bzw. „als eine analogische Übertragung aus der 3. Pers. Sing, zu ver-
stehen" seien.
Diese beiden Arbeiten beschränken sich auf das 16. Jahrhundert.
Auf einer wesentlich verbreiterten Unterlage hat Hans Stoelke Die
Inhongruenz zwischen SuhjeJct und Prädikat im Englischen und in den
verwandten Spruchen (Anglist. Forsch. 49; Heidelberg 1916) noch einmal
behandelt. Die Untersuchung wurde bereits 1899 begonnen, aber konnte
damals infolge widriger Umstände nicht vollendet werden. Die Arbeit
leidet etwas darunter, daß in der Zwischenzeit mehrere andre Forscher
das Problem erörtert und der Lösung nähergeführt hatten, und dali
der Verfasser in seiner Darstellung und in der Auswahl des Stoffs der
veränderten Sachlage nicht genügend Rechnung getragen hat. Auch
sonst lassen sich an der Anlage der Arbeit und der Ausführung im ein-
zelnen manche Ausstellungen machen. Aber durch die weitausschauende
Art ihrer Beweisführung ist sie trotzdem ein wertvoller und dankens-
werter Beitrag zur endgültigen Lösung des verwickelten Problems.
Stoelke greift zur Aufhellung des Ursprungs der Erscheinung mit
Recht auf die älteren englischen Spraohperioden zurück. Er zeigt, daß
schon in altenglischer Zeit vom Beowulf an sic'i Fälle von Inkongruenz
zwischen Subjekt und Prädikat und deutliche Ansätze zur V^ereinfachung
der Verbalflexion und zur Erhebung der dritten Person Singularis zur
Verbalform par excellence nachweisen lassen. Die Bewegung läuft durch
die mittelenglische Periode weiter, nimmt von Chaucer bis Shakespeare
an Breite und Stärke zu und erstreckt sich im 15. und 16. Jahrhundert
über das ganze Land. Aber vom 17. Jahrhundert an macht sich unter
dem Einfluß der Grammatiker ein Kampf gegen die Inkongruenz geltend.
Franz (Shakesp.-Gr. § 671) weist darauf hin, daß schon die 2. Shake-
speare-Folio vom Jahre 1632 die Freiheiten der Kongruenz, die die erste
charakterisieren, nicht mehr duldet. Und Stoelke schreibt (S. 98):
,, Dem namentlich an der lateinischen Grammatik geschulten Sprach-
erapfinden der Gebildeten erscheint die Inkongruenz vulgär; sie wird
gemieden und lebt fast nur noch in der Sprache des ungebildeten Volkes
fort. In diesen Kreisen hat sie sich erhalten im ganzen englischen
Sprachgebiet bis auf den heutigen Tag." Ich möchte hierzu bemerken,
daß, wenn die 3. Pers. Sing, im Vulgärenglischen wirklich zur Verbal-
form par excellence geworden ist, man nicht gut mehr von Inkongruenz
zwischen Subjekt und Prädikat sprechen kann.
Die Ursachen für die Verallgemeinerung der 3. Pers. Sing, sind
mannigfacher Art. Gewiß haben bei der Ausbreitung dieser Bewegung
auch phonetische Momente mitgespielt ; aber ihr Ausgangspunkt liegt
auf psychologischem, nicht auf phonetischem Gebiet; das zeigen die ver-
wandten Sprachen : das Deutsche, Dänische, Norwegische, Schwedische,
auch das Französische, wo, wie Stoelke überzeugend nachweist, unter
wesentlich verschiedenen phonetischen Bedingungen die gleiche Tendenz
vorhanden ist. „Begonnen hat sie wahrscheinlich in den Sätzen, wo das
Verbum dem Subjekt voraufgeht; denn in dieser Fügung läßt sie sich
in fast allen idg. Sprachen nachweisen" (Stoelke 97). Daß sich in
Wissenschaftliche Forachiiniisherichte IX 8
113
diesem Fall Inkongruenzen besonders gern einstellen, rührt daher, daß
der Sprechende oder Schreibende bei Voranstellung des Verbs sich olt
über die Gestaltung des Subjekts noch im unklaren ist. Besonders häufig
sind sodann die Fälle, wo ein singularisches Prädikat zu zwei singularisclien
Subjekten gehört, die entweder als begriffliche Einheit gefaßt werden,
oder wo das Prädikat sich an eins von ihnen enger anlehnt. Die In-
kongruenz tritt um so leichter ein, je weniger eng die Verknüpfung
zwischen Subjekt und Prädikat ist, je weiter sie durch adverbiale Aus
drücke oder Nebensätze voneinander entfernt stehn, so daß der Numerus
des Subjekts im Gedächtnis verblaßt. Auch in llelativsätzen tritt im
Englischen gern Inkongruenz ein, weil das Kelativpronomen {tlmt, ivhuli)
im Singular und Plural die gleiche Form hat. Dazu kommt noch eine
Anzahl weiterer Faktoren, die das Vordringen der 3. Pers. Sing, in den
Plural begünstigen.
Stoelkes tüchtige Arbeit hat zur Aufhellung dieses Problems er-
heblich beigetragen. Aber eine vertiefte Behandlung der alt- und mittel-
englischen Verhältnisse, eine genauere Untersuchung der schulmäßigen
Reaktio;i gegen die Inkongruenz, die wohl schon im 16. Jahrhundert
einsetzte, und eine ausführlichere Darstellung der Geschichte der In-
kongruenz seit Shakespeares Zeit mit Einbeziehung der heutigen Dia-
lekte würde wohl noch manche Ergebnisse von allgemeinerem sprach-
geschichtlichen Interesse zutage fördern.
c) Präpositionen
Über die engHschen Präpositionen liegen zv/ei Monographien däni-
scher Gelehrter vor. Alf. Brahde liefert in seinen Studier over de
Engelsice Prepositioner (Köbenhavn 1919) eine Untersuchung vornehmlich
prinzipieller Art. Er gruppiert und behandelt die Präpositionen nach
den Kategorien Ort, Zeit, Wiederholung, Grund und Ursache, Mittel,
Maß oder Grad, wobei er bei der Besprechung der einzelnen Fälle
manche beachtenswerte Gedanken bietet.
Die Schrift von N. Bögholm, Professor der englischen Philologie
an der Universität Kopenhagen, über EmjJish Preposltions (Kjobenhavn
1920) war ursprünglich als erster, allgemeiner Teil einer englischen
Präpositionslehre gedacht, deren zweiter Teil die Einzelheiten behandeln
sollte. Der Wunsch des Verfassers, sich mit andern Seiten der englischen
Philologie zu beschäftigen, ließ ihm die Vollendung seines Planes zweifel-
haft erscheinen und veranlaßte ihn zur Herausgabe des ersten Teils,
soweit er fertig vorlag, in Gestalt einer selbständigen Schrift. So er-
klärt sich wohl der etwas formlose Charakter dieser Arbeit, die mehr
eine zwanglose Aneinanderreihung verschiedenartiger Bemerkungen und
Regeln als eine systematische Behandlung des Gegenstands ist. Aber
das Büchlein enthält manche gute Beobachtungen. Es handelt über den
Einfluß der Betonung auf die Form der Präpositionen, über Stellung,
Ursprung und Aussterben, Bedeutungswandel, Auslassung von Präpt)si-
tionen und vieles andre. Zur Begründung seiner Aufstellungen greift der
V^erfasser in alle Sprachperioden hinein.
114
Eine gründliche Spezialuntersuchung über die nachgestellten Prä-
positioneyi im Angelsächsischen (Palaestra 70; Berlin 1915) liefert Fritz
Wende in einer Berliner Dissertation. Ihre Aufgabe ist, festzustellen,
„in welchem Umfange und unter welchen Bedingungen die Präpositionen
im Ags, ihrem Beziehungswort nachgestellt werden". Zu diesem Zweck
behandelt der Verfasser getrennt erst die Verhältnisse in der angelsächsi-
schen Prosa, dann die in der Poesie, darauf in einem dritten Hauptteil die
Verhältnisse im Heliand. Letzterer Teil ist besonders dankenswert, da der
Ursprung der behandelten Erscheinung jedenfalls in eine ältere Sprach-
periode zurückreicht und das Altsächsische diesen älteren Sprachzustand in
mancher Hinsicht treuer bewahrt hat als das Altenghsche. Wende hat seine
Untersuchung mit großer Sorgfalt durchgeführt. Er kommt zu dem
Ergebnis, daß die Präposition im Angelsächsischen bei den Pronominal-
adverbien her, pmr, hwcer u. a. gesetzmäßig und notwendig, beim Personai-
pronomen in weitem Umfang nachgestellt wird, während sie beim
Nomen, Demonstrativ-, Interrogativ- und Relativpronomen fast regelmäßig
voransteht. Den Grund für die Voran- oder Nachstellung der Prä-
position erblickt der Verfasser in der Verschiedenheit der Tonverhältnisse.
d) Satzverknüpfung
Die älteren Sprachstufen sind noch arm an besondern Wort-
bildungen zum Ausdruck des Abhängigkeitsverhältnisses aufeinander
folgender Sätze. Die Gedanken reihen sich lose aneinander; die Sätze
werden in der Form der reinen asyndetischen Parataxe gänzlich
unvermittelt nebeneinander gestellt. Diese Redeform ist nicht nur auf
den primitiven Sprachstufen und in der Kindersprache die herrschende,
sie spielt auch heute noch in der Umgangssprache und in der Poesie
eine hervorragende Rolle, weil sie unmittelbarer und dadurch lebendiger
die Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringt. Je mehr sich aber
eine Sprache, zumal literarisch, entwickelt, desto mehr macht sich das
Streben geltend, den Innern Zusammenhang der Gedanken auch in der
äußern Form der Sätze, die ihnen als Träger dienen, durch besondere,
satzverknüpfende Wortgebilde (Konjunktionen) wiederzugeben. Zunächst
sind es vorzugsweise Partikeln, die die Selbständigkeit der Sätze noch
unberührt lassen , eine Satzverbindung , die man mit Wundt als k o n -
junktive Parataxe bezeichnen kann. Erst auf einer dritten Ent-
wicklungsstufe werden Haupt- und Nebenvorstellungen durch sprachliche
Unterordnung oder Hypotaxe voneinander geschieden. Die Einzel-
sätze werden nicht mehr unvermittelt oder durch konjunktive Partikeln
in der Form der Beiordnung selbständig aneinandergereiht, sondern sie
werden in Satzgefüge eingegliedert, und ihr gegenseitiges Abhängigkeits-
verhältnis wird durch entsprechende Partikeln gekennzeichnet. Das ist
eine Neuerung, die sowohl für die Entwicklung des Denkens als auch
für die Ausbildung der sprachlichen Logik von höchster Bedeutung ist.
Die altenglische Poesie steht noch vorwiegend auf dem Standpunkt
der asyndetischen Parataxe. Es ist aber von Wichtigkeit, festzustellen,
wie sich die altenghsche Prosa in dieser Beziehung verhält, und wann
8*
115
si h zuerst in größerem Umfang der Übergang zur Hypotaxe vollzieht.
Ein Schüler Morsbachs, Georg Rubens, hat die Parataxe und Hypo-
taxe in dem ältesten Teil der Saclisenchronik (Parker IIs. his Z2im Jahre
801) genauer untersucht (Studien z. engl. Phil. 5G ; Halle 1915). Er
kommt zu dem Ergebnis, daß die asyndetische Anknüpfung in dem
ältesten Teil der öachseachronik nur vereinzelt auftritt. Das am häutig-
sten angewandte Satzverbindungsmittel ist die konjunktive Parataxe,
und zwar in der Form der kopuiativ^en Beiordnung mittels der
anreihenden Konjunktion ond (S. 10 u. 52). „Die Hypotaxe wird bereits
durch manche Übergangserscheinungen vorbereitet, ist aber selbst noch
wenig ausgebildet" (S. 52). Dabei ist allerdings zu beachten, daß ein
Denkmal wie die Sachsen chronik wegen der chronistischen Aneinander-
reihung der Tatsachen von selbst zur parataktischen Satzverknüpfung
herausforderte.
Spuren des Übergangs von der Parataxe zur Hypotaxe lassen sich
in der Sachsenchronik deutlich nachweisen. Rubens zeigt an einer
größeren Zahl gutgewählter Beispiele (S. 33 ff.) recht anschaulich, wie der
einfache Satz sich nach und nach erweitert, wie er andre Sätze in
sich aufnimmt, so daß größere Satzgebilde entstehen. Dabei kommt
zweierlei in Betracht, „Es ist einmal die allmähliche Überführung des
Demonstrativ- in das Relativpronomen, andererseits die Entwicklung hypo-
taktischer Konjunktionen aus solchen, die ursprünglich der parataktischen
Satzverbindung dienten. Beide Vorgänge sind eng verwandt miteinander,
indem die meisten Konjunktionen auf alte Pronomina zurückgehen und
erstarrte Formen derselben sind" (S. 33). Von den beiden Kategorien
tritt der konjunktionale Nebensatz verhältnismäßig früher auf; der
Relativsatz hat sich erst spät entwickelt. Beide Arten der Unterordnung
kommen aber im ältesten Teil der Sachsenchronik nicht häufig vor.
„Eine entwickeltere Prosa mit weitgehender Hypotaxe bildet sich
zuerst an den Übersetzungen aus dem Lateinischen heran; hier wo der
Periodenbau reich entwickelt war, hatten die Angelsachsen Gelegenheit,
ihn kennen zu lernen und in ihrer Sprache nachzubilden. Und von
diesen Übersetzungen her dringt die Hypotaxe dann auch in die Ori-
ginalschöpfungen der Angelsachsen ein. Es ist König Alfred der Große,
der durch seine zahlreichen Übersetzungen lateinischer Schriftsteller der
angelsächsischen Prosa den Weg zu weiterer Ausbildung gewiesen hat"
(Rubens S. 53).
Im Lauf der Jahrhunderte wurden manche der in altenglischer Zeit
entstandenen Konjunktionen als zu umständlich wieder beseitigt und
durch einfachere ersetzt, während anderseits auch ganz neue Ausdrücke
geschaffen wurden. So bildete sich allmählich die mehr logisch begründete
moderne englische Literatursprache heraus. Über den Bestand der Satz-
bindemittel in der Höhezeit der mittelenglischen Literatur im 14. Jahr-
hundert, die für die modernenglischen Verhältnisse grundlegend war,
werden wir durch die sehr fleißige Arbeit von Hermann Eitle, Die
Satsverknüpfung hei Chaiicer (Anglist. Forsch. 44; Heidelberg 1914),
gründlich und zuverlässig unterrichtet. In übersichtlicher Ordnung wird
IIG
uns hier ein reiches Belegmaterial vorgeführt. Der Verfasser hat mit
seiner erschöpfenden Darstellung des Gegenstands nicht nur einen wert-
vollen Beitrag zur Chaucer Syntax geliefert, sondern uns auch Einbhcke
in den Entwicklungsgang des Sprachgebrauchs eröffnet und dadurch
der historischen Syntax der englischen Sprache gedient.
e) Syntax einzelner Literaturwerke
Von syntaktischen Untersuchungen einzelner Literaturwerke sind
die Säidies in the Sijntax of the Lindisfarne Gospels von Morgan
Callaway, Professor des Englischen an der University of Texas,
rühmend hervorzuheben (Hesperia, SupplSeries 5; Baltimore 1918).
Das Buch ist eine Fortsetzung der früheren Arbeiten des Verfassers:
The Absolute Fartici]_)le in Anglo-Saxon (Baltimore 1889), The Ap-
positive Farticiple in Anglo-Saxon (ebd. 1901) und The Infinitive in
Anglo-Saxon (Washington 1913). Im engen Anschluß an sie handelt
es in drei Kapiteln über das absolute Partizip, das appositive Partizip
und den Infinitiv. Callaways Hauptabsicht war, zu untersuchen, ob die
Syntax dieser Verbalformen im nordhumbrischen Dialekt sich wesentlich
von der in seinen früheren Arbeiten festgestellten westsächsischen unter-
scheidet. Er kommt zu dem Schluß, daß das nicht der Fall ist, daß
im wesentlichen die gleichen Regeln gelten. Wo Unterschiede vor-
kommen, sind sie gev/öhnlich durch den engeren Anschluß des nord-
humbrischen Glossators an seine lateinische Vorlage zu erklären. Die
gründliche Beherrschung, sorgfältige Verarbeitung und übersichtliche An-
ordnung eines reichen, selbstgesammelten und gesichteten Belegmaterials,
die schon die früheren Arbeiten des Verfassers auszeichneten, machen
sich auch in der vorliegenden Studie vorteilhaft geltend. Einige inter-
essante Ergebnisse seien hier herausgehoben.
Das absolute Partizip ist eine Nachbildung des lateinischen
Ablativus absolutus; schon der Umstand, daß der Glossator den letz-
teren in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle durch ein Verbum fini-
tum wiedergab, spricht dafür, daß ihm die Konstruktion eines absoluten
Partizips im Englischen ungeläufig war. Auch die Dativform, die für
diese Konstruktion sowohl im Nordhumbrischen wie im Westsächsischen
die herrschende ist, weist auf den Ablativus absolutus hin. Wenn in
den Lindisfarne-Evangelien daneben gelegentlich absolute Partizipien im
Akkusativ und selten auch im Nominativ vorkommen, die das West-
sächsische nicht kennt, so ist das auf spezielle nordhumbrische Einflüsse
zurückzuführen.
Das appositive Partizipium Präsentis hatte in den ger-
manischen Sprachen nach Callaway ursprünglich nicht die Fähig-
keit, ein Akkusativobjekt zu regieren. Wenn diese Kon-
struktion in der nordhumbrischen Interlinearglosse gleichwohl öfters vor-
kommt, viel häufiger als in der westsächsischen Übertragung der
Evangelien, so ist das nach Callaway gleichfalls auf den Einfluß des
lateinischen Originals zurückzuführen (S. 46 u. 5 1) •, z. B. & genimmende calic
doncunco dyde = 'Et accipiens calicem gratias egit' ; oder: geurnon bim
117
tuoege hcrhhende uel hsefdon diohles = 'occurrerunt ei duo hahentes
daemonia\
Über den Ursprung des cnglisclien Gerundiums ist Callaway
mit Einenkel der Meinung, daß die in altenglischen Interlinear Versionen
und Übersetzungen auftretenden Gerundien keine einheimischen Gewächse,
sondern mechanische Nachbildungen lateinischer Gerundien
sind, während Curme meint, daß das englische Gerundium keinerlei
Spuren fremden Einflusses aufweise, sondern schon in altenglischer Zeit
fest eingewurzelt war und sich seitdem aus eigner Kraft entfaltet habe.
Callaway weist (S. 66 f) zur Stütze der von Einenkel und ihm ver-
tretenen Auffassung auf drei Tatsachen hin: 1. bis jetzt sind nur sehr
wenige Gerundien mit wirklich verbaler Kraft (d. h. mit zugehörigem
Akkusativobjekt) in der altenglischen Literatur nachgewiesen; 2. in
jedem der bisher angeführten Fälle kommt die Wendung nur in Über-
setzungen aus dem Lateinischen vor, und fast in allen ist der Einfluß des
Lateinischen ohne weiteres klar; 3. da das appositive Partizipium Prä-
sentis im Altenglischen ursprünglich nicht die Krait hatte, ein Akkusativ-
objekt zu regieren, sondern sie erst alhuählich dem Lateinischen ent-
lehnte, so ist es nur natürlich anzunehmen, daß auch das Nomen auf
-big {-ung), das noch weniger verbale Kraft als das Partizipium Prä-
sentis hatte und heute noch hat, ursprünglich kein Akkusativobjekt
regieren konnte, und daß es diese Fähigkeit im Altenglischen gleichfalls
aus dem Lateinischen entlehnte. Doch ist das Gerundium mit Akkusativ-
objekt im Altenglischen niemals eigentlich naturalisiert gewesen, jeden-
falls nicht in dem Maß wie das appositive Partizipium mit Akkusativobjekt.
X. Rhythmik
Sprachlicher Rhythmus, d. h. regelmäßiger Wechsel zwischen be-
tonten und unbetonten Silben, ist nicht bloß für die Poesie, sondern
auch für die Prosa und sogar für die Umgangssprache von Bedeutung.
Nur unterscheidet sich die Prosa dadurch von der Poesie, daß sie in
ihrem ungebundenen Redefluß die einförmige Wiederkehr der gleichen
Rhythmen durch längere Sprechperioden nicht liebt, sondern größere
Freiheit und Abwechslung verlangt.
Das Problem des Prosarhythmus ist im letzten Jahrzehnt stark in
den Vordergrund des Interesses der englischen Sprachforschung getreten.
Mit dem Wesen des Prosarhythmus im allgemeinen beschäftigt sich
W. M. Patter son in seinem Buch The Rhytlim of Prose. An Ex-
perimental Investigation of Individual Di/ference in the Sense of Jihythm
(New York, Columbia Univ. Press, 1916; 2'' ed. 1917). Er sucht dem
Problem mit experimentellen Methoden zu Leibe zu gehn. Sein Buch
stellt die Ergebnisse einer Reihe von Experimenten an zwölf geschulten
Beobachtern dar, deren verschiedenartige Reaktion auf rhythmische Ein-
drücke festgestellt werden sollte. Nach Auseinandersetzung mit früheren
Forschern handelt Patterson über „The Sense of Swing", „Rhythmic
118
Tunes", „Vers Libre" u. a. und gibt im Anhang einen genauen Bericht
über die angestellten Versuche. Auf den Inhalt des Buchs kann hier
nicht näher eingegangen werden; wir haben es nur mit der Bedeutung
des Rhythmus für die englische Prosa zu tun.
Schon Jespersen in Growtli and Structure of tJie Engl. Lang. 235
(1905) und in dem Abschnitt über „Rhythmic stress'' in seiner Mod.
Engl. Grammari, §5.4(1909), sowie auch Franz an einigen Stellen
seiner Shakespeare-Grammatik (2. Aufl., § 551, 650; 1909) haben auf
die Rolle des Rhythmus in der englischen Prosa hingewiesen. Der
holländische Gelehrte P. Fiju van Draat hat dann in einer höchst
anregenden Studie über PJiytlmi in English Prose (Anglist. Forsch. 29;
Heidelberg 1910) zuerst den herzhaften Versuch gemacht, das schwierige,
molluskenhafte Problem fest anzupacken. Er geht von dem Titel von
Shaws Komödie Yoti nevcr can feil aus. Er bemerkt, daß nach den
Regeln der Grammatik die Wortfolge eigentlich You can never teil sein
sollte mit dem Adverb zwischen Hilfszeitwort und Verb. Erst durch
die Abweichung von der Regel erhält der Satz den ohrgefäUigen rhyth-
mischen Schwung. Fijn van Draat geht dieser Erscheinung nach und
findet, daß eine ganze Reihe von grammatischen Doppelformen ver-
schiedener Art sich durch bewußte oder unbewußte Rücksicht auf den
Rhythmus erklären.
Rhythmus gehört zum innersten Wesen aller Poesie. Gewiß kann
man poetische Gefühle auch in Prosa äußern, und prosaisch geschriebene
Stimmungsbilder können unter Umständen poetischer sein als manche
Dichtungen, die nur der metrischen Form nach zur Poesie gehören.
Aber die Wiedergabe poetischer Gefühle wird immer zum Rhythmus
drängen, selbst wenn sie sich der Sprache der Prosa bedient. Auch
sonst macht sich in der prosaischen Rede, zumal in gehobener Sprache,
vielfach das Streben nach rhythmischen Kadenzen geltend. Der Haupt-
unterschied zwischen poetischem und prosaischem Rhythmus ist, wie
eingangs bereits angedeutet, der, daß der poetische Rhythmus strengen
und festen Regeln folgt, die nur wenige Ausnahmen gestatten, während
der Prosarhythmus unregelmäßiger auftritt und meist mit Perioden un-
rhythmischer Prosa durchmischt ist. Streng durchgeführter Rhythmus
ist für die Pi'osa ebenso unnatürlich wie für die Poesie unerläßlich ;
aber das Streben nach rhythmischen Kadenzen ist in jeder künstlerischen
Prosa bemerkbar, wenn auch der Sinn für Rhythmus bei verschiedenen
Schriftstellern verschieden stark und in verschiedener Art entwickelt ist.
Da der Rhythmus auf einem regelmäßigen Wechsel betonter und
unbetonter Silben beruht, ist der Hauptfeind des Rhythmus der Be-
tonungshiatus, d. h. der Zusammenstoß zweier gleich stark betonter
Silben, und besonders der Hoch ton hiatus, der Zusammenprall zweier
hochtoniger Silben. Zu seiner Vermeidung und zur Erzielung rhyth-
misch gegliederter Satzperioden hat der Redner oder Schriftsteller ver-
schiedene Mittel zur Verfügung: Verwendung von Wortdoppelformen,
"Wechsel der Wortfolge im Satz, Synkope von Vokalen u. a. Im Deut-
schen regelt sich auch die Verwendung des Genitiv- und Dativ-e in der
110
gesprochnen Rede mehr, als gewöhnlich erkannt wird, nach rhythmischen
Rücksicliten. Fijn van Draat bespricht eine Anzahl hierher gehöriger
Erscheinungen, so die Setzung oder Auslassung des to beim Infinitiv
nach Verben wie hid, dnre, make, die Form und Stellung des Adverbs,
die Synkope von Vokalen. Er erklärt den Unterschied zwischen „He
has not dared to do it" und „He dare not do it" oder „How dare von
da it" völlig überzeugend aus rhythmischen Gesichtspunkten (was übrigens
auch schon Franz Shakesp.-Gr. "- § 650 angedeutet hatte), ebenso die
Verwendung des ungewöhnlichen aroiind statt round in dem Satz „lle
threw hh arms around my neck". Er zeigt, daß bei der Einbürgerung
des sog. Split- Infinitive in Wendungen wie to truJy perform, to strmigly
sustain, to always have, to fidJy convince, to exadly resemhle der Rhyth-
mus eine wichtige Rolle gespielt hat.
In vier weiteren Aufsätzen: EhytJim in English Prose (Angl. 30, l
u. 492; 1912), The Cursiis in Old Engl Poetry {An^l 38, 377; 19l4j,
Voluptas Aurium (Engl. Stud. 48, 394; 1915) und The Place of the
Adverb. A Study in Rhythm (Neophil. 6, 56; 1920) hat Fijn van
Draat diese rhythmischen Studien fortgesetzt, und wenn seine Aus-
führungen auch nicht durchweg überzeugend sind, so hat er doch zum
erstenmal eindringlicher als jemand vor ihm ein wichtiges Kapitel an-
geschnitten.
Sein Vorgang fand Nachfolger. Fr. Stroheker betrat in einer
Heidelberger Dissertation Doppelformen und Rhythmus hei Marlowe und
Kyd (li^l3) neuen, fruchtbaren Boden, indem er, einer Anregung von
Franz folgend, die zahlreichen Doppelformen des englischen Wortschatzes
zum erstenmal unter dem Gesichtspunkt des Rhythmus betrachtete, wobei
er zu bemerkenswerten Ergebnissen kam. Er weist die sprachgeschiciit-
liche Bedeutung des rhythmischen Prinzips der Vermeidung des Hoch-
tonhiatus an zahlreichen Einzelfällen überzeugend nach.
O. Ziesenis ergänzte Strohekers Arbeit duich eine gleichlaufende
Untersuchung über Den Einfluß des Rhythmus auf Silhcnmessung, Wort-
bildung, Formenlehre und Syntax bei Lyly, Greene und Pcele (Kieler
Diss. 1915), wobei sich neue rhythmische Doppelformen ergaben und
die Zahl der syntaktischen Erscheinungen, in denen der Rhythmus eine
Rolle spielen kann, weiter vermehrt wurde.
In einer umiangreichen und wertvollen Arbeit untersuchte s.odann
Josef Bihl, ein Schüler von Franz, Die WirJiungen des Rhy/hmus in
der Sprache von Chaucer und Gower (Angl. Forsch. 50; Heidelberg
1916) Er will in möglichst erschöpfender Weise zeigen, wie der Rhyth-
mus sich in der Silbenmessung, Betonung, Wortbildung, Formenlehre
und im Satzbau der beiden Dichter geltend macht. Er sucht „mög-
lichst alle rhythmisch beeinflußten Erscheinungen aus dem Gesamtgebiet
der Grammatik herauszuheben und teils zu ihrer Erklärung beizutragen,
teils bereits Erklärtes vollständiger zu belegen" (S. V). Auf diese Weise
hofit er ein einigermaßen volktändiges Bild von der Eigenart und dem
Umfang der rhythmischen Einwirkungen überhaupt zu entwerfen. Mit
großem Feingel ühl iür rhythmische Einflüsse und peinUcher Sorgfalt hat
120
er seine Untersuchung durchgeführt, und er belegt seine Aufstellungen
durch eine fast erdrückende Fülle von Beispielen. Er legt dar, daß für
die Anwendung oder Weglassung des Artikels oder Fürworts, für den
Wechsel präpositionelier Doppelformen (ow — upon, til — until u.a.), für die
Behandlung des End-e beim Adjektiv {of göde tvömmen, aber of good
condwmins) u. a. oftmals rhythmische Rücksichten maßgebend sind. So
hat er viel zur Kenntnis der Sprache der beiden Dichter und ihrer
Unterschiede voneinander beigetragen. Aber er, wie auch seine Vor-
gänger, unterscheidet oft nicht scharf genug zwischen Versrhythmus und
Prosarhythmus, zwischen metrischem Zwang und rhythmischem Gefühl.
Es ist klar, daß die Rücksicht auf die metrische Gebundenheit der
poetischen Sprache einen Dichter in seiner Silbenmessung, Betonung,
Wortwahl, Formenbildung und Wortstellung weitgehend beeinflussen
wird, aber es ist keineswegs ausgemacht, daß derselbe Dichter in seiner
Prosa ebensolche Rücksichten nehmen wird, und es wäre deshalb ver-
dienstlich gewesen, wenn Bihl mehr, als er es tut, den Vergleich der
prosaischen und poetischen Werke Chaucers herausgearbeitet hätte.
Ergänzende Untersuchungen über die poetische und prosaische
Sprache andrer formgewandter Dichter, wie Dryden, Pope, Swinburne
u. a., wären vielleicht ergebnisvoli.
Die Hauptwirkung des Rhythmus auf die Sprache ist jedenfalls
eine konservative: während die Umgangssprache im allgemeinen mehr
nivellierend wirkt, Doppelformen und Ausnahmen zu beseitigen strebt,
hat die rhythmische Sprache ein entschiedenes Interesse an der Er-
haltung von Doppelformen der Betonung, der Flexion und des
Wortschatzes, an möglichster Freiheit in der Gestaltung der Wort-
folge, überhaupt an einer denkbar ungebundenen und mannigfaltigen
Ausdrucksmöglichkeit. Während die mittelenglische Umgangssprache
das Bestreben hat, romanische Fremdwörter den germanischen Betonungs-
gesetzen anzupassen, hat der Dichter ein Interesse daran, Wörter wie
pite, resoun, jKirfit, conseil, lionour beliebig auf der ersten oder zweiten
Silbe betonen zu können. Das Bedürfnis des Rhythmus begünstigt die
Erhaltung von Doppelformen wie mend — amend, round — around,
State — estate, squire — esquire, special — e&pecial, von Bedeutungs-
doubletten wie toivn — city, ivish — desire, mean — intend, teil — record,
storm — tempest, face — visage, fame — renoivn usw.
In manchen Fällen hat freilich die häufige Wiederkehr bestimmter
rhythmischer Gruppen zum Sieg der eine» oder andern von zwei Doppel-
formen oder Doppelkonstruktionen geführt. Franz hat in einem kleinen
Aufsatz Zum ProsarJtythmus im Englischen (Zeitscbr. f. frz. u. engl.
Unterr. 10, 210; 1911) recht ansprechend darauf hingewiesen, daß die
Erhaltung des Präfixes ge-, me. i- in enoiigh aus ae. genög in regel-
mäßig wiederkehrenden rhythmischen Verbindungen wie long enoiigh,
strong enough, soon enough usw. ihre Ursaclie hat. Der Rhythmus hat
hier also konservierend gewirkt, während die Vorsilbe ge- sonst im
Enghschen wie im Nordischen bekanntlich allgemein geschwunden ist.
121
Eine Abhandlung von Otto Joe r den über Das Verhältnis von
Wort-, Satz- und Versahzent in Cliaucers ' Canterhury Tales* (Morsbachs
Studien z. engl. Pliil. 55 ; 1915), die hier anhangsweise erwähnt sein
mag, behandelt nur das metrische Problem, wie Chaucer sich mit
den Schwierigkeiten abgefunden hat, die sich aus der Umsetzung der
silbenzählenden Metren des Französischen in taktierende englische Metren
ergaben. Joerden beschränkt sich in seiner Untersuchung auf das 5 taktige
heroische Reimpaar, in dem sich Chaucers Meisterschaft ganz besonders
offenbart. In übersichtlicher Weise untersucht er zuerst die Fälle, wo
Wort- und Satzakzent mit dem Versakzent zusammenfallen, sodann die,
wo sie nicht zusammenfallen, sondern Taktverschleierung durch den
Satz- oder Wortakzent vorliegt. Für das Problem des sprachlichen
Rhythmus kommt die Arbeit weniger in Betracht.
XI. Stilistik
Die Grenzen zwischen Syntax und Stilistik sind flüssig, und so
wird z. B. ein grofJer Teil dessen, was Clemens Klöpper im 2. Teil
seiner Englischen Synonymik und Stilistik (Breslau 1907; s. oben S. 43)
behandelt, von Krüger und andern in ihren syntaktischen Werken be-
sprochen.
Aber ins eigentliche Gebiet der Stilistik gehört eine ebenso umfang-
wie inhaltreiche schwedische Dissertation von T. Hilding Sv arten gren
über Intensifying Siniiles in English (Lund 1918; XXVI u. 512 S.).
Eugen Borst hatte in seiner Abhandlung über Die Gradadverhien im
Englischen (Angl. Forsch. 10, S. 15) bereits auf die volkstümliche Form
der Emphatisierung durch Verwendung von drastischen Vergleichen, wie
as cold US stone, light as a feather, hungry as a wolf, as poor as a
church mouse, hingewiesen. Svartengren trägt in seinem Buch eine
ungeheure Zahl solcher Vergleiche zusammen, und man staunt über die
unbegrenzte sprachschöpferische Phantasie des Volks, die uns aus dieser
Sammlung entgegentritt. Der Verfasser weist in seiner Einleitung darauf
hin, daß nicht jeder Vergleich hierher gehöre, daß er es in seiner Samm-
lung nur mit übertreibenden bildUchen Vergleichen zu tun habe. Wenn
ein Knabe sich rühmt, er könne seinen Ball so hoch wie der Kirchturm
werfen, so mag er übertreiben, aber er will doch einen wirklichen Ver-
gleich anstellen; wenn er aber sagt, er habe einen Menschen gesehen,
so groß wie ein Kirchturm, so ist da von keinem ernst geraeinten Ver-
gleich mehr die Rede, sondern es handelt sich nur um eine hyper-
bolische Metapher.
Svartengren ordnet seine Vergleiche nach der Bedeutung des ersteh
Elements, also in den oben angeführten Beispielen nach den Begriffen
'kalt', 'leicht', 'hungrig', 'arm'. Dies ist sicher die richtige Anordnung;
denn die betreffenden Begriffe bilden ja den Ausgangspunkt für die
Vergleiche, und es ist interessant zu sehen, zu welcher Art von Ver-
gleichen sie in vielen Fällen den Anstoß geben. Er stellt dann diese
122
Vergleichsunterlagen, die natürlich durchweg Eigenschaftswörter sind,
in verschiedenen Kapiteln zu sachlichen Gruppen zusammen: Similes
referring to Mind and Character; Similes chiefly referring to the Human
Body, Similes otherwise referring to Form, to Colour, Size, the Surface
and Substance of Things; Otlier definite Similes; Indefinite or General
Similes. Und innerhalb der Kapitel führt er die systematische Anord-
nung weiter durch, indem er verwandte Begriffe zusammengruppiert,
wie Innocence and Good Character; Bad or Mean Character; Honest,
Faithful, Trustworthy; Open, Straightforward ; Chaste usw. Ich weiß
nicht, ob es im Interesse der praktischen Benutzbarkeit des Buchs nicht
richtiger gewesen wäre, diese Sektionen einfach alphabetisch zu ordnen,
was übrigens Svartengren selbst zugibt. Doch macht ein ausführliches
Register die bequeme Erschließung des Inhalts möglich. Manche der
Vergleichsgruppen geben dem Verfasser Anlaß zu kulturgeschichtlichen
Exkursen, z. B. drunJc (S. 191), wo er sich über die Geschichte der
Trunkenheit in England ausläßt.
Im Schlußkapitel führt er uns dann die Anschauungsgebiete vor,
aus denen die Vergleiche entnommen sind. Wir hören Näheres über
literarische Quellen, über Häufigkeit und Form der Vergleiche, Allite-
ration, Reim und Rhythmus. — Es ist ein Buch, aus dem man viel
Anregung entnehmen wird, das aber zugleich den Wunsch nach einer
genetischen, sprach- und kulturgeschichtlichen Behandlung dieser inter-
essanten hyperbolischen Vergleiche weckt.
323
Register
Zusammengestellt von Else Hoops
Älbrecht, Th. 65
Allen, F. St 43 f.
Annakin 84
Bannister 49
Baumann, Fr. Herb. 101
Behagel 97
BiM, Jos. 120 f.
Björtman 44 f. 47
B0gholm 114
Borst, Eng. 122
Bosworth-ToUer 39
Bradley, H. 1. 39
Brahde 114
Brandl 7 ff. 33
Braune, W. 15 ff.
Bremer 70
BrigM 59
ten Brink 60
Brinkmann 96 f.
Brotanek 68
Brugmanu 42
Bugge, S. 25. 52
Bülbring 59. 69. 71 f.
Callaway, M. 117 f.
Chadwick 5
Clark, James M. 37
Classen 4
Cook, A. S. 59
Crabb 42
Craigie 'öd. 84
Cnrme 87. 104. 106
Delbrück 108
Deutscbbein 96. 109
14. 26 ff. 50. 61. 68. 74.
Diehn 92
Dolle 11. 29 f. 34
V. Draat s. Fijn van Draat
Dunstan 84
Eckhardt 60. 74 ff.
Ehrentreich 84
Einenkel 96. 105 ff.
Eitle 116
Eitrem 104
Ekwall Uff
79. 89. 95
Ellinger 104
EUis, Alex. J. 68
Emerson, 0. F. 1. 32Anm.
Erdmann 97
Febr, B. 106
Fijn van Draat 119 f.
Forßner 45
Franz, W. 61. 95f. 112. 119 ff.
V. Friesen, 0. 52 f.
Funke 21 ff.
V. d. Gaaf 54 ff.
Gabrielson 69
Gevenich, 0. 78 f.
V. Glahn 85 ff.
Grau 15
Grein 40
Grieb-Söhröer 39. 84
Grimm, J. 96 f.
Grüter 15
Günther, J. H. A. 42f. 65
Gutmacber 15
125
Hall, John R. Clark 39
Harrison 104
Harz, Hildegard 94 f.
Heuser 29 ff. 60
Hilmer, Herrn. 98 ff.
Holthausen 40
Hoops 5. 19 ff.
Hörn, W. 60. 83
Hüttenbrenner 24
73. 751 83 f. 94. 96.
Jackson C. E. 49
Jellinek 23
Jespersen 2. 60 f.
1071 119
Joerdeu, 0. 122
Jones, Daniel 85.
Jordan, R. 5
Kahle 24 fl
Kaluza 571 591 84
Karre 101 fl
Kaiser, Alb. 24
Kennedy, A. G. 92 f. 105
Kern, K. 69
Klein, W. 65
Klemm, G. 85
Klinghardt 85
Klöpper 43. 122
Kluge 1. 40. 83
Knapp, 0. 87
Knecht, Jak. 112
Knott 59
Koch, C. Friedr. 57
Koch, John 61
Kögel 15
Krapp 2
Krüger, Gustav 421 61 ff.
Kraisinga 65
Kügler, Herrn. 73
Langenfeit, G. 47 fl 50
Ley, Herrn. 78
Leydecker 15
Lindelöf 2
Lloyd 351
Luick 2. h. 7. 21. 23. 31. 33. 51. 58. 60.
69 fl 761
Lutz (Kluge- Lutz) 40
MacGillivray 241
Marcus, Hans 541
Mätzner 39. 96
Mawer, Allen 49 f.
Mencken 37
Meyer, Ernst A. 76
Michaelis 85
Micbiels 15
Moore, S. 59
Morsbach 11. 28 f. 32 f. 34. 59. 85
Müller, Christian 69
Müller, Engelbert 69
Murray 38 f.
Onious 39. 106
Panconcelli-Calzia 83 f.
Patterson 118
Petersson, Herbert 42
Phoenix, W. 101
Pogatscher 81 20
Pouud, Louise 100
Poutsma 64
V. Raumer 241
Redin, Mats 45 f.
Ritter, 0. 8
Roberts, R. G. 49
Roedler 88 ff.
Rubens, G. 116
Salin 52
SchlemUch, W. 11. 531 66 fl
Schmidt, Lnmanuel 61
Schöffier 50f.
Schopf eof.
Schröder, Edward 51
Schröder, H. 821
Schi-öer, Arnold 36. 391 84
Schücking, Levin L. 40 f.
Schulze, Bruno 65
Schwabe 41 f. 51
Schweutuer 51. 811
Sedgefield 49
Sievers 2i. 24. 59. 69. 71. 73
Sixtus 65
Skeat 40. 49
Smith, C. A. 59
12G
Sokoll 59. 70
Spira 69
von Staden 112
Steadman 9Gff.
Steinmeyer 15
Stengel G8
Stichel 69
Stidston 93 f.
Stuelke 113 f.
Stratmann 39
Strauß, 0. 31
Stroheker 120
Sunden 110 f.
Svartengren 122 f.
Sweet 35. 39. 59 f.
66. 70. 84 961
Thomas, P. G. 4
Toller, Northcote 39 f.
True 84
Uhrström 103 f.
Vietor 61. 83
Walker 49 .
Weekley 44
Wende, Fr. 115
Wendt, G. 109 f.
Western 109
Wild, Friedr. 34 f.
Wimmer 52
Wittman, EHsabeth 100 f.
Wood, Francis A. 51. 73. 100
Wright, Elisabeth Mary 59
Wright, .Joseph 59
Wyatt 59
Wyld 2 f. 9 f. 31. 33. 36. 58. 60. 70
Zachrisson 3. 351 44. 681 731 98
Ziesenis 120
Druck von Friedlich Audieas Perthes A.-G. Gotha
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